Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer

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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer


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von »kakophonischem Schreiben« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 101–104).

      Gaston de Pawlowski (1874–1933) hebt in seiner Rezension vom 11. Januar 1914 für die Zeitschrift Comædia, S. 3, wohl erstmalig in dieser Deutlichkeit die psychologische Durchdringungskraft Prousts hervor, dessen Analysen er geradezu als Neuland empfindet: »Wir haben uns weit von der bruchstückhaften, lediglich beschreibenden Psychologie der Romanciers entfernt, die wir in unserer Jugend genossen haben. […] Dies ist Psychologie, die dem Studium von Bakterien unter dem Mikroskop vergleichbar ist; dies ist nicht die Psychologisiererei eines Salonhelden mit Hilfe eines bloßen Monokels. […] Nachdem ich dies gesagt habe, habe ich jedoch auch den Eindruck, dass das psychologische Vorgehen des Autors in bedenklicher Weise durch die Theorien Bergsons inspiriert wurde […]« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 108 f.). Gegen diesen Brückenschlag zu Bergson verwahrt sich Proust energisch in einer umgehenden Antwort an Pawlowski (Datierung 11. 1. 1914 unsicher): »Nicht im Traum habe ich daran gedacht, die Philosophie Bergsons zu ›illustrieren‹. Ich habe den Namen Bergson nur einmal ausgesprochen, und dies, um zu sagen, dass es nichts ›Bergsonisches‹ an einem solchen Buch gibt [in dem Interview mit Bois, s. oben]. Doch von dem Augenblick an wurde ich unaufhörlich entweder beglückwünscht oder gescholten, der Autor eines ›bergsonischen‹ Romans zu sein.« Übrigens findet sich in diesem Brief auch eine Bemerkung, die so manchen Kenner der Suche verblüffen dürfte: »Die Fotografie ist jene Kunst, die ich am heftigsten verabscheue« (Corr. XIII, S. 54 f.).

      In der letzten publikationsnahen Rezension, die ich hier erwähnen möchte, rückt der Maler und Kunstkritiker Jacques-Émile Blanche am 15. April 1914 im Écho de Paris, S. 1, Prousts Stilkritikern den Kopf zurecht: »[Prousts] Mut wird in den Verbindungen und den Verzierungen nicht enden wollender Satzgefüge deutlich, die dennoch klar sind, bildhaft und, wenn sie nicht dabei verweilen, zu viele Girlanden einzuweben, fest gefügt, konturiert, geschmeidig und bedeutungsgeladen sind.« Blanche hebt die amüsanten Seiten an Proust hervor, die bislang bestenfalls in Nebensätzen zu ihrem Recht kamen: »Zu seinen Fähigkeiten als Irrenarzt und Psychologe fügt er dieses seltene Gewürz feiner Ironie hinzu, das unbarmherzig wäre, wenn es nicht durch Sympathie gemildert würde. Er ist geistvoll und profund.« Blanche schließt mit dem Satz: »Es [dieses Buch] ist fast zu grell für Augen, die halb blind sind selbst bei vollem Tageslicht.«

      Mädchenblüte (erschienen 20. 6. 1919) Der Prix Goncourt wird seit 1903 im Herbst für das beste erzählerische Werk französischer Sprache vergeben, das im vorangegangenen Jahr publiziert wurde. Er verschaffte sich trotz seiner intellektualistischen Tendenzen im Handumdrehen ein außerordentliches Renommee beim Publikum wie auch bei den Autoren. Als Gallimard 1913 Swann für den Prix Goncourt vorschlug, war dies bereits ein Griff nach den Sternen – ein berechtigter, aber etwas verfrühter Vorstoß, denn Proust erhielt am Ende nicht eine der zehn Stimmen des Preisgremiums. Aber auch Alain-Fourniers erfolgreicher Roman Le Grand Meaulnes (dt. Der große Kamerad, 1930) wurde nach immerhin elf Abstimmungsrunden für nicht preiswürdig erachtet; ausgezeichnet wurde vielmehr Marc Elders Le Peuple de la mer (nicht übersetzt), ein Roman, der vom Überlebenskampf der Fischer auf der Insel Noirmoutier erzählt. Beim Erscheinen von Mädchenblüte dagegen war der Boden gründlicher vorbereitet: am 10. Dezember 1919 wurde ihm der mit 5000 F (etwa 3900 €) dotierte Preis verliehen; sechs der Jury-Mitglieder hatten für Proust gestimmt, die restlichen vier dagegen für Roland Dorgelès’ Kriegsroman Les Croix de bois (dt. Die hölzernen Kreuze, 1930), den immerhin Tucholsky als ein Meisterwerk apostrophierte.

      Allerdings war die Kritik in dieser Zeit, zu der das Kriegsende erst ein Jahr zurücklag, von der Entscheidung der Jury nicht einhellig überzeugt, wenn auch nicht unbedingt aus literarischen Gründen. Am prägnantesten kommt dieses zeitpolitisch motivierte Missfallen in Jean de Pierrefeus Rezension für das Journal des débats vom 12. Dezember 1919 zum Ausdruck, in der er bemängelt, dass Proust schon zu arriviert sei, um der Unterstützung des Prix Goncourt zu bedürfen, ferner zu alt (»Talent von jenseits des Grabes, nicht ohne Charme«), zu pazifistisch, und vor allem zu antiquiert: »Diese Sammlung von Erörterungen […] werden jene kränklichen Seelen genießen, die sich der Realität nicht stellen können und sich in Träumereien verlieren. Sie hat wenig mit den Neigungen einer jungen Generation zu tun, die die Schönheit des Kampfes feiert und die Tugenden des Lichts; sie steht nicht im Einklang mit der Erneuerung des klassischen Geistes, den die Partei der Intelligenz zum einzigen erklärt, der mit der Größe unserer siegreichen Nation vereinbar ist.« Mit einer hübschen Wendung richtet sich Jacques Rivière in der Nouvelle Revue Française gegen die Oberflächlichkeit des Alters-Arguments, das in der Tagespresse wiederholt angeführt wurde: »Sollten wir der Académie Goncourt nicht dankbar sein, dass sie nicht den Jüngsten, sondern den Verjüngendsten […] gekrönt hat?«

      Neben diesen neuen, wenn auch entlegenen Stellungnahmen ist auch wieder das Klagelied zu vernehmen, das schon im Zusammenhang mit Swann angestimmt wurde. »Ein Buch, das zu lang ist, offenbart«, nach Meinung von Rachilde (d. i. Marguerite Eymery, 1860–1953) im Mercure de France vom 1. Januar 1920, »immer einen Mangel an Höflichkeit«, und Jean Pellerin befürchtet in seinem Artikel für die Zeitschrift La Lanterne vom 11. Dezember 1919, dass »das große Publikum verzagen wird, wenn es sich diesem undurchdringlichen Gewebe von Subtilitäten gegenübersieht«, dass es »nicht zum ersten Mal über die ›Literatur‹ hohnlachen und sich einfach wieder seinem Fantomas zuwenden wird«. Ganz anders dagegen J. A. G. Binet-Valmers Zukunftserwartungen am 5. Oktober 1919 in Comœdia: »Wenn wir seinen Charakter erst einmal nach noch weiteren Bänden vollständig kennengelernt haben werden, werden wir vermutlich über Marcel Proust sagen: ›Vor dem Krieg gab es in Paris eine sensible Zivilisation; sie war eingeschlossen in einen Kranken, der lächerliche Beobachtungen machte, während er mit Freunden Tee trank, während er in den Alleen spazieren ging, während er versuchte, sich in erblühende junge Mädchen zu verlieben. Und er war ein Poet, ein Poet voller Traurigkeit …‹«

      Erfreulicherweise waren überhaupt die Stimmen, die Prousts neues Werk enthusiastisch begrüßten, in der Überzahl und auch von größerem Gewicht. Léon Daudet (ältester Sohn von Alphonse Daudet), der im Goncourt-Gremium für Proust stimmte, hebt in einem Beitrag für die Action française vom 12. Dezember 1919 den bislang übersehenen Aspekt des genialen Humors hervor, der Prousts Skizzen von Personen und Alltagssituationen kennzeichnet; besonders das Diner mit Monsieur de Norpois zu Anfang von Mädchenblüte hat es ihm angetan: »Denken Sie an ein Fresko, dessen allgemeine Wirkung man aus der Entfernung bewundern kann und das einen aus der Nähe durch seine Details entzückt. Die präzisen Beschreibungen, die Proust von einer häuslichen Szene, jemandes Kleidung oder Gesicht liefert, bilden letztlich moralische Züge oder geistige Merkmale in einer überraschend überzeugenden Weise ab.« Auch Jacques Rivière begrüßt am 11. Dezember 1919 in der Zeitung Excelsior aus vollem Herzen die Goncourt-Entscheidung und ist gleichermaßen von Prousts geradezu »anatomischer« Analyse noch des feinsten psychologischen Details begeistert, denkt dabei jedoch in erster Linie an die kleine Mädchenbande: »Seit langem – womöglich seit Stendhal – hat sich niemand in Frankreich – dem einzigen Land, in dem man eine solche Person treffen könnte – mit einer solchen Sorgfalt mit der Liebe befasst, d. h. der einzigen Angelegenheit auf der Welt, auf die es wirklich ankommt. Und seine Frauen-Porträts!« Abel Hermant hatte zu diesem Aspekt bereits am 24. August 1919 im Figaro geschrieben: »Er hat die wahrsten Seiten aller Literatur über die Liebe in den unsicheren und unbeständigen Jahren der Reifung geschrieben.« Anders als Hermant jedoch, der in Proust einen unsteten Charakter am Werk sieht, mit »Launen wie Madame de Sévigné und dem grausamen Talent eines La Bruyère für Porträts«, sieht Rivière hinter dem Werk einen »zutiefst unromantischen« Autor, dessen »Mangel an intellektueller Bequemlichkeit eines Naturwissenschaftlers würdig wäre«.

      Nachdem sich die Wogen ein wenig geglättet hatten, fasste Albert Thibaudet in einem Artikel für den London Mercury im Mai 1920 den Stand der Diskussion zusammen und verglich wie viele vor ihm Proust mit Stendhal: »Proust hat ein Bild der Welt gemalt als ein Mann, der die Welt mit der gleichen aufrichtigen Herzlichkeit liebt wie die Goncourts die Literatur oder wie ein Militarist die Armee. […] Seine Porträts […], darunter der erstaunliche Legrandin, ein Charakter wie von Dickens, erwecken den Eindruck von Unmittelbarkeit und bewegen den Leser mit einer lebensvollen Körperlichkeit, wie wir sie seit der Chartreuse de Parme nicht mehr gewohnt waren.« Interessant


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