Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-Minuth

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Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht - Sylvie Méron-Minuth


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vielfältig ausgelegt werden kann, bleibt jedoch ein gemeinsamer Nenner, nämlich der der sprachenpolitischen Vorgaben der Europäischen Union, die besagen, dass jeder europäische Bürger nebst seiner Muttersprache über ausbaufähige Kenntnisse in zwei modernen Sprachen verfügen sollte (vgl. Jakisch 2015b). Es geht folglich um die personale Mehrsprachigkeit, die im europäischen Sinne als individuelles Gut gesehen wird und

      „[…] betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker, die er entweder in der Schule oder an der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt. Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen, und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren.“ (Trim; North & Coste 2001: 17)

      Im Folgendem geht es darum, grundsätzlich zwischen drei Typen von Mehrsprachigkeit zu unterscheiden (u.a. Riehl 2009; Lengyel 2016), auf die ich in den nächsten Unterkapiteln näher eingehen möchte: die gesellschaftliche, die individuelle und die institutionelle – hier in unserem Kontext: die schulische – Mehrsprachigkeit.

      2.3 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit

      Franceschini (2009) schlägt folgende Definition einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit vor:

      „Unter Mehrsprachigkeit wird die Fähigkeit von Gesellschaften, Institutionen, Gruppen und Individuen verstanden, in Raum und Zeit einen regelmäßigen Umgang mit mehr als einer Sprache in ihrem Alltag zu haben. Mehrsprachigkeit beruht auf der grundlegenden menschlichen Fähigkeit, in mehreren Sprachen kommunizieren zu können. Sie ist ein in kulturelle Entwicklungen eingebettetes Phänomen und ist somit durch hohe Kultursensitivität geprägt.“ (Franceschini 2009: 64)

      Die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit meint das gleichzeitige, dynamische Vorhandensein und Zusammenleben mehrerer Sprachen auf demselben Territorium, in einer Gesellschaft. Sie liegt vor, wenn sich zahlreiche Personen beim Eintritt gegenseitiger Durchdringung der Sprachgemeinschaften im Alltag mehr als einer Sprache bedienen, ob in Institutionen, Behörden oder noch Organisationen, die mehrsprachig aufgebaut und entsprechend mehrsprachig tätig sind (z.B. die Schweiz, oder Belgien). Auch Luxemburg ist beispielswiese gekennzeichnet durch eine soziale Mehrsprachigkeit, bei der drei Amtssprachen eine wichtige Rolle erfüllen. Während Französisch als gesetzliche, amtliche Verkehrssprache fungiert, wird das Luxemburgische für kommunikative Zwecke in nicht formalen Zusammenhängen verwendet, und das Deutsche als Bildungssprache gleich zu Beginn der schulischen Sozialisation beziehungsweise Alphabetisierung gelernt. Damit verbunden ist gleichzeitig auch die gesellschaftliche Wertschätzung dieser Sprachen.

      2.4 Individuelle Mehrsprachigkeit

      Mehrsprachigkeit – wie wir bereits in den vergangenen Kapiteln feststellen konnten – wurde seinerzeit im Weißbuch von 1995 (vgl. Europäische Kommission 1995: 62) als ein zu erreichendes Erziehungsziel für jedes Individuum erklärt. Individuelle Mehrsprachigkeit meint einen Zustand, in dem ein Individuum Kompetenzen in mehr als einer Sprache besitzt, sich entsprechend ein kommunikatives Sprachrepertoire zugelegt hat, das aus psycholinguistischer Perspektive auch Sprachmischungen umfasst. Anders formuliert: mehrsprachig ist derjenige, der im alltäglichen Leben regelmäßig zwei oder mehrere Sprachen verwendet und sich somit verständigen kann, sowie von der einen in die andere umschalten kann, vorausgesetzt, dass die Umstände dies erforderlich machen. Dabei muss der Sprecher die einzelnen Sprachen nicht mit demselben Perfektionsgrad beherrschen, so wie es Yves Bertrand und Herbert Christ im folgenden Auszug verdeutlichen:

      « Cette définition [du plurilinguisme individuel] ne demande pas qu’un individu maîtrise toutes ces langues avec la même perfection. Contrairement au multilinguisme, le plurilinguisme est planifiable, par exemple dans le cadre d’une politique scolaire dont il est le produit. » (Bertrand & Christ, 1990:44)

      Vielmehr sei die individuelle Mehrsprachigkeit planbar, so wie zahlreiche offizielle Texte diese Unterscheidung aufgreifen (Ebd.). Sie sei auch das Ergebnis verschiedenartiger Lernprozesse und somit von zahlreichen äußeren und inneren Faktoren wie Alter und der Zeitpunkt des Erwerbs, der Ort des Erwerbs, die Art des Erwerbs zusätzlich zu Umständen und Motivation.

