Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов
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Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht
Potenziale und Beispiele der Integration in Schule, öffentlichem Raum und Literatur
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8147-1 (Print)
ISBN 978-3-8233-0190-5 (ePub)
Plädoyer für eine interkulturelle Bildung für morgen
Russell West-Pavlov / Andrée Gerland
2018 kursierte in der deutschen Politik die rechts-konservative Kampfparole des „Asyltourismus“. Mit diesem Unwort war gemeint, dass Flüchtlinge von Land zu Land reisen würden, um immer wieder dort Asylanträge zu stellen, wo es ihnen am besten gefällt. Der Slogan war im höchsten Maße zynisch, weil er unterstellte, dass Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder Hunger mit reichen Touristen vergleichbar seien. Er suggerierte, ihre Flucht sei ein Luxus, den sich nur Menschen leisten, die Flucht im Grunde gar nicht nötig haben, weil sie jederzeit wieder ab- oder weiterreisen können. Angesichts des wahren Ausmaßes des Leids, das die Menschen aus Afrika oder aus dem Nahen Osten in die Flucht trieb und nach wie vor treibt sowie angesichts der gefährlichen Überfahrten bzw. langen Fußmärsche, die die Geflüchteten auf sich nahmen und nehmen, war der Begriff auch hochgradig respektlos und menschenverachtend. Kaum überraschend also, dass die Devise „Asyltourismus“ beinahe zum Unwort des Jahres 2018 gekürt wurde (Unwort 2018). Sie wurde von dem bayerischen Ministerpräsident Söder zum ersten Mal am 15. Juni verwendet, jedoch stammt sie ursprünglich aus dem Jahr 2014 und geht auf den bayerischen Kollegen Hermann und noch weiter zurück (Asyltourismus 2018). Der Begriff baute auf dem früheren Slogan des „Sozialtourismus“ auf, der in ähnlicher Weise auf eine vermeintliche Herumreiserei auf der Suche nach einem unverdienten und auf Kosten der Einheimischen erworbenen Glück anspielte (Sozialtourismus 2014).
Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt entstand in Tarifa/Spanien ein Streetart-Stencil, das auf dem Umschlag des vorliegenden Bandes abgebildet ist.1 Das Bild zeigt einen hellhäutigen Jungen mit einem Surfbrett unter dem Arm, der auf einen anderen, dunkelhäutigen Jungen zuläuft. Der zweite Junge hat an Stelle eines Surfbretts einen Rettungsring unter dem Arm. Die beiden Jungen sind jeweils mit einem gesprayten Text versehen. Neben dem Jungen mit dem Surfbrett ist zu lesen: „Yendo por una buena ola“ (in etwa: „Auf der Suche nach einer tollen Welle“, wobei das Verb „ir“ „laufen“ oder „gehen“ bedeutet), neben dem mit dem Rettungsring steht „Huyendo por una mejor vida“ (etwa: „Auf der Suche – noch genauer: Auf der Flucht – nach einem besseren Leben“). Das darin enthaltene Wortspiel besteht in der gleichen Aussprache der Wörter „Yendo“ und „Huyendo“, jedoch hat die erste Redewendung eine eher positive Resonanz, während die zweite einen deutlichen negativen Anklang besitzt. Auf diesem Bild kollidieren daher Bilder des teuren Freizeitvergnügens an der Mittelmeerküste mit solchen der Misere einer oft illegalen und häufig tödlichen Flucht – der Rettungsring deutet auf die sehr große Zahl von Todesopfern unter den Geflüchteten, die über die sogenannte „Mittelmeer-Route“ versuchen nach Europa zu gelangen. Im Mittelmeer sind im Jahr 2018 bis Ende September fast 2000 Menschen gestorben (Missing Migrants 2018). Im Jahr 2017 waren es mehr als 5000, 2016 mehr als 3000 und 2015 fast 4000 Menschen (IOM 2016; IOM 2018), die während der Flucht im Mittelmeer umgekommen sind. Auf dem Bild treffen in grotesker Hinsicht zwei Formen äußerster physischer Auslastung aufeinander: einerseits die des Extremsports, andererseits die der extremen Gefahr. Beide sind jedoch vereint durch einen anscheinend identischen körperlichen Habitus. Genau diese täuschende äußerliche Übereinstimmung untermauert die beißende Ironie des Bildes. So ein Aufeinandertreffen von Gegensätzen macht zunehmend die Strände von Südeuropa aus und zwar auf eine Art und Weise, die immer frappierender Ähnlichkeiten mit den eng benachbarten Kontrasten des globalen Südens hat. Ein derartiges Aufeinanderprallen von Wohlstand und Misere zeichnet die seismischen Kontinentalrisse zwischen den Reichen und den Armen unserer Welt aus, die immer stärker die globale Politik bestimmen (Sassen 2014; Latour 2018).
Derartige Bilder sind seit der Veröffentlichung eines Fotos des spanischen Fotografen Javier Bauluz in den 1990er Jahren in Europa nicht mehr unbekannt. Auf dem Foto sitzen zwei Touristen zurückgelehnt unter einem Sonnenschirm am Strand von Zahara de los Atunes und schauen – anscheinend unberührt und sorglos – auf die bereits in der Sonne aufgeblähte Leiche eines Geflüchteten am Strandufer (Hulme 2005: 44). Das Streetart-Stencil, das wir für den Umschlag des vorliegenden Bandes ausgewählt haben, funktioniert anders. Auch wenn der Ort der Kunstaktion ähnlich nah an der Mittelmeerküste liegt, findet die dort abgebildete Konfrontation nicht in einem primär räumlich bestimmten Rahmen statt, sondern entscheidend ist hier die Dimension der Zeit. Die durch die Spray-Technik leicht entfremdeten Jungen deuten stellvertretend auf die zwei Sozialblöcke des Globalen Nordens und Südens. Wichtig ist hier jedoch, dass sie die Jugend darstellen und somit die Zukunft des Planeten. Deren Treffen findet in der Migration statt, einem der kontroversesten Themen der heutigen Politik und einem der zentralen Brennpunkte der zukünftigen Politik: Nach einer weitgehend stabil bleibenden Zahl von Menschen auf der Flucht in den Jahren zwischen 2000 und 2010 wurden es ab dem Jahr 2011 stetig mehr. Im Jahr 2011 waren 42,5 Millionen Menschen auf der Flucht, 2012 waren es bereits 35,8 Millionen, 2013 51,2 Millionen, 2014 59,5 Millionen, 2015 65,3 Millionen, 2016 65,6 Millionen und 2017 gipfelte die Zahl bei 68,5 Millionen (UNCHR 2011; 2012; 2013; 2014; 2015; 2016; 2017). Angesichts der besorgniserregenden Stoßrichtung der aktuellen Weltpolitik, um nicht von den noch erschreckenderen Entwicklungen im Klimawandel zu sprechen, ist es unwahrscheinlich, dass die Zahlen in den kommenden Jahren zurückgehen werden. Der globale Klimawandel, der ebenso stetig zunimmt (WMO 2018; IPCC 2018), und die daraus resultierende Konflikte können zu einem weiteren Anstieg der Zahlen führen, die das gegenwärtige Niveau im Jahr 2050 um das Dreifache übersteigen werden (Rigaud et al. 2018). Ende des Jahrhunderts werden die steigenden Meerespegel 25 Prozent der von Menschen bewohnten Teile der Erdoberfläche überschwemmt haben (Nealon 2016: 121). Die Zukunft ist die Migration und die Migrant*innen werden jung sein (vgl. Smith 2019). Einer der wichtigsten Orte, an denen in Zukunft Menschen zusammenkommen werden, werden nicht nur die Strände Südeuropas, sondern auch die Schulen Nordeuropas sein, wo sich künftig Einheimische und Neuankömmlinge die Schulbank noch stärker als bislang teilen werden.
Die Ängste und Vorbehalte, die im Zuge von solchen Zusammenkünften im Bildungswesen aufkommen, sind die Auslöser für den vorliegenden Sammelband. Der Band basiert auf der Wahrnehmung, dass die Lehramtsstudierenden der Universität Tübingen im Hinblick auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“ 2015 ihrem künftigen Berufsfeld mit großer Sorge entgegensehen. In dem Jahr der Massenmigration nach Europa blickten die europäischen Regierungen gemeinsam panisch in die Zukunft des Kontinents, wenn nicht gar des Planeten (Alexander 2017). Die Welle der Geflüchteten, die im Sommer 2015 Nordeuropa erreichte, wurde als überwältigender Ansturm erlebt, wobei die Anzahl der eingereichten Asylanträge weit unter einer Million blieb, wie sich später herausstellte. Nicht nur war diese Zahl relativ gering im Vergleich zu dem, was ärmere Nationen des globalen Südens regelmäßig bewältigen müssen, vielmehr war die vermeintliche „Flüchtlingskrise“ gar keine Krise, sondern der Normalfall – wovon sich die reichen europäischen Länder bislang abschirmen konnten. Klar wurde vor allem, dass die europäischen Regierungen auf die Ereignisse völlig unvorbereitet waren, nicht, weil sie die dafür nötigen Ressourcen nicht aufbringen konnten, sondern weil sie die Realität der globalen Migrationsströme ausblenden und vor allem behaupten, diese gehe sie nichts an. Ganz im Gegenteil: Fakt ist, dass die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 – auch wenn die Zahlen dank massiver Grenzsicherungen und Abschottungsstrategien auf Kosten von Tausenden im Mittelmeer ertrunkenen