Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer

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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer


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ich einmal zu ihr sagte, dass Monsieur de Charlus zur Zeit ein recht lebhaftes Gefühl für eine bestimmte Person hege, sah ich mit Erstaunen, wie in die Augen der Prinzessin jener andere, flüchtige Zug trat, der sich wie ein Sprung durch die Pupillen zieht und von einem Gedanken ausgeht, den unsere Worte unbewusst in dem Menschen ausgelöst haben, mit dem wir sprechen, einem heimlichen Gedanken, der sich nicht in Worten Ausdruck verschaffen, jedoch aus den Tiefen, die wir aufgerührt haben, an die für einen Augenblick veränderte Oberfläche des Blickes aufsteigen wird. Doch wenn auch meine Worte die Prinzessin berührt hatten, so ahnte ich doch nicht, in welcher Weise. [SG, S. 163.]

      Das ganze Buch steckt in diesem Auszug.« Gerade aber diese Wahrnehmung in allen Details führt dazu, dass insbesondere Personen bei verschiedenen Gelegenheiten kaum mehr wiedererkennbar sind, da diese allerfeinsten Details einem, für Proust offenbar bewusst, für alle anderen zumindest unbewusst, bemerkbaren Wandel unterliegen: »Die menschliche Persönlichkeit teilt sich zwei- und dreifach, in eine unendliche Anzahl sukzessiver Wesen. Unser gestriges Ich ist heute ein Fremder für uns.« Man muss hinzufügen: nicht weniger das gestrige Du, wie die »zweifache« Gilberte und die »unzählbare« (innombrable) Albertine mit ihrem wandernden Schönheitsfleck schon in SJM (S. 192 bzw. 570) demonstrierten; s. dazu ausführlicher unten, S. 117. Die psychologische Lesart, die Bidou vorschlägt, führt ihn zu dem Fazit, dass »die inneren Dramen der Stoff dieses Buches sind. Äußere Anlässe wie ein gesellschaftlicher Empfang oder eine Reise ans Meer sind von geringem Gewicht«, und entzieht so der im Grunde genommen schon damals überholten, aber noch immer vorherrschenden Lesart der Suche als ›Chronik der Belle Époque‹ den Boden.

      Am gleichen Tag, dem 1. Juni 1922, veröffentlicht Roger Allard in der Nouvelle Revue Française einen Beitrag, in dem er in etwa die gleiche psychologische Lesart wie Bidou vorschlägt, sie aber zudem einbettet in die bestimmende geistige Strömung seiner Zeit. Als Beispiel betrachtet er Marcels Eifersucht auf Albertine: »Solange er sich Albertines Verhaltens nicht sicher ist, sehen wir den Erzähler als Opfer von Lustlosigkeit und Widerwillen: erst in dem Augenblick, in dem Zweifel für ihn nicht mehr möglich ist, weil tausend winzige Tatsachen zusammenkommen, und so viele Wege, die zuvor verfolgt und aufgegeben wurden, in denselben hell leuchtenden und schmerzhaften Punkt einmünden, findet er gerade in der Gewissheit, dass sein Verdacht berechtigt war, die Entschlusskraft, seine Geliebte heiraten zu wollen.« Er zieht daraus das Fazit: »Solche Analysen gehen weit über die Grenzen psychologischer Erzählliteratur hinaus. Sie hinterlassen in uns einen ganzen Bodensatz von Ängsten und Reue. […] Das Wort ›Relativität‹ drängt sich jedem auf, der über die Bedeutung dieser psychologischen Entdeckung nachsinnt«, und fährt fort: »Kann man sagen, dass Proust die Psychologie in ähnlicher Weise umgekrempelt hat wie Einstein die Physik? […] Wenn die Vorstellung von moralischer Relativität aus einem psychologischen Werk der Vorstellung abgeleitet werden kann, dann ganz gewiss aus Prousts, in dem Gesichtspunkte ad infinitum vervielfältigt werden.«

      Welche Rolle Prousts Werk zur Zeit des Erscheinens von Sodom II im öffentlichen Diskurs bereits spielte, geht aus einer Anekdote hervor, die Fernand Vandérem wiedergibt, um ebendies zu demonstrieren: »Neulich befragte mich bei einem Diner eine Dame über den Status der Personen, die einen bestimmten Pariser Salon frequentierten. Da ich mich offenbar ziemlich vage ausdrückte, sagte sie schließlich mit einem Lächeln: ›Nun, würden Oriane und Basin dort verkehren?‹« (In: La Revue de France, 15. Juni 1922.)

      »Eine Literatur, die man lesen muss, wie man ein Gemälde von ­Manet betrachtet, mit halbgeschlossenen Augen«

       (Ortega y Gasset 1923, S. 294)

      Die Nachrufe auf Proust nach seinem Tod am 18. November 1922 gestatten es, ein erstes Fazit der Rezeption der Suche zu jener Zeit zu ziehen: es wird die großartige Leistung Prousts bei der psychologischen Analyse der Verhaltensweisen und der Sprache seiner Personen anerkannt, und es wird, offenbar mit Bedauern, festgestellt, dass es sich um keinen klassischen Roman handelt, ohne dass jedoch erklärt würde, worum dann.

      Eine ernsthafte Diskussion setzte erst mit der Hommage à Marcel Proust ein, die die Nouvelle Revue Française am 1. Januar 1923 publizierte, eine Sammlung von kurzen Aufsätzen stark schwankender Qualität, von Erinnerungen an die Person bis hin zu Analysen verschiedener Aspekte des Werks, die teils den Ausgangspunkt zu späteren, vertiefenden Untersuchungen lieferten. So betrachtet Henri Duvernois die Suche unter dem Aspekt einer Gesellschafts-Chronologie, Thibaudet untersucht die Wurzeln des Werks in der französischen Literaturgeschichte, Maurois hebt den wissenschaftlichen Aspekt der psychologischen Erörterungen Prousts hervor, den Louis Martin-Chauffier in seinem Beitrag Marcel Proust analyste in ein subjektives Licht rückt: »Wie Proust selbst mir einmal sagte, ist sein Präzisionsinstrument nicht das Mikroskop, sondern das Teleskop. Nicht das unendlich Kleine interessiert ihn, sondern sich Entferntem anzunähern, das sich jenseits des Blickfeldes im Nebel verliert, und verschwommene und verworrene Tiefenebenen klar und deutlich in ihrer berichtigten Per­spektive erkennen zu können« (S. 165). Edmond Jaloux weist auf den relativierenden Grundzug in Prousts psychologischen Analysen hin (»Relativierung in das Konzept der Liebe einzuführen und es so von jenem Mythos des Absoluten zu befreien, von dem es bis dato abhing, wird man als eine der essentiellen Wahrheiten erkennen, zu denen Proust gelangt ist«, S. 142), während Ernst Robert Curtius auf das unauflösbare Miteinander von Gefühl und Intelligenz in diesen Erörterungen und auf die Unsezierbarkeit der Suche im allgemeinen aufmerksam macht. Eine besonders fruchtbare Betrachtung der Suche lieferte aber vor allem José Ortega y Gasset mit seinem Essay Le temps, le distance et la forme chez Proust (folgende Zitate nach Bd. 1 der deutschen Ortega-y-Gasset-Gesamtausgabe, 1978), in dem der Autor die Grundtendenz des Impressionismus, die »äußere Form der Realität zu verneinen und die innere Form, das heißt, die innere Vielfalt der Farben, wiederzugeben« in Zusammenhang mit der zeitgenössischen Philosophie – »Die Philosophen um 1890 behaupteten, die einzige Realität käme aus unseren sensorialen und emotionalen Zuständen« (S. 526) – wie auch der Psychologie stellt: »Der impressionistische Psychologe stellt das in Frage, was man den Charakter, das plastische Profil eines Menschen zu nennen pflegt, und sieht in ihm eine ständige Umstellung, eine ununterbrochene Folge verschwommener Zustände, eine sich unaufhörlich verändernde Verflechtung von Gefühlen, Gedanken, Farben und Hoffnungen« (S. 527). Hier drängt sich die Erinnerung an die »mois successifs«, die ›aufeinanderfolgenden Ichs‹, des Erzählers und an die »Albertine innombrable«, »insaisissable«, die ›unzählbare‹, die ›ungreifbare Albertine‹, auf. Der impressionistische Charakter von Prousts Werk kommt für Ortega besonders prägnant in der »Monographie« über eine Liebe von Swann zum Ausdruck, ein Fall »psychologischer Pointillierung, […] in der alles enthalten ist, […] Sinnlichkeit, […] Argwohn, […] Gewohnheit, […] Lebensüberdruss. Das einzige, was nicht darin gefunden wird, ist die Liebe«, die für einen »urwüchsigen« Autor wie den von Tristan und Isolde »eben Liebe ist und nichts anderes als Liebe« (S. 527). In diesem impressionistischen, auf die Wahrnehmung und nicht ein So-Sein der Dinge konzentrierten Aspekt sieht Ortega auch Prousts Neuentdeckung im Umgang mit der Erinnerung: »Nicht die Dinge, an die man sich erinnert, sondern die Erinnerung an die Dinge ist Prousts allgemeines Thema« (S. 523 f.).

      In England, wo Proust sofort nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Scott-Moncrieffs Übersetzung 1922 hingerissen gefeiert wurde, erschien 1923 eine Sammlung von Würdigungen unter dem Titel Marcel Proust – An English Tribute, unter anderem mit dem Beitrag A Prophet of Despair von Francis Birrell, der Prousts Wurzeln bei Stendhal und Rousseau sowie seine pessimistische Weltsicht in diesem »riesigen Epos der Eifersucht« (S. 23) verdeutlicht, aber auch darauf aufmerksam macht, dass dies »der erste Autor ist, der sexuelle Inversion als ein geläufiges und gewöhnliches Phänomen behandelt«, das er »weder im Ton einer abgeschmackten Eulogie beschreibt wie so manche dekadente Autoren, noch auch mit der Attitüde eