Das eigene Leben. Niklaus Meienberg

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Das eigene Leben - Niklaus Meienberg


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ich regelmässig im Angesicht der still verehrten Cécile E., welcher meine Liebe nicht bekannt war, gedemütigt. Gab ich das Latein auf, so wurde mir der Anblick des sanften Mädchens entzogen. Es war ja damals noch nicht so, dass man sich in der Freizeit treffen, umarmen und lieben durfte, das war in jener Zeit auch den freisinnigen ausgewachsenen St.Gallern kaum gestattet, viel weniger noch den konservativen Halbwüchsigen. Blieb nur die Möglichkeit des stillen Verschmachtens während des Unterrichts, und nach dem Latein konnte man ihr durch den St.Galler Herbstnebel nachschleichen, sah die geliebten Konturen von weitem und ihren Atem in der harten Luft gefrieren. Bald stellte sich heraus, dass sie am Rosenberg wohnte, droben bei den Dichtern, welche die Reichen konfisziert hatten: Lessingstrasse, Hölderlinstrasse, Goethestrasse. Und es kam auch an den Tag, dass ihr Vater Direktor war in derselben Bank, wo mein Vater Prokurist war. Der Abstand zwischen ihrem Vater und meinem war so gross wie die Kluft zwischen meinen Lateinkenntnissen und den ihrigen. Ach, die ferne unerreichbare Cécile dort am Rosenberg, wo Geld, Latein, deutsche Dichter und höhere Töchter den Abhang besetzt halten! Eine ungeheure Gier und Hemmungslosigkeit wären nötig gewesen, um diese Schranke zu überspringen, ein grosser ungezügelter Appetit.

      Dass dieser schöne Appetit nicht aufloderte, dafür war der Rektor der Kath. Sekundarschule besorgt, aus ganzer Seele, ganzem Herzen und all seinen Kräften, welche beträchtlich waren. Er hatte immer irgendeine Kampagne gegen die Erotik laufen, ob es nun die Anti-Familienbad-Kampagne war, die Kampagne für eine angemessene Länge der kurzen Hosen, die Kampagne gegen schüchterne Ansätze von Paarbildung auf dem Schulweg, die Kampagne gegen die tödlichen Gefahren des Onanierens. Bei der Anti-Familienbad-Kampagne gelang es ihm, ganz katholisch St. Gallen einzuspannen, vom aufstrebenden christlich-sozialen Politiker namens Fu. bis zu Jungwachtführern und Müttervereinspräsidentinnen. Um die Vermischung der Geschlechter zu verhindern und jeden fehlbaren Zögling sofort im Griff zu haben, hatte dieser Rektor besonders abgehärtete und gegenüber den Verlockungen des Fleisches widerstandsfähige Burschen (oder Porschten, wie man in St. Gallen sagt) in den verschiedenen sanktgallischen Familienbädern postiert, wo sie die Namen der Fehlbaren notieren mussten, welche sodann hinter den gepolsterten Türen des Rektorats einer postbalnearen Massage unterzogen wurden. Es waren dick gepolsterte Türen, aber sie waren nicht undurchlässig genug für die herausdringenden Schreie, wobei es sich in den wenigsten Fällen um Lust-Schreie handelte. Unvergesslicher Rektor, unvergessene Schreie! Ausschweifender, lasziver Rokokobau, im ersten Stock die Stiftsbibliothek mit den alten Manuskripten und der ägyptischen Mumie, der heilige Gallus hat das Christentum aus Irland eingeschleppt, und gleich anschliessend im zweiten Stock das Kabinett des Rektors. Dieser, im Gegensatz zum spitzig-bleichen Präfekten, war ein kolossal wuchtiges Mannsbild mit blauen Porzellanaugen, ein schwitzender Koloss voll unerlöster Männlichkeit, wusste genau, in welchem Glied der Teufel hockte, hat die Höllenpein geschildert, die auf alle Pörschtli wartet, die fahrlässig mit dem Glied spielten. Der heilige Gallus hatte das Christentum seinerzeit gebracht, ohne lange zu fackeln, hatte es den Alemannen aufgehalst, die mit ihren heidnischen Faunen eigentlich gut gefahren waren. Als Medizin gegen die teuflischen Verlockungen empfahl der Rektor kalte Duschen, Abhärtung durch Langlauf und Weitsprung, in besonders hartnäckigen Fällen den Verzehr von Gemüse und, falls unsere Schwänze trotzdem nicht stillhalten wollten und der Saft nach einer gelungenen Abreibung hervorspritzte, einen sofortigen Gang zum Beichtvater, damit er uns die Todsünde nachliesse. Wer nämlich sofort anschliessend an die Todsünde starb ohne beichtväterliche Nachlassung, der fuhr stracks zur Hölle, so stand es in den Beichtspiegeln. Den Genuss von Gemüse hat er übrigens nicht mehr empfohlen, nachdem einst zur schwülen Sommerszeit, als die Mädchenbrüste besonders lustig an der Kath. Sekundarschule vorbeiwippten und es überall nach Fruchtbarkeit roch, ein Zögling mit brünstiger Stimme in den Pausenhof hinunterschrie: Gemüüüse, Gemüüüse!

      So war das im Schatten der Klostertürme, im Herzen St. Gallens, dort beim Steinachwasserfall, wo Gallus gestolpert und dann auf die Idee gekommen war, die Gegend mit Christentum zu überziehen. So war das in dieser Schule. It seems so long ago, wie Leonard Cohen sagen würde. So weit entfernt und abseits scheint diese Zeit zu liegen, obwohl es erst 18 Jahre her sind, dass man sie nur noch als Archäologe und Paläontologe der eigenen Vergangenheit erfassen kann, so eingeschrumpft und verdorrt wie die Mumie der ägyptischen Königstochter in der Stiftsbibliothek. Und doch steht die Kathedrale noch im alten Glanz, wurde sogar restauriert, wo wir immer zur Schulmesse gingen, wo die vielen geilen Barockengel herumflattern und Maria Magdalena in ihrer Brunst die Hände verwirft und der sinnliche Stuck uns Zöglingen den Kopf verdrehte. Und dann die Kuppel mit der hemmungslosen Durcheinandermischung verzückter Frauen und Männer, besonders schöne Leistung des Barockmalers Joseph Wannenmacher aus Tomerdingen bei Ulm, eine richtige Seelenbadewanne, wenn man sich die Kuppel umgekehrt vorstellte, das schamlose Familienbad mitten im Sakralraum. Manchmal haben wir uns die Kathedrale während langen Hochämtern oder Maiandachten auch als spanische Reithalle vorgestellt, ein vorzüglicher Rahmen für die internationalen St.Galler Pferdesporttage. Erst wenn man die enthemmte Sinnlichkeit dieser Kathedrale kennt, wird man die Leistung des Rektors vollumfänglich würdigen: uns mitten in dieser lüsternen Architektur zur Enthaltsamkeit vergattern, das wäre nicht jedem gelungen. Aber wenn man's richtig bedenkt, lag es eventuell doch in der Natur der Sache. Der Barock stachelte unsere Sinnlichkeit an, und weil die Sinnlichkeit nirgendwo anders herauskonnte, mussten wir sie voyeurhaft am Barock befriedigen. Der Präfekt hätte gesagt: Diese Kunst ist terminus a quo und terminus ad quem. Der Barock biss sich in den Schwanz, wie man vielleicht sagen könnte. Die Brunst konnte aber nicht nur zu den Augen hinaus, sondern auch über die Stimmbänder entweichen, indem die Zöglinge dem Domchor beitraten. Der Domchor war weitherum berühmt für die Qualität seiner Aufführungen.

      Die nächste Anstalt in St. Gallen, in die ich gesteckt wurde, war die Kaserne auf der Kreuzbleiche. Es war noch nicht die Zeit der Dienstverweigerer und auch nicht die Zeit der Aufrührer, die gerne in der Rekrutenschule ausharren, weil man dort schiessen lernt. Die Kaserne war überhaupt nicht mehr barock, sondern im klassizistischen Stil gehalten, wie das Schlachthaus und die Kantonsschule. Der Klassizismus entspricht dem aufblühenden Bundesstaat, so wie der Barock dem absterbenden Ancien régime der sanktgallischen Äbte entspricht. Das Schweizerkreuz auf den Militärwolldecken musste sich immer genau im Zentrum der eisernen Betten befinden. Das sanktgallische Liktorenbündel, die sogenannten fasces, war hier nirgends zu erblicken. Neue Manieren wurden eingeführt, eine Steigerung der Sekundarschulmanieren fand statt. Man musste den Vorgesetzten, welche an ihrem feinen Tuch erkennbar waren, seinen Namen über fünfzig Meter weit lauthals entgegenschreien. Sie nannten es grüssen oder melden. Ärschlings musste man sich eine grosse Verkniffenheit und Straffung angewöhnen. Sie nannten es strammstehen. Der Feldweibel prüfte die Strammheit der Arschmuskeln. Sollte ich einst liegenbleiben in der blutüberfüllten Schlacht, sollt ihr mir ein Kreuzlein schneiden auf den dunklen tiefen Schacht. Die Armee dient sowohl der Abwehr von Angriffen von aussen als auch der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nach innen. Die Ordnung des Lehrers Tagwerker wurde in letzter Instanz auf der Kreuzbleiche garantiert, ebenso die Ordnung am Rosenberg. In der dritten Woche war Bajonettexerzieren. Parade vor, Parade rückwärts, Leiche abstreifen hiess der Befehl, dazu wird eine Bewegung mit dem aufgepflanzten Bajonett ausgeführt, indem man zuerst horizontal in den Feindkörper hineinsticht, der vorläufig noch imaginär war, und sodann den Leichnam mit dem linken Fuss abstreift, dabei mit dem rechten Fuss Posten fassend. Nachdenklich geworden, weil uns in der Kath. Sekundarschule die Liebe zum Feind eingeflösst worden war, auch das Hinhalten der linken Wange, wenn der Rektor auf die rechte geschlagen hatte, und weil wir die Feindesliebe so weit getrieben hatten, sogar den Rektor und Präfekten zu lieben, liess ich mich bei Leutnant R. für die Sprechstunde vormerken, die immer nach dem Hauptverlesen stattfand. Kommt nur zu mir, wenn ihr ein Problem habt, hatte er gesagt. Leutnant R. hörte sich mein Problem an: Warum sollten wir einen abstrakten Feind abstechen, wenn wir bisher unsere konkreten Peiniger in der Schule hatten lieben müssen?

      Er lächelte kurz und sagte: Sie sind doch Katholik, oder? Also dann. Die schweizerischen Bischöfe haben erklärt, dass die Ableistung des Militärdienstes mit dem christlichen Gewissen vereinbar ist. Ich hoffe, damit auf Ihre Frage geantwortet zu haben.

      Seit diesem Gespräch hatte es mir in der Rekrutenschule, obwohl man dort viel Nützliches über den Umgang mit Sprengkörpern lernt, nicht mehr richtig gefallen wollen, und nach insgesamt drei Wochen Aufenthalt in dem


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