Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.europäischen Regierungen kaum imstande, eine pragmatische Bewertung der Gesamtlage durchzuführen und somit eine realistische und konkrete Politik für die kommenden Jahrzehnte zu entwerfen.
Vor allem spaltete die „Flüchtlingskrise“ die deutsche Gesellschaft zwischen vermeintlich naiven „Gutmenschen“ und Anhängern verschiedener rechtsgerichteter Gruppierungen (u. a. Pegida und AfD), wovon viele zu den innerdeutschen Verlierern der neoliberalen Globalisierung und der zunehmend größer werdenden Kluft zwischen Armen und Reichen gehören. Die bereits tiefen Risse der deutschen Gesellschaft wurden schlagartig sichtbar (Hagelüken 2017). Grundlegende Fragen der nationalen Identität und der Ressourcenverteilung werden auf zunehmend aggressive Art und Weise debattiert. Sollte der Begriff der „Flüchtlingskrise“ überhaupt einen Sinn haben, dann bezieht er sich nicht auf die Geflüchteten – die ohnehin die zukünftige Normalität darstellen –, sondern auf die deutsche Gesellschaft selbst, die sich gezwungen sah, sich öffentlich im Rahmen der globalen Grenzregime zu positionieren und zu entscheiden, inwiefern sie sich tatsächlich an die öffentlich propagierten Glaubensbekenntnisse von Offenheit und Menschenrechten hält.
Ein unerwarteter, wenn auch ironischer Vorteil des kollektiven Schocks von 2015 war, dass die Gesellschaft plötzlich wahrnahm, wie unvorbereitet sie auf solche Vorkommnisse war und im Zuge dessen sehen konnte, wo die schwere Arbeit fortan geleistet werden muss. Angesichts des Ausmaßes der Migrationswellen, die im Zuge des Klimawandels auf alle Nationen der Welt – wenn auch in unterschiedlichem Maße – zukommen, wird zunehmend sichtbar, wie wenig sich die politische Elite Deutschlands überhaupt auf die künftigen Herausforderungen eingestellt hat. Ein Beispiel dafür: Mitte Februar 2019 prognostizierte ein Bericht der wirtschaftsnahen Bertelsmann-Stiftung einen künftigen Bedarf an ca. 250.000 Fachkräften pro Jahr, der nur über Zuwanderung abzudecken sei, wobei die Hälfte davon aus Nicht-EU-Staaten stammen werde (Kubis / Fuchs / Schneider 2019). In derselben Woche beschloss die CDU-Führung die Möglichkeit der Grenzschließung, um künftig ungewollte Einwanderung, sprich eine erneute Flüchtlingswelle wie 2015, zu verhindern (Zamperoni 2019). Obwohl eine Vielzahl an einfallsreichen Behilfsstrategien es bereits ermöglicht haben, knapp die Hälfte der seit 2015 angekommenen Geflüchteten in Beschäftigungsverhältnisse zu bringen (Gensing 2018), fehlten derartige kreative Lösungsansätze zu den zwei anscheinend unterschiedlichen Problemen gänzlich in den CDU-Beratungen über die Einwanderungs- bzw. Asylpolitik. Gegenwärtig sind kaum kreative Visionen oder tragfähige Entwürfe für solchen Szenarien unter der aktuellen politischen Elite zu finden. Es fehlen „neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“ (Terkessidis 2016). „‚Das Deutsche‘ ist immer noch eine Leerstelle, es fehlt immer noch an Elementarem – an neuen Begriffen, Konzepten und Geschichten“ (Plamper 2019: 10). Die häufigste politische Devise lautet stattdessen: Weiter so, es soll sich nichts ändern (vgl. z. B. Meaney 2017). Innovative Ideen dazu, wie die jetzige Situation Grundlagen für eine tragfähige Zukunftsstrategie zugunsten aller im Land lebenden Menschen liefern könnte, stehen weitgehend noch aus.
Diese traurige Bilanz gilt insbesondere für das Bildungssystem, der Schmiede der künftigen Generation schlechthin. Die Schule ist der Ort, wo die Menschen ausgebildet werden, die einerseits die Folgen der jahrzehntelangen Versäumnisse der bisherigen Politik werden ausbaden müssen und die andererseits auch diejenigen sind, die in nicht allzu ferner Zukunft neue Lösungen für diese Versäumnisse finden bzw. umsetzen müssen.
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 hat gezeigt, zu welch geringem Ausmaß das deutsche Bildungssystem, von der Kita bis hin zur Universität, trotz der unabdingbaren Notwendigkeit angesichts erhöhter Migrationszahlen auf einen Zuwachs von Schüler*innen und Studierenden aus ganz verschiedenen Kulturkreisen vorbereitet ist. Die Lehrerbildung quer durch die Bundesländer deckt nur bedingt den Bedarf an Aus- bzw. Fortbildungen im Bereich der interkulturellen Erziehung, Bildung oder Sprachbildung ab. Wenige Komponenten des Lehrerbildungsangebots ermöglichen einen Kompetenzerwerb in den Bereichen der interkulturellen Kommunikation, Mehrsprachigkeit, kulturellen bzw. sprachlichen Vielfalt, sprachlichen Inklusion usw. (Morris-Lange / Wagner / Altinay 2016). Lehramtskandidat*innen sind sich aufgrund ihrer Erfahrung aus Praktika und Praxisseminaren jedoch durchaus bewusst, welch kulturell und sprachlich sehr gemischten Klassengruppen sie in der Schule erwarten und stehen der Ausbildung, die ihnen von den Hochschulen angeboten wird, dementsprechend kritisch gegenüber. Sie sehen auch, mit welchen ad hoc-Lösungen Lehrer*innen – oft nur mit minimaler und unzureichender Unterstützung von staatlichen Instanzen – auskommen müssen, um unter den gegenwärtigen Bedingungen geeignetes Unterrichtsmaterial zusammenzustellen, eigene Unterrichtsstrategien zu entwickeln oder überhaupt den erhöhten Bedarf an DaF-Kursen abzudecken.
Schulen und andere Bildungsanstalten sind jedoch zentrale Orte, wo die Migration als wichtiger Einflussfaktor für die fortschreitende Veränderung der Gesellschaft beobachtet werden kann. Noch mehr: die Schule ist der Ort, wo die Chance, aktiv in sozialen Transformationensprozesse einzugreifen, direkt ergriffen werden kann. Die Schule und deren Klassenzimmer spiegeln soziale Konflikte wider, aber sie bilden auch Freiräume, wo die sozialen Subjekte von morgen weitgehend geformt werden und wo der gesellschaftliche Habitus der Bürger*innen von übermorgen gebildet wird. Die Schule ist ein wichtiger Schmelztiegel der zukünftigen Gesellschaft und die Lehrenden sind wichtige Akteure in diesem Prozess der Zukunftsbildung. Die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte wird unter anderem in den Schulen stattfinden.
Mangels genuin kreativer und zukunftsträchtiger Antworten auf diese Herausforderungen seitens der politischen Elite der Bundesrepublik und der Verantwortlichen der Bildungspolitik des Landes, geschweige innerhalb der Strukturen der Lehrerbildung hat sich eine Gruppe von Lehrenden aus der „Initiative Globaler Süden“ an der Universität Tübingen als Aufgabe gesetzt, ein informelles Lehrangebot zusammenzustellen, um diese Lücken einigermaßen zu füllen oder zumindest ein Forum zu etablieren, wo solche brisante Themen diskutiert und die berechtigten Besorgnisse der Lehramtsstudierenden ernst genommen werden konnten. Dies geschah in der Form einer über drei Jahre (April 2016 bis Februar 2019) laufenden offenen Ringvorlesung, deren Ziel war, die Leerstellen in der Lehramtsausbildung vor allem im Bereich der interkulturellen Bildung durch Impulse von außen und mittels der Schaffung von Gesprächsräumen ansatzweise zu kompensieren.
Um einen Rahmen für lebendige Debatten zu schaffen und um Studierenden eine kreative Auseinandersetzung mit solchen Fragestellungen unter Berücksichtigung der zunehmenden Heterogenität der schulischen Kundschaft zu ermöglichen, wurde eine Reihe Referent*innen aus verschiedenen sozialen Bereichen, nicht nur im Bildungssektor, zu offenen Gesprächsrunden eingeladen. An der Ringvorlesung nahmen Vertreter*innen aus Politik, Bildung, Gesundheit, Wirtschaft und der sozialen Zivilgesellschaft teil, um diverse Fragen zur heutigen und künftigen Migrationsgesellschaft anzusprechen. Die Referent*innen waren Lehrende aus Schule und Universität, aber auch Praktiker aus den verschiedensten Bereichen der Öffentlichkeit. Die Zuhörer*innen kamen mehrheitlich aus den Lehramtsstudiengängen, vertreten wurden jedoch alle möglichen Fachrichtungen. Die große Spannbreite an Fächern spiegelt sich in der Verschiedenheit der hier gesammelten Vorträge wider.
Die Investition in Bildung ist eine Aufforderung, die parteiübergreifend formuliert wird. Man verspricht sich davon Wissen, Persönlichkeitsentwicklung und Wettbewerbsfähigkeit. Doch wie sieht es mit der Offenheit gegenüber dem vermeintlich Fremden aus? Welche Bildung erzieht zum Perspektivwechsel und zum gegenseitigen Respekt? Welche Bildung ermöglicht ein Weltbürger-Bewusstsein? Eine Antwort hierauf bietet das Konzept der interkulturellen Bildung, die sich als Vermittlerin zwischen den Kulturen versteht, die neue Kommunikationswege aufzeigt, Austauschbereitschaft fördert und eine Plattform zum Abbau von Missverständnissen bietet. Diese Imperative sind angesichts der Verunsicherungen der aktuellen globalen Flüchtlingspolitik notwendiger denn je – deshalb überrascht es, dass das Konzept und seine Anwendung vor allem im schulischen Kontext kaum erörtert wurde. Dabei ist eine Perspektive, die den Anderen nicht als Defizit, sondern als Potenzial betrachtet, eine gewinnbringende für jede gesellschaftliche Institution und Schicht. Genau das sollte die Vorlesungsreihe zeigen, indem sie einen Dialog mit Referenten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Verankerungen anstieß, der das Konzept der interkulturellen Bildung reflektierte und problematisierte und in dem alle Beteiligten die Chancen einer solchen interkulturellen Bildung zusammen eruieren konnten.
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