Das eigene Leben. Niklaus Meienberg
Читать онлайн книгу.welches unerträgliche Schmerzen an der Wirbelsäule nachwies, einen alten Scheuermann. Mein Vater schaute bitter auf den dienstuntauglichen Sohn, als ich in Zivil nach Hause kam. Jetzt musst du Militärersatz zahlen, sagte er, und das Militär hätte dir gutgetan.
Als das Wetter aufhellte und die Gespenster im Schneetreiben untergegangen waren und das Motorrad strotzend bereitstand für die Fahrt in eine mildere Stadt, schlenderte ich mit B. noch ein wenig durch die Altstadt, Metzgergasse, Goliathgasse, Augustinergasse. Vieles hat sich geändert seit jenen Zeiten, sagte B., eine gewisse Humanisierung hat auch hier stattgefunden, wollen jetzt abschliessend eins trinken. Wir tranken Rotwein im Restaurant «Alt-St.-Gallen», an der Augustinergasse. Das ist eine freundliche Pinte mit falschem Renaissancetäfer und falschen Butzenscheiben, wodurch der Eindruck des Alten entsteht. Rentner und Arbeiter, auch ausrangierte Huren verkehren hier. Die Wirtsstube mit niedriger Decke und gemütlich, Stumpenrauch, Sangallerschöblig, Bratwörscht, Bierflecken, Stimmen. Und die Sanktgaller Freisinnigen, welche jetzt die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangen? Nach einiger Zeit sagte er, zur Serviertochter gewandt: Fräulein, könnten Sie uns einmal den Schrank dort öffnen? Das Fräulein öffnete den Schrank für eine Gebühr von 20 Rappen. Eine Guillotine kam zum Vorschein, kein nachgebautes Modell, sondern eine richtige Guillotine aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, ein fahrbares Stück, das in Süddeutschland auf den Dörfern gedient hatte. Die Serviertochter nannte sie Güllotine. Früher sei sie offen im Restaurant gestanden, sagte das Fräulein, aber weil die Leute sie immer betätigen wollten und das Fallbeil heruntertätschen liessen, habe man die Güllotine einschliessen müssen, sie sei ausserordentlich heikel, und man könne sie nicht versichern. Wo normalerweise der Nacken liegt, ist jetzt ein Holzscheit mit einer tiefen Kerbe zu sehen.
Wach auf du schönes Vögelein
Die Krippenfiguren stammten vom Bildhauer Meier, Wilhelm Meier, draussen am Stadtrand im «Hof Tablatt» wohnte der weissbärtige, Kaiser-Wilhelm-bärtige Meier, den wir am Nachheiligtag regelmässig besuchten in seinem Atelier, das an ein altes Bauernhaus angebaut war, wo seine Frau, die etwas Inniges hatte, uns mit Guetsli bewirtete, und kamen dann jeweils immer mit mindestens einer neuen Krippenfigur zurückgetrippelt nach St.Fiden, und die Figuren wurden im Laufe der Jahre immer ein bisschen abstrakter, weil Wilhelm Meier sich in dieser Richtung entwickelte, ohne jedoch das Figurative ganz zu vernachlässigen, weil er sonst von der Stadt keine Aufträge mehr gekriegt hätte, aber waren dann immerhin Ochs & Esel, welche der Vater, im Familienkreis Vati genannt, zur Zeit des Koreakrieges erwarb, in ihrem Stil doch recht verschieden von Maria & Josef, die er früher im Aktivdienst beim damals vermutlich noch nicht schneebärtigen Meier erstanden hatte; so dass von einer homogenen Krippengesellschaft nicht die Rede sein konnte, sondern erkleckliche Unterschiede bestanden, ganz wie bei den Gschwüschterti, die sich deutlich voneinander abhoben und von denen im Laufe der Jahre ein halbes Dutzend zur Welt gekommen waren. Ursi kam nach mir; zu den andern schaute ich auf. Sie hatte blonde Zapfenlocken, und in der ersten Klasse, als ich entdeckte, dass die Väter von mindestens zwei Schulkameraden, nämlich Benteli und Hungerbühler, ihre Familien sonntags im Auto spazierenführten, manchmal bis nach Rimini hinunter, soll ich auf die Frage der Mutter, was mir denn lieber sei, ein kleines Schwesterchen oder ein Auto, für beide reiche der Verdienst des Vaters nicht, geantwortet haben:
Es Auto, Chind hämmer jo scho gnueg; und so die Mutter, welche mit der korrekten Antwort rechnete, betrübt haben.
