Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer

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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer


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»Die Komplexität unserer Gefühle, die Fähigkeit, verschiedene Dinge zugleich über etwas oder jemanden zu empfinden, kann nur die Novelle einfangen, und in dieser Hinsicht genießt Proust einen gewaltigen Vorsprung« (S. 39). J. Middleton Murry beweist in seinem Beitrag Proust and the Modern Consciousness sein tiefgehendes Verständnis von Prousts Werk, wenn er – noch Jahre vor dem Erscheinen der Bände 5 bis 7 – schreibt: »wir haben den Verdacht, dass uns die letzte Seite des letzten Bandes zurückgeführt hätte zur ersten Seite des ersten Bandes, und dass sich die lange und gewundene Erzählung am Ende als die Geschichte ihrer eigenen Erfindung herausgestellt hätte« (S. 108). Als Grund für diese Selbstzentriertheit des Werkes sieht er die Selbstzen­triertheit des Autors, dem das Schreiben nicht das Beschreiben von etwas ist, sondern eine Suche nach dem Urgrund seiner eigenen Persönlichkeit. Die Feder war für ihn »die Lanze, mit der er dem Heiligen Gral nachjagte – ›la vraie vie‹« (S. 109).

      Wie die Skizze der zeitgenössischen Kritik verdeutlicht hat, waren vor allem zwei Porträts des Autors gezeichnet worden: das des »wissenschaftlichen« Beobachters und das des einfühlsamen Psychologen17. Ernst Robert Curtius weist dagegen in seinem Beitrag für die Hommage auf das Zusammenspiel von »frischester, spontanster Sensibilität« und »kulturbefrachtetster Intelligenz (Ruskin, Saint-Simon)« hin, »aus dem die Kunst Prousts ihre neue und bewegende Schönheit bezieht« (S. 284). In seiner umfangreichen Studie18 von 1925, die mehrere kleinere vorangegangene Aufsätze zusammenfasst, nimmt er diese Beobachtung einer Durchdringung von »Intellektualismus und Impressionismus« (S. 312) in Prousts Werk wieder auf und verdeutlicht durch beispielhafte Stilanalysen, wie sich physische Wahrnehmung und psychische Wahrnehmung in Prousts Situations- und Erlebnisbeschreibungen untrennbar zu einem neuen Ganzen verbinden und erst damit dem Leser die »wahre« Wahrnehmung vermitteln. In dieser ganzheitlichen Beschreibungsweise spielen Metaphern eine unverzichtbare Rolle, da sie einerseits bei der Beobachtung ein Hinausgehen über die Grenzen der deskriptiven Sprache ermöglichen, ihre präzisierende Leistung jedoch nicht erbringen können ohne die Fähigkeit oder Bereitschaft des Lesers, assoziative Verbindungen zwischen der gegebenen Situation und dem wörtlichen Sinn der Metapher herzustellen, wie etwa bei der Beschreibung der Fliederblüte (WS, S. 190) in aquatischen Begriffen (»Bläschen«, »vergossen«, »Gischt«, »Schaum«). Die stillschweigende Voraussetzung des Autors beim Gebrauch von Metaphern, dass der Leser bereit und in der Lage sein wird, die ihm zugemutete assoziative Leistung tatsächlich zu erbringen, trägt im übrigen erheblich zur Bindung zwischen Autor und Leser bei: »One is exhausted and angry after an hour, submerged, dominated by the crest and break of metaphor after metaphor: but never stupified«, stellte Beckett 1931 zu Prousts Stil fest.19

      In seinem Aufsatz Note sur Marcel Proust et John Ruskin von 1924 weist Guy de Pourtalès20 darauf hin, dass Proust von Ruskin nicht nur Kulturfracht geerbt hat, sondern vor allem einen Darstellungsmodus, der sich in reichem Umfang assoziationsgeladener Erinnerungsbilder bedient – die jedoch bei Ruskin sich selbst genügen, während sie für Proust als Bausteine für seine Rekonstruktion des Vorgangs des Erinnerns dienen: »Ruskin war für Proust die Offenbarung, die ihm ermöglichte, sich selbst zu entdecken« (S. 223).

      Mit dem Erscheinen der Prisonnière 1923 schlug die herrschende Meinung über Proust als einen detailversessenen, aber objektiven Autor, »der dem staatlichen Register von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen Konkurrenz machen möchte«, um in die Sicht von einem höchst subjektiven Werk mit einem egozentrischen »Marcel, der resolut die Bühnenmitte für sich in Anspruch nimmt«.21 Paul Souday schreibt in Le Temps vom 21. Februar 1923 über La Prisonnière: »Man kann wohl sagen, dass Proust die Philosophie des Individuellen und des Besonderen an ihre äußersten Grenzen geführt hat.« Etwas bodennäher sieht Fernand Vandérem die Prisonnière in der Revue de France vom 1. April 1924: »Wir haben es mit Satire zu tun, also einer der kraftvollsten und höchsten Formen der literarischen Kunst« (S. 83).

      Die Entdeckung Freuds für die französische Öffentlichkeit drängte der Proust-Kritik die Frage auf, inwieweit die erstaunliche Überlappung der grundlegenden Konzepte in den Werken beider Autoren – Unbewusstes, Traum, Erinnerung, Verdrängung – auf eine eventuelle Kenntnis des Freudschen Ansatzes bei Proust zurückzuführen sei; eine in diese Richtung gehende Vermutung, die Allard in seiner Rezension von Guermantes II, suivi de Sodome et Gomorrhe II in der Nouvelle Revue Française vom 1. September 1921 angedeutet hatte, indem er Proust einer Schule zurechnete, die im Gefolge Freuds den Traum als Ausdruck verdrängter Wünsche interpretiert, wies Proust jedoch umgehend in einem Brief an Allard zurück: »Wenn ich den Satz über Freud nicht verstanden habe, dann deshalb, weil ich seine Bücher nicht kenne; man könnte ihm [dem Satz] eine unfreundliche Absicht unterstellen, wenn er nicht von Ihnen stammen würde« (Corr. XX, S. 447; Zitat gerafft). Die spätere Kritik bemüht sich dann auch eher, die konzeptuellen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und die Suche im Licht der neuen psychoanalytischen Erkenntnisse zu lesen, wie René Rousseau in seinem Artikel »Marcel Proust et l’esthétique de l’in­conscient«, der am 15. Januar 1922 im Mercure de France erschien und in dem der Autor darauf hinweist, wie sehr Prousts Stil sich »an der rudimentären Logik des Traums orientiert« (S. 378), oder Jacques Rivière in seiner Vortragsreihe »Marcel Proust. L’Incon­scient dans son œuvre«22 von 1924, der die Wirkung der Sätze Prousts auf den Leser mit der Wirkung der Sonate Vinteuils auf Swann vergleicht: »Es ist Prousts besonderes Verdienst, wie in Swanns Augen das von Vinteuil, ›einige der Millionen Tasten der Zärtlichkeit, der Leidenschaft, des Mutes, der Heiterkeit‹ angeschlagen zu haben, […] die die ›unbekannte Klaviatur‹ unseres Unbewussten ausmachen« (S. 48; Zitate aus WS, S. 480).

      Die psychoanalytische Wende in der Proust-Interpretation hatte allerdings auch eine Nebenwirkung, die Proust sicherlich wenig amüsiert hätte, nämlich die Betrachtung des Autors statt des Werkes, ganz im Geiste Sainte-Beuves. Besonders nach dem Erscheinen der Prisonnière mit ihrer hochgradig subjektiven Perspektive bildete sich ein Verständnis heraus, das die Suche als den Ausdruck eines Versuchs zur Selbstanalyse des Autors las und damit als im wesentlichen für Dritte von minderem Interesse. Madeleine Clemenceau-Jacquemaire etwa schreibt am 16. März 1924 im Écho National zur Prisonnière, dass Prousts Werk kein Kunstwerk sei, sondern ein »persönliches Notizbuch«, dessen Nichtbeachtung zulässig sei; Pierre Loewel kommt in einem Beitrag über die Prisonnière für den Éclair vom 19. März 1924 zu dem Schluss, dass es nur eine einzige Figur in Prousts gesamtem Werk gebe: Marcel; und Norbert Guterman löst am 15. Mai 1924 in Philosophie das Rätsel, wer dieser Marcel denn nun sei: »Es gibt eine Person, die zunehmend tiefer und klarer erscheint, je weiter wir fortschreiten: diese ist Proust selbst – und gewiss ist dies der eigentliche Grund für diese ganze gigantische Romanfolge.« Amüsanterweise wurde bei allem psychoanalytischen Impetus eine eventuelle Homosexualität des Erzählers vom Publikum nicht etwa aus den zahlreichen Hinweisen im Text erschlossen, wie etwa der Onanie-Szene im Angesicht des Turms von Roussainville-le-Pin schon in Combray, sondern die des Autors (!) aus der Tatsache, dass in Guermantes eine unverheiratete Albert»ine« skandalfrei bei ihm (offenbar dem Autor!) wohnen kann – etwas scheinheilig fordert Mauriac (ebd.) eine Erklärung dafür.

      Das Erscheinen von Le Temps retrouvé 1927 belebte die Diskussion um Prousts Werk neu und gab ihr eine neue Richtung, denn nun wurde auch für das breitere Publikum das Ensemble der bekannten sechs Bände als Teil einer durchkomponierten Einheit erkennbar: die Frage des Lektors Jacques Normand vom Verlag Fasquelle, »Wohin soll das Ganze führen?«, fand nun nach fünfzehn Jahren ihre Antwort. Mit dem Vorliegen des Gesamtwerks entwickelte sich zugleich eine Diskussion um dessen literaturhistorische Einordnung. Ist Proust ein Rationalist, der die »lois profondes de la vie« zu erhellen sucht, wie Raphael Cor im Mercure de France vom 15. Januar 1928 behauptet, oder ein Mystizist auf der Suche nach der »essence des choses«, wie Ramon Fernandez in der Nouvelle Revue Française vom August 1928 überlegt? Doch schon in der Januar-Ausgabe 1928 der Zeitschrift Marsyas hatte Denis Saurat darauf hingewiesen, dass die Verflechtung beider Komponenten, der Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalität, gerade Prousts besondere Wahrnehmung der Wirklichkeit kennzeichne. Auch die alte Debatte um Subjektivität und Objektivität bei Proust flammte erneut auf, so betont Henri Daniel-Rops 1928 in seinem Beitrag »Notes sur le réalisme de Proust« für ein Symposium, das im Aprilheft von Le Rouge et le noir publiziert wurde, die »absoluteste Objektivität«, mit der Proust das Subjekt betrachtet, während Henri Massis 1930 in einer Serie


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