Das eigene Leben. Niklaus Meienberg
Читать онлайн книгу.weit im Lande herumgekommen und hatte immer wieder eine Möglichkeit erspäht, sein Haus mit bedeutsamem Zierat, der den Geschmack seiner sechs Kinder bilden sollte, auszustaffieren.
Die Feier tönte nicht kitschig, weil sie den Alltag verlängerte, sozusagen sein Kulminationspunkt war. Die Mutter zum Beispiel hatte die Botschaft von der Gleichheit aller Menschen – Gleichheit vor Gott, aber Gleichheit alleweil – wirklich kapiert und praktiziert, und in ihrem Gefolge hatten die sechs Kinder fast keine andere Wahl, als diese auch zu glauben, und von der Gleichheit ausgehend, wurde auch Gerechtigkeit angestrebt. Man hörte zum Beispiel, dass es wichtigere Dinge im Leben gab als Geld. Man wurde von der Mutter, welche ihr Schwiegersohn Kurt «La reine mère» nannte, dahingehend instruiert, dass alle Menschen gleich viel wert seien und oft nur das Spiel des Zufalls den einen zum Reichen, Mächtigen und den andern zum Armen, Verschupften gemacht habe, dass auch in allen so etwas Ewiges lebe, in den Reichen und Arroganten allerdings vielleicht ein bisschen weniger als in den Stillen und Kleinen; und dass man nicht der Autorität, sondern den Argumenten zu folgen habe, weil nämlich jeder, im Zeichen der Gleichheit, über den eigenen Verstand verfüge. Dadurch hat sie mindestens einen ihrer Söhne, welcher auch nach der Kindheit glaubte, es komme im Leben auf die Macht der Argumente, nicht auf die Argumente der Macht an, in permanente Schwierigkeiten gestürzt. Allerdings konnte es auch ein Zeichen von besonderer Auserwähltheit sein, wenn ein Kleiner dank eigener Tüchtigkeit und Strebsamkeit zum Millionär wurde, wie ihr Bruder, der tüchtig akkumulierende, und dieses, obwohl der Vater nur einen kleinen Gemüsehandel betrieben hatte, und auf diesen self made man, der im Alter von dreissig Jahren die Matura (Institut Juventus) gemacht und später sich noch den Doktortitel geholt hatte, war sie stolz, und natürlich hätte sie auch gerne studiert und einen Titel geholt, das machten dann zwei ihrer Söhne für sie, der eine davon mit knapper Not. So einen Treibsatz bekam man eingebaut in der Familie, einen Stolz nach aussen, natürlich gepaart mit christlicher Demut nach innen – vor der Mutter. Sie war keine künstliche Mutter. Zum Beispiel hatten wir gelernt, dass man sich nicht ducken soll, wenn möglich, dass Lehrer und Pfärrer nicht immer recht haben, weil sie Lehrer und Pfärrer sind, und wenn diese Autoritätsfiguren zu Hause reklamierten wegen angeblicher oder wirklicher Verfehlungen eines ihrer Kinder, so wurde die Reklamation streng auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft und erst dann, je nach Lage der Dinge, Lehrer/Pfarrer oder Kind ermahnt. Die Autorität hat bei ihr nie automatisch recht gehabt, nur weil sie Autorität war, und wenn sie zur Überzeugung kam, dass in der Sonntagspredigt irgendein theologischer Gedankengang nicht stimmte, stellte sie den Prediger nach dem Gottesdienst mit aller gebotenen Energie zur Rede, wobei der Fehlbare mit Blicken aus ihren notorisch blauen Augen angebohrt wurde wie der heilige Sebastian von den Pfeilen.
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Aber im Singen war sie nicht so stark, drum summte sie die Melodien nur mit und schaute mit ein bisschen Abstand auf das gelungene Konzert an Weihnachten, während der Vater, der eher an Autoritäten glaubte und an gewissen Personen hinaufschaute, auf seiner umständlich zusammengesetzten Querflöte pfiff; er hat punkto Autoritäten wenig Einfluss gehabt in der Familie, weil er angenehm still war und sich zurückhielt und eigentlich nur, wenn er für Bundesrat Etter schwärmte, mit dem einen Briefwechsel zu haben ihm eine grosse Ehre war, oder für den päpstlichen Gardekaplan Monsignore Krieg schwärmte, etwas unangenehm auffiel, aber einen Vorwurf gegen den Vater wird man daraus nicht ableiten, er hatte vielleicht keine andere Wahl, denn um der mordsmässigen Autorität der Mutter, welche auch stärkere Männer als ihn umgeworfen hätte, etwas entgegenzusetzen, musste er mindestens einen Bundesrat und einen päpstlichen Gardekaplan in die Waagschale legen. Hatte er nicht denselben Bürgerort wie Bundesrat Etter, nämlich Menzingen/zg, das früher für sein Kloster bekannt war und heute für seine Bloodhound-Raketen? Das war doch gewiss Grund genug, in einen Briefwechsel mit Bundesrat Etter einzutreten, der in seiner eckigen Schrift ihm mehrere Briefe geschrieben hat, mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr Philipp Etter. Die lagen dann noch jahrelang neben dem Pfeifentabak in der linken oberen Schublade des Buffets.
Nach den eher fröhlichen Liedern kamen die Geschenke; das kennt man. Kerzenduft erfüllte natürlich mittlerweile die Stube. Und auf dem Esstisch bibberten die Sülze, welche der Revisor vorher in der Badewanne gekühlt hatte, in ihren schönen blechernen Formen. Dann wurde gespiesen, in den spätern Jahren, als Felix seine Braut nach St. Gallen gebracht hatte, mit französischem Einschlag. Dieser hatte nicht, wie es vermutlich den Träumen des Vaters entsprochen hätte, Susi geheiratet, des renommierten Doktor Romers Tochter, sondern Madeleine aus Paris, die von einem Elektriker abstammte, aber immerhin einem aus Paris. Crevetten sah man zum ersten Mal, Gigot war auch noch wenig bekannt. Es kamen jetzt französische Weihnachtslieder auf, il est né le divin enfant und dergleichen. Der zweitälteste Bruder verlor etwa zu dieser Zeit seinen Namen Peter und wurde auf den Namen Hildebrand umgetauft und liess sich die Haare ganz kurz schneiden, weil er ins Kloster eintrat, und eine Schwester, die schönste in der Familie, verlor ihren Namen Vreni und wurde auf Sœur Marie-de-Saint-Jean-l'Evangéliste umgetauft, weil sie den Schleier nahm, und so hatten beide ein Öpferli gebracht, der eine in Fribourg, die andere in der Normandie, das Kloster hiess La Délivrande; und ohne die beiden Musikanten, welche die Religion uns weggenommen hatte (Geige und Klavier), war die Weihnachtsmusik nur noch halb so bedeutend, der doch etwas ungeschickt pfeifende Vater fiel jetzt mit seiner mangelhaft trainierten Querflöte viel stärker auf.
Nach dem Essen dann die Christmette; das kennt man. In späteren Jahren zog es die geschrumpfte Familie in den Dom, dort wurde die schönste Musik geboten in der Stadt. Noch später, auf dem ersten Schallplattenapparat, der auch auf Weihnachten gekauft wurde, kurz nach der Ungarnkrise, hörte man ein perfektes Weihnachtsoratorium, das alles in den Schatten stellte, DEUTSCHE GRAMMOPHONGESELLSCHAFT/ARCHIVPRODUKTION. Die Musik wurde raffinierter, aber man machte sie nicht mehr selber, und der Glaube nahm ab, wenigstens meiner. Er konnte Camus nicht widerstehen, dessen heroische Melancholie dem Gymnasiasten sehr gefiel. Im Dom dirigierte Kapellmeister F. mit ausdruckstarken Händen, und von ihm war in der Familie bekannt, dass er in seiner Jugend für die Mutter eine Neigung gehabt hatte, die er jedoch nie so deutlich artikulierte, dass es der Mutter genügend aufgefallen wäre; erst nach der Heirat erfuhr sie etwas von F.s bis anhin verheimlichten Gefühlen, und so konnte sich der Gymnasiast denn während des Weihnachtsoratoriums vorstellen, wie er doch vermutlich ganz anders herausgekommen wäre mit einem Kapellmeister als Vater, wie gern er den berühmten Namen des F. getragen und so viel weniger Schwierigkeiten beim Einstudieren und Üben des WOHLTEMPERIERTEN KLAVIERS gehabt hätte. Der Vater sass neben ihm in der Kirchenbank, ahnte nichts von den Gedanken des Sohnes, pries nach der Mette die musikalischen Führungskünste von Kapellmeister F., und dann ging man nach Hause, nicht ohne die Spektabilitäten und Honoratioren der Stadt, welche sich auf dem Domplatz breitmachten, zu grüssen, wobei der Vater seinen Hut dann angelegentlichst nach allen Seiten lüftete.
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