Weihnachten wurde präpariert durch den Advent, welcher mit dem Dezember begann und sich durch die sogenannten Rorate-Messen und den Verzicht auf Naschwerk auszeichnete. Alle Zeltli, Schleckstengel, jedwedes Zuckerwerk, Schokolade und andere Naschbarkeiten, die man sonst beiläufig verzehrte, wurden im Monat Dezember strikte in einem Porzellanbehältnis aufbewahrt und dem Heiland zuliebe, der bald den Himmel aufreissen würde, bis Weihnachten akkumuliert. Da stand diese Schüssel im Buffet, im Esszimmer, frei zugänglich, und es war eine harte Askese, eine innerweltliche, nicht zu naschen vor Weihnachten, sondern eben sich zu beherrschen und zu verzichten, obwohl die Süssigkeiten sich bedrohlich vermehrten und an Weihnachten manches nicht mehr im frischesten Zustand sein würde, und es war auch nicht so, dass man, wenn die Schlecklust ausnahmsweise mit uns durchging, von der Mutter bestraft worden wäre, nur der Heiland, sagte sie, sei dann etwas traurig, und die Blicke aus ihren notorisch blauen Augen wurden ganz durchdringend; und so beruhte alles auf freiwilliger Basis. Diese Tätigkeit des freiwilligen Verzichtens nannte man: äs Öpferli bringe. Die Rorate-Messen begannen um sechs Uhr; man sang zuerst TAUET HIMMEL DEN GERECHTEN, WOLKEN REGNET IHN HERAB, es gab Schnee, und der Drogist Egli sang sehr schön, wenn auch etwas gequetscht. HARRT SEIN VOLK IN BANGEN NÄCHTEN, IN DER SÜNDE DUNKLEM GRAB. Da hörte man auch den Büchsenmacher Werner, den Doktor Romer, der uns im Frühling die Warzen mit einem böse zischenden, bläuliche Funken erzeugenden Gerät von den Fingern brannte, den Schlosser Lehner und den Bäcker Lehmann herrlich singen, aber auch den Drogisten Rutishauser aus dem Krontal, welcher ein Konkurrent des Egli war, und ihre Stimmen transzendierten eine halbe Stunde lang ihr Handwerk, und in kultureller Hinsicht war dieser Tagesbeginn mindestens so gelungen wie ein von Radio 24 berieselter, schweigend hingenommener, ingrimmig gehasster Zürcher Morgen, der mir eben jetzt wieder vor dem Fenster dämmert, 8050 Oerlikon.
Es kommt ein Schiff geladen, bis an sein höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewig Wort.
Der Vater war beim Morgenessen schweigsam, tunkte die Möcken in den Kaffee, schälte einen Gerber-Käse aus dem Silberpapier, Gerber-Schachtelkäse, der so zum Morgenessen gehörte wie die Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur zum Mittagessen, welches recht pünktlich mit dem Zeitzeichen aus Beromünster begann. Es gab nicht mehr viel Metaphysik tagsüber, das Adventliche blieb auf die frühen Morgenstunden konzentriert. Im Buffet drohten die Süssigkeiten, schlummerte die stetig wachsende Versuchung, täglich wuchernde Anhäufung, das ausufernd Gut-Böse, das Anziehend-Abstossende. Ein Ausweichen war nur möglich, indem man die Grossmutter, die im obern Stock wohnte, besuchte, ihr Territorium wurde nicht so scharf vom Heiland kontrolliert, sie war eine Art Gegenmacht im Haus, und was man bei ihr lutschte, war in religiöser Hinsicht wie nicht gelutscht. Die kleine Schwester Ursi und ich haben es denn auch sehr bedauert, dass sie zusehends hinfälliger wurde und, weil etwas schwabblig auf den Beinen, ihren harten Thurgauerkopf mit zunehmender Häufigkeit gegen ein Möbel schlug und verletzte. Immer nämlich, wenn es im obern Stock rumpelte, schlichen wir uns mit angehaltenem Atem hinauf, angezogen/abgestossen, und waren gespannt, ob sie wohl ein Loch im Kopf habe, oder gar schon tot sei, oder unverletzt geblieben sei. Viel Blut floss meist nicht.
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An Weihnachten war es dann schön. Alle glaubten daran in der Familie, und es stimmte. Es stimmte mehr als die profanen Feste, die ich seither erlebt habe, aber es stimmte nur, weil man glaubte, und als ich im Internat Camus zu lesen begann, wurde das Weihnachtsgefühl beschädigt: aber weder Camus noch Sartre, noch Foucault haben mir später ein Fest beschert, und auch keine linke Partei, oder doch nur eines im Kopf. Es stimmte damals vielleicht, weil man klein war und am 24. Punkt zwei Uhr nachmittags der Run auf die gehorteten Schleckwaren begann und eventuell die Märklin-Lokomotive unter dem Christbaum lag, aber vor den Geschenken, bitte sehr, das Weihnachts-Evangelium und die Lieder. Das Evangelium wurde in aller Regel vom ältesten Bruder vorgetragen, und die Botschaft war eigentlich nicht schlecht, auch wenn seine Stimme ein bisschen zitterte. Man hörte sich das stehend an, und es begab sich aber zu jener Zeit, dass diese Worte nicht als aufgesetzt empfunden wurden, trotz der Feiertagsgewänder, und nicht als lebensfremd, und es war nicht kitschig, auch wenn der Vater manchmal nasse Augen bekam vor Ergriffenheit und dann kurz ins Badzimmer verschwand, bevor er auf seiner Querflöte, die er nur einmal im Jahr benutzte, die Melodie von TOCHTER ZION, FREUE DICH, JU-U-U-U-UBLE LAUT, JE-RU-U-U-SALEM so laut und falsch pfiff, dass man ihm, dem stillen, in sich gekehrten Mann, den Jubel glaubte (Händel). Niemand dachte bei «Tochter Zion» an den Zionismus, und Jerusalem war eine Traumstadt. Die Querflöte wurde vom Klavier und von der Geige und der Blockflöte begleitet und von zwei- bis dreistimmigem Gesang, man konnte die Rührung verscheuchen, indem man möglichst kräftig sang, die Mutter stand im Hintergrund und summte leise mit, weil, gesanglich war sie nicht stark, und die Stube, welche der Vater in seiner soignierten Art SALON nannte, mit französischer Aussprache, obwohl sie dafür viel zu klein war, platzte vor Musik aus allen Nähten. LIEB NACHTIGALL WACH AUF