      2.4.1 Lebensweltliche Mehrsprachigkeit

      Ingrid Gogolin führte 1988 den Terminus der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit im Zusammenhang mit Forschungen zu Zwei- und Mehrsprachigkeit1 ein. Damit beschreibt sie die sprachlichen Kenntnisse und Kompetenzen von Menschen, die durch ihre persönliche, außerschulische Biografie in ihrem alltäglichen Leben in mehr als einer Sprache aufwachsen, denken, agieren und kommunizieren. Diese lebensweltliche Mehrsprachigkeit wird zur gewöhnlichen Lebensführung gebraucht und ist erforderlich, um den Alltag handlungsfähig zu gestalten. So übernehmen beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund häufig Mediationsaufgaben für ihre Eltern im schulischen Zusammenhang.

      Mit Blick auf das deutsche Bildungssystem war es Gogolins Anliegen, die besondere Stellung zwei- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler – Kinder mit Migrationshintergrund – darzulegen, um ihre These vom monolingualen Habitus der deutschen Schule zu stützen, dem sie die multilinguale Realität eines großen Teils der Schülerschaft gegenüberstellt. Nach Gogolin wird dieses Sprachvermögen durch die Institution Schule nicht vermittelt und entsprechend auch nicht offiziell anerkannt bzw. unterrichtlich eingebunden (vgl. Gogolin 1994). Heidemarie Sarter (2013) fügt hinzu, dass die lebensweltlichen Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler allzu häufig ein totes Kapital bleiben, anstatt revitalisiert und ausgebaut zu werden (vgl. Sarter 2013: 55). Deshalb – entsprechend dem erklärten Ziel der Europäischen Union (2005) – die Mehrsprachigkeit zu fördern, schließt dies ebenfalls die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schülerschaft ein, die umfangreichen Eingang in das unterrichtliche Geschehen finden muss (vgl. Gogolin 1994, 2008; Hu 2003).

      Wenn wir einen Blick auf Statistiken der ausländischen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen für das Schuljahr 2015/16 werfen, so repräsentiert das Türkische mit 15,4 % die mit Abstand am stärksten vertretene Herkunftssprache (vgl. Statistisches Bundesamt 2017).

      Die russische Sprache gehört gleichermaßen zu den weit verbreiteten Herkunftssprachen in Deutschland nach der Türkei und Polen (vgl. Anstatt 2009; Brehmer & Mehlhorn 2015: 85f.). Neben Immigranten aus den russischen Kerngebieten sind vor allem russlanddeutsche Spätaussiedler aber auch Georgier, Kasachen, Usbeken und Ukrainer Teil der russischsprechenden Gemeinschaft in Deutschland.

      Exemplarisch am Bundesland Nordrhein-Westfalen gezeigt, lebten dort im Jahre 2015 Familien mit ihren Kindern, die aus mehr als 190 verschiedenen Herkunftsländern stammten.

      „In den Ballungsgebieten liegt die Quote der Kinder im Einschulungsalter, die mehrsprachig aufwachsen, bereits bei 40 Prozent und mehr. […] Manche Stadtteile haben Quoten von 80 Prozent und mehr, während andere eine Quote von 20 Prozent nicht übersteigen.“ (Bainski & Trujillo 2015: 478)

      Bainski und Trujillo fügen hinzu, dass 50 % bis 70 % dieser Kinder neben Deutsch ihre Herkunftssprache sprechen würden (Ebd.). Somit kommen diese Kinder von frühester Kindheit an, auf natürlichem Wege im öffentlichen Alltagsleben mit etlichen Sprachen in Berührung. Nicht nur in der globalisierten Welt, sondern auch in unserer von Migration geprägten Gesellschaft sei es deshalb unabdingbar, die lebensweltlich erfahrene Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler als Bestandteil ihrer Identität in den schulischen Unterricht einzubetten (vgl. z.B. Oomen-Welke & Krumm 2004; Hufeisen 2004b; Sarter 2013).

      2.4.2 Schulische Mehrsprachigkeit

      Anders als die lebensweltliche Mehrsprachigkeit bleibt die schulische Mehrsprachigkeit anzubahnen, also ein Desiderat der Europäischen Union, die die Mehrsprachigkeit als „ein Lernziel von hoher Verbindlichkeit“ sieht (Meißner & Reinfried 1998: 11). Unter schulischer Mehrsprachigkeit versteht man demnach die Sprachen (Interlangues),


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