Mythen, Macht + Menschen durchschaut!. Christoph Zollinger
Читать онлайн книгу.die Situation. Sie hat dazu in den letzten Jahren ein halbes Dutzend akademischer Untersuchungen erstellen lassen. Fazit: Die Befunde sind nicht einheitlich (wen wundert’s?). Was wir vergebens suchen, sind Untersuchungen über die Folgen dieses bejubelten Wirtschaftswachstums – die starke Einwanderung hinterlässt offensichtlich in vielen anderen Bereichen ihre Spuren. Nicht zur Diskussion steht, dass die Schweiz auf Zuwanderer mit hoher Qualifikation angewiesen ist. Doch die Folgen sollte das Bundesamt – angesichts des verbreiteten Unbehagens in der Bevölkerung über die starke Einwanderung – nicht verschweigen.
Zu offensichtlich ist in den letzten Jahren dieser versteckte Zusammenhang geworden: Wir erstellen jährlich ziemlich genau für so viele Menschen Neubauwohnungen, wie die Zuwanderung sie ausweist. Die sichtbaren Folgen: Bauwut, Verschandelung der Natur, Wohnungsnot, explodierende Immobilienpreise und -mieten, Verkehrsstau, überfüllte Pendlerzüge, die Liste lässt sich verlängern. Wer definiert in Bern nächstens das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern der Zuwanderung?
Simonetta Sommaruga ist wahrlich nicht zu beneiden. Seit Monaten fordert die Justizministerin ein beschleunigtes Asylverfahren. Heute dauert dieses von der Einreichung eines (unberechtigten) Asylgesuches bis zu dessen Ablehnung fast vier Jahre. Man muss sich das konkret vorstellen: Ein erster negativer Entscheid kann mit einer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (gemäß TA blieb ein konkret untersuchter Fall dort während 21 Monaten liegen) weitergezogen werden. Wird sie dort abgelehnt, kann ein Wiedererwägungsgesuch eingereicht werden. Die Zahl dieser Gesuche steigt kontinuierlich. Rund ein Viertel davon führt anschließend zu einer vorläufigen Aufnahme, der Rest zur Ablehnung oder Wegweisung. Bis die nötigen Ausweispapiere besorgt sind, tauchen die Abgewiesenen häufig unter. Oder die Behörden kommen zum Schluss, dass nach so langer Zeit eine Ausschaffung nicht mehr zumutbar wäre.
Die Diskussion um zu lange Asylverfahren hören wir seit vielen Jahren; man sollte diese ändern, heißt es in Bern. Der ehemalige Chef des Bundesamts für Flüchtlinge, Jean-Daniel Gerber, hält die aktuellen Schwierigkeiten in der Asylpolitik für unlösbar. Sind sie eigentlich gar systembedingt? Wer entscheidet darüber?
Der moderne Bundesstaat mit seiner föderalistischen Staatsstruktur ist eine gute Sache. Auf der offiziellen Homepage des Bundes erklärt die Bundeskanzlerin unser System ausführlich und sie erklärt auch eines der wichtigsten Ziele der laufenden Legislaturperiode: Die Schweiz muss ihre Wettbewerbsfähigkeit beibehalten, z.B. in der Wirtschaft, Bildung, Forschung.
Damit das auch in Zukunft so bleibt, sind ab und zu Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wir sind ein Volk mit vielen Rechten und Pflichten, viel mehr als in anderen Staaten. Wir können unser System, zumindest indirekt, selbst bestimmen.
24. August 2013
Nr. 94
Wachstum: Doping mit schädlichen Langzeitfolgen?
Immer weniger funktioniert das Medikament »Wirtschaftswachstum« als eine Art Perpetuum mobile für ewig wachsenden Wohlstandsgewinn. Was wird passieren, wenn Wachstum irgendwann ausbleibt? Einfach so?
»Wachstum muss her!«, rufen die Staats- und Regierungschefs der EU seit Jahren verzweifelt. Das Dogma »Wachstum des Bruttoinlandprodukts« entwickelt sich mittlerweile bei den Regierungen dieser Welt zu einem absurden Wettrennen – vergleichbar jenem der von ihrer eigenen Geschwindigkeit berauschten Jugendlichen am Steuer. »Wenn wir wachsen wollen, brauchen wir mehr Leute, welche dieses Wachstum mittragen«, doziert der Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes. Der globalisierte Rohstoffhandel mit Steuersitz in der Schweiz treibt die Konjunkturdaten des Landes in die Höhe. »Illusion von Wachstumswunder« titelt die Handelszeitung.
Der Westen forciert seit Jahren Wachstum mit dem Auftürmen von Schuldenbergen. Damit überpinseln die Verantwortungsträger die wirtschaftspolitischen Dummheiten eines Zeitalters, in dem Wachstumskapitalismus als Ersatzreligion seine Anhänger glauben lässt, wie einst die Päpste im Mittelalter ihre Schäflein. Menschen wachsen; physisch in ihrer Jugend, da und dort wachsen sie später verstandes- und gefühlsmäßig noch eine Weile weiter. Die Grenzen des Wachstums sind wohlbekannt und akzeptiert. Nur in der Wirtschaft soll – gemäß Wirtschaftsgrößen und politischen Machtzentren – das Wachstum ewig weitergehen. Verblendung ist eine passende Bezeichnung für diesen Zustand. Wann hören wir endlich auf, zu glauben?
Die Wachstumsdiskussion ist schwierig. An dieser Stelle ist nicht die Rede von asiatischen, südamerikanischen und afrikanischen Ländern, die teilweise kontinentale Dimensionen einnehmen. Wie sich diese Regionen entwickeln, entzieht sich nicht nur unserer Einflussnahme (dereinst werden sie allerdings vor den gleichen Fragen stehen wie wir heute); China, Indien, Brasilien etwa weisen eine Eigendynamik auf, die sich heute gänzlich von der unsrigen unterscheidet.
Fokussieren wir uns hier auf die »alten« westlichen Industrienationen. Frau Merkel sagt: »Europa braucht mehr Wirtschaftswachstum.« »Die Wachstumsraten unserer Volkswirtschaft müssen wieder steigen«, doppelt der Kanzlerkandidat Steinbrück nach. Finanzkrise, Eurokrise, Schuldenkrise – der Refrain lautet: mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Wachstum! Doch damit die Wirtschaft wächst, muss irgendjemand all die neuen Waren kaufen. Irgendjemand – und wenn dieser Phantommensch in vielen westlichen Wohlstandsländern schon alles hat? Auch der persönliche Vorzeigestatus als Intelligenzersatz ist irgendwann einmal gesättigt. »Wir brauchen die Einwanderung in der Schweiz, sie trägt zum Wachstum der Wirtschaft bei« und »die Vorteile der Öffnung des Arbeitsmarktes müssen der Bevölkerung besser erklärt werden«, rät der ehemalige Direktor des Arbeitgeberverbandes. »Es ist zu hoffen, dass sich Europa endlich aus seinem Wachstumsstau lösen wird«, rät der Asienkenner der NZZ.
Und die Nachteile? Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Sind wir gar auf einem Auge blind? Ein Schweizer Autor riet seinen Landsleuten zum 1. August 2012, »die zwingende Überzeugung, dass ohne den Kraftakt zur Wachstumssteigerung der vermeintlich sichere Besitzstand bedroht ist«, müsse gestärkt werden. Guter Rat in dieser verzwickten Situation ist offensichtlich teuer und entpuppt sich ab und zu gar als Beipackzettel eines verwechselten Medikamentes.
Wirtschaftswachstum als Verheißung des Paradieses ist nur die eine Seite der Medaille. Sie glänzt in der Sonne, sie widerspiegelt die vermeintliche Lösung eines der wichtigsten Probleme unserer Wohlstandsdemokratien. Es scheint, als ob sich Europas und Amerikas Mächtige alle einig wären: »Nur Wachstumsprogramme können die explodierende Arbeitslosigkeit eindämmen und verhindern, dass nicht ganze Länder kollektiv in der Rezession versinken.« Dazu werden die Märkte geflutet mit Geld, das laufend gedruckt wird. Heute ist heute, Inflation ist morgen …
Die Rückseite der Medaille liegt im Dunkeln. Der heutige Kapitalismus beschert uns Umweltschäden und Schulden, neben Anspruchsmentalität und Wohlstand.
Auch wenn in Bonn, Brüssel oder Washington D.C. in den Tagesagenden der hohen Verantwortungsträger das Traktandum fehlt, es ist drängend: Wie könnte eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren? Könnte sie überhaupt? Diese und ähnliche Fragen sollten wir uns heute stellen. Stellvertretend für Kollegen aus aller Welt erinnert der kanadische Ökonom William Rees an diese Binsenwahrheit: Unser Globus ist rund und endlich. Die Wirtschaft ist ein Teil dieser begrenzten Welt. Die seit Jahren steil nach oben weisende, nicht enden wollende Wachstumskurve ist nicht nachhaltig und sie beruht auf einer falschen Annahme. In einer endlichen Welt könne kein Subsystem unendlich wachsen, meint er, der seit Jahren forscht. Postwachstumswirtschaft – steady state economy – heißt diese Disziplin. Postwachstumsökonomen gibt es mittlerweile auch in Deutschland und Frankreich; in der Schweiz war Hans Christoph Binswanger (Uni St. Gallen) bis zu seiner Emeritierung ein Pionier der ersten Stunde, vorrangig damit beschäftigt, einen möglichen Umbau des Finanzmarktes zu bewirken.
Tomas Sedlacek, tschechischer Ökonomieprofessor, einem breiteren Publikum seit 2012 bekannt durch sein Buch »Die Ökonomie von Gut und Böse«, schrieb darin: »Wir müssen das generelle Ziel der Wirtschaftspolitik ändern – statt MaxGDP muss es MinDebt heißen, statt Maximierung des BIP Minimierung der Schulden.« Das unumstrittene Mantra unserer Generation war »MaxGrowth (Maximierung des Wachstums um jeden Preis, Schulden, Überhitzung, Arbeitsüberlastung)«. Das heißt wohl, dass wir uns alle vernünftigere Ziele setzen sollten. Am Fuße