PLATON - Gesammelte Werke. Platon
Читать онлайн книгу.Es ist auch ganz wahrscheinlich, daß sich die Sache an sich so verhalte. Denn was sollte auch die Erkenntnis sein ohne Erklärung und richtige Vorstellung. Nur Eins will mir an dem Gesagten mißfallen.
Theaitetos: Was denn?
Sokrates: Gerade was das herrlichste zu sein scheint, daß nämlich die Urbestandteile unerkennbar wären, alle Arten von Verknüpfungen aber erkennbar.
Theaitetos: Ist dies nicht richtig?
Sokrates: Man muß zusehn. Haben wir doch zu Geiseln für diesen Satz die Beispiele, von denen offenbar, wer dieses alles sagte, ausgegangen ist.
Theaitetos: Was für welche?
Sokrates: Die Urbestandteile der Schrift und deren Verknüpfungen. Oder glaubst du, daß wer aufgestellt, wovon wir reden, auf etwas Anderes dabei gesehen hat als hierauf?
Theaitetos: Nein, sondern hierauf.
Sokrates: Prüfen wir es also noch einmal von vorn, oder vielmehr (203) uns selbst, ob wir so oder nicht so lesen gelernt haben. Wohlan zuerst, haben also die Silben eine Erklärung, die Buchstaben aber keine?
Theaitetos: Wahrscheinlich.
Sokrates: Vollkommen leuchtet es auch mir ein. Wenn zum Beispiel Jemand so nach der ersten Silbe von Sokrates fragte, O Theaitetos, sprich, was ist So? was wirst du antworten?
Theaitetos: Es ist S und O.
Sokrates: Hier hast du also die Erklärung der Silbe.
Theaitetos: So ist es.
Sokrates: So komm und sage eben so auch die Erklärung des S.
Theaitetos: Und wie sollte wohl Jemand die Bestandteile eines Bestandteils angeben können? Denn überdies ist das S ein stummer Buchstabe, nur ein Geräusch, als wenn Jemand mit der Zunge zischt. Das B aber hat gar weder ein Geräusch noch einen Laut, und eben so die meisten Buchstaben. So daß hiernach gar sehr gut gesagt ist, daß sie unerklärbar sind, da selbst die deutlichsten unter ihnen nur einen Laut haben, ganz und gar aber keine Erklärung.
Sokrates: Dieses, Freund, hätten wir also in Ordnung gebracht von der Erkenntnis.
Theaitetos: Wir scheinen ja.
Sokrates: Wie aber, daß der Bestandteil nicht erkennbar ist, wohl aber die Verknüpfung, haben wir denn das auch mit Recht angenommen?
Theaitetos: Mich dünkt es doch.
Sokrates: Gut denn. Wollen wir sagen, die Silbe sei die zwei Buchstaben, oder, wenn sie aus mehr als zweien besteht, die sämtlichen? oder sie sei ein Besonderes erst aus der Zusammensetzung von Jenen entstandenes?
Theaitetos: Sie sei die sämtlichen, dünkt mich, werden wir sagen.
Sokrates: So betrachte es einmal an jenen zweien, dem S und O. Beide machen die erste Silbe meines Namens. Wird nun nicht, wer diese Silbe kennt, auch jene beiden Buchstaben kennen?
Theaitetos: Wie anders?
Sokrates: Er kennt also das S und O?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Wie aber? Jeden von beiden erkennt er also nicht, und so, obschon er keinen von beiden erkennt, erkennt er doch beide?
Theaitetos: Das wäre ja toll und unvernünftig.
Sokrates: Allein wenn es notwendig ist, daß er jeden erkennt um beide zu erkennen: so muß ja notwendig die Buchstaben schon vorher erkennen, wer jemals die Silbe erkennen will, und so wird uns diese schöne Erklärung wieder entschlüpfen und verschwinden.
Theaitetos: Und das ja sehr schnell.
Sokrates: Wir bewachen sie eben nicht gut. Denn wir sollten vielleicht gesagt haben, die Silbe wäre nicht die gesamten Buchstaben, sondern eine aus jenen entstandene besondere Gattung, welche ihr eignes Wesen und Gestalt für sich hätte und verschieden wäre von den Buchstaben.
Theaitetos: Ganz gewiß, und es mag sich wohl eher so verhalten als anders.
Sokrates: Wir müssen zusehen, und nicht unmännlicher Weise einen so großen und herrlichen Satz verraten.
Theaitetos: Keinesweges.
Sokrates: Es sei also, wie wir jetzt sagen, die Verknüpfung (204) eine aus den jedesmal sich zusammenfügenden Bestandteilen entstehende eigne Gattung, auf gleiche Weise bei den Buchstaben, und auch sonst überall.
Theaitetos: Allerdings.
Sokrates: Also Teile darf es von ihr nicht geben?
Theaitetos: Wie so nicht?
Sokrates: Weil was Teile hat, dessen Ganzes ist auch notwendig die gesamten Teile. Oder sagst du, auch das Ganze sei ein aus den Teilen entstandenes eignes von den gesamten Teilen verschiedenes?
Theaitetos: Das will ich.
Sokrates: Ein Gesamtes aber und ein Ganzes, verstehst du darunter dasselbe, oder unter jedem etwas anderes?
Theaitetos: Dessen bin ich nicht gewiß. Weil du aber immer befiehlst herzhaft zu antworten: so will ich es wagen und sagen, etwas anderes unter jedem.
Sokrates: Die Herzhaftigkeit, o Theaitetos, ist gut, ob aber auch die Antwort, das müssen wir sehen.
Theaitetos: Das müssen wir allerdings.
Sokrates: So wäre also der jetzigen Erklärung zufolge das Ganze verschieden von dem Gesamten.
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Wie aber die sämtlichen und das Gesamte, ist dies auch verschieden? Wie wenn wir sagen Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs, und wenn zweimal drei oder dreimal zwei, oder Drei und Zwei und Eins, sagen wir in allen diesen Fällen dasselbige oder in jedem etwas anderes?
Theaitetos: Dasselbe.
Sokrates: Etwas anderes als Sechs?
Theaitetos: Nichts anderes.
Sokrates: In allen diesen Formeln also haben wir ein Gesamtes die Sechs gefunden?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Und wiederum, meinen wir nichts, wenn wir sagen die sämtlichen?
Theaitetos: Notwendig doch etwas.
Sokrates: Etwas anderes etwa als Sechs?
Theaitetos: Nichts anderes.
Sokrates: In allem also was aus Zahlen besteht nennen wir dasselbe das Gesamte und die sämtlichen.
Theaitetos: So scheint es.
Sokrates: Nun laß uns weiter dieses davon sagen. Die Zahl eines Acker Landes und der Acker ist einerlei?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Und mit dem Stadion eben so?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Und eben so wohl auch die Zahl eines Heeres und das Heer? und mit allen ähnlichen Dingen auf gleiche Art. Denn ihre gesamte Zahl ist auch das gesamte Sein eines jeden von ihnen.