Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-Minuth

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Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht - Sylvie Méron-Minuth


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Muttersprache für die jeweils eigene Identität, die praktische, internationale Kommunikationssprache und schließlich die weitere Sprache zum Verstehen des europäischen Anderen subsumiert.

      Entgegen ersten Vorstellungen einer Lingua franca hat die Europäische Union sich auch zum Ziel gesetzt, die Mehrsprachigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu fördern (Muttersprache + 2) und möglichst früh mit einer gezielten Fremdsprachenförderung zu beginnen (vgl. Hufeisen 1998), denn das Phänomen europäischer Mehrsprachigkeit wird längst als der Regel- bzw. Normalfall im 21. Jahrhundert angesehen, während Zweisprachigkeit eher als Sonderfall der Mehrsprachigkeit verstanden wird (vgl. Trim; North & Coste 2001: 17 und Lutjeharms 2009: 19).

      Um die Möglichkeiten zur Erfüllung dieses Ziels zu untersuchen, gilt es im Folgenden zunächst zu klären, was unter jenen Begriffen der Zwei- und Mehrsprachigkeit zu verstehen ist, und in welchen Formen sie sich hier äußern.

      Es mag auf den ersten Blick einfach erscheinen: Mehrsprachigkeit heißt, mehrere Sprachen zu beherrschen. Doch schon eine solche – sehr einfach formulierte – Erklärung ist problematisch und keinesfalls so klar, wie sie auf den ersten Blick scheint. Denn Mehrsprachigkeit, so machen etliche Forscher deutlich, ist beileibe kein klares Konzept und es gibt zahlreiche, unterschiedliche Kategorisierungen dieses Konzept (vgl. u.a. Bertrand & Christ, 1990; Meißner, 1993; de Cillia 2010; Bär, 2004; Boeckmann et alii 2012: 79).

      So weist exemplarisch eine Reihe von Forscherinnen und Forschern (z.B. Beacco & Byram 2007: 17; Riehl 2009; Hu 2011; Boeckmann et alii 2012) auf die im „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ (Europarat 2001) vorgenommene Unterscheidung von Plurilingualismus (individuelle, persönliche Mehrsprachigkeit) und Mehrsprachigkeit / Vielsprachigkeit (gesellschaftliche Mehrsprachigkeit) hin. Diese begriffliche Unterscheidung wird allerdings in den meisten Beiträgen nicht übernommen1; vielmehr geht es hauptsächlich um die persönliche Mehrsprachigkeit, die immer in gesellschaftlich mehrsprachigen Kontexten entwickelt bzw. gefördert werden soll. Doch auch die persönliche Mehrsprachigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres konzeptuell erfassen. So widmet sich die Forschung einerseits der so genannten "lebensweltlichen Mehrsprachigkeit" und Fragen zur damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Multikulturalität bzw. zur Mehrsprachigkeit in Migrationsgesellschaften (Hu 2003; Krumm 1994; Gogolin 2001; Fürstenau 2011; Lengyel 2017). Weitere Forscherinnen und Forscher (z.B. Hu 2004; Mordellet-Roggenbuck 2009; Jakisch 2014, 2015; Heydt & Schädlich 2015) beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem schulischen bzw. institutionellen Fremdsprachenlernen, das zur individuellen Mehrsprachigkeit führen soll.

      2.2.1 Zweisprachigkeit

      In der umfangreichen Literatur zu dem komplexen Thema der Zweisprachigkeit bzw. des Bilingualismus findet sich eine große Vielfalt von Definitionen und Herangehensweisen der einzelnen Autorinnen und Autoren sowie verschiedenste Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Zweitspracherwerbs (vgl. Forschungsstand z.B. in: Apeltauer 2001, Ahrenholz 2008; Ahrenholz & Oomen-Welke 2014; Grießhaber 2016). Der Terminus Zweisprachigkeit, der gleichzeitig mit Bilingualismus oder auch Bilinguismus (vgl. Müller; Kupisch; Schmitz & Cantone 2011: 15) sinnverwandt benutzt wird, beschreibt sowohl das Individuum, das Sprecher von mindestens zwei Sprachen ist, die es als Kleinkind im natürlichen Kontext als Muttersprachen simultan erworben hat, als auch die Institutionen und Gesellschaften, in denen dieses Individuum lebt (vgl. Coste; Moore & Zarate 2009: 16). Eine bilinguale Situation tritt dann auf, wenn ein Land, ein Staat oder auch eine Gegend zweisprachig ist, und wenn Angehörige zweier unterschiedlicher Ethnien in engem Kontakt zusammenleben und untereinander kommunizieren (vgl. Zydatiß 2010: 339).

      Je nach Wissenschaftsdisziplin wie beispielhaft in der Erziehungswissenschaft, der Psychologie, der Soziologie, der Sprachwissenschaft sowie auch der Zweitsprachenerwerbsforschung wird Zweisprachigkeit als Forschungsfeld unter verschiedenen Aspekten analysiert. Es existiert dementsprechend eine Kumulierung von Definitionsansätzen, die nicht einheitlich erfasst werden können (vgl. dazu Hu 2011: 214). Bilingualismus wird beispielsweise in der Zweitsprachenerwerbsforschung als Form von Mehrsprachigkeit betrachtet (Ebd.).

      Wirft man aber einen Blick in die Literatur der Psycholinguistik und der Zweitsprachenerwerbsforschung der vergangenen Dekaden, so werden Menschen als bilingual bezeichnet, wenn sie auch nur mindestens eine der vier Fertigkeiten Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben in einer anderen Sprache als ihrer Muttersprache besitzen, so wie es Macnamara 1967 verdeutlicht:

      “[…] I will use the term bilingual of persons who possess at least one of the language skills even to a minimal degree in their second language.” (Macnamara 1967: 59f.)

      Eine entgegengesetzte Position vertritt Bloomfield (1976, 1984), der für das Vorliegen von Bilingualismus höhere Kompetenzen voraussetzt, und ihn demzufolge als quasi muttersprachliche Beherrschung von zwei Sprachen charakterisiert: "[…] the native-like control of two languages" (Bloomfield 1984: 56). Seiner Auffassung nach gehört ein annähernd muttersprachlicher Perfektionsgrad dazu, um als zweisprachig betrachtet zu werden.

      Was Edwards (1994) angeht, so ist dieser einer ähnlichen Auffassung bezüglich des Bilingualismus wie Macnamara und unterstreicht, dass „Everyone [sic] als bilingual“ bezeichnet wird (Edwards 1994: 55). Für Edwards genügen bereits geringe Kenntnisse in einer Fremdsprache, um als zweisprachig zu gelten und zwar unabhängig davon, ob diese Kenntnisse ausschließlich in einem bestimmten Bereich, wie dem Mündlichen, ausgebildet sind (vgl. auch Aronin & Singleton 2012: 1f.).

      Diese dichotomen Sichtweisen verdeutlichen, wie umstritten die Abgrenzungsproblematik betreffs des Bilingualismus ist (vgl. Wode 1985: 36) und wie weit diese Aussagen ebenfalls auf den Plurilingualismus übertragbar sind (vgl. Christ 2004: 31). Bloomfields Position wurde in den darauffolgenden Jahren als überholt angesehen, so Wode (1995); vielmehr öffnen sich Publikationen in der Tertiärsprachenforschung und der Fremdsprachendidaktik den eher weiter gefassten Begriffen von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit (vgl. Wode 1995: 36; Hu 2011: 11).

      Gegenwärtige Begriffsbestimmungen für die individuelle Zweisprachigkeit – per exemplum Coste, Moore und Zarate (2009) – beschreiben damit Einzelpersonen, die eine Sprachbeherrschung in zwei linguistischen Codes aufweisen, welche im Idealfall auf annähernd gleichem Niveau sind.

      Eine aktuelle Definition von Zweisprachigkeit erfordert jedoch mehr Flexibilität und muss verschiedene Aspekte berücksichtigen. Der ideale Muttersprachler (Trim; North & Coste 2001: 17) als maximale Anforderung betreffend der Sprachkompetenz gilt nicht mehr als das Maß der Dinge, so wie im Verständnis von Bloomfield (vgl. Definition von Bloomfield1 [1933] 1984: 55f.).

      Fäckes Definition (2010) erscheint einleuchtender und trifft die Unterscheidung zwischen individueller und gesellschaftlicher Zweisprachigkeit. Erstere wird noch einmal in simultane oder primäre Zweisprachigkeit und sukzessive oder sekundäre Zweisprachigkeit unterteilt (Fäcke 2010: 86f.). Im simultanen Fall werden zwei oder mehrere Sprachen parallel und zum gleichen Zeitpunkt erworben. Beim sukzessiven Phänomen ist eine ferner erworbene Zweisprachigkeit gemeint.

      Des Weiteren wird zwischen additivem und subtraktivem Bilingualismus differenziert:

      „Additiver Bilingualismus bezieht sich auf eine gleichgewichtige und positive Berücksichtigung beider Sprachen und Kulturen für die Entwicklung eines bilingualen Kindes. Subtraktiver Bilingualismus geht vom gegenteiligen Fall aus, in dem eine der beiden Sprachen bzw. Kulturen als minderwertig gegenüber der anderen Sprachen bzw. Kultur erachtet wird und in der Folge nicht gefördert wird.“ (Fäcke 2010: 87)

      Bei symmetrischem oder ausgewogenem Bilingualismus verfügt der Sprecher über ein identisches Sprachniveau, das heißt einen annähernd gleichgewichtigen Sprachstand in zwei Sprachen (vgl. u.a. Appeltauer 1997; Müller; Kupisch; Schmitz & Cantone 2006; Allemann-Ghionda 2007: 28). Bei asymmetrischem Bilingualismus liegt in einer Sprache ein höheres, dominanteres Niveau vor als in der anderen (Müller et al. 2006: 48ff.; Fäcke 2010: 87). Der Dominanzgrad der Sprache ist demzufolge vom Gebrauch im jeweiligen Kontext abhängig; er kann sich durch geografische oder soziale Veränderungen anpassen. Doppelte Halbsprachigkeit oder Semilingualismus als weitere Unterform der Zweisprachigkeit liegt vor, wenn keine der zwei Sprachen in verschiedenen Lebensbereichen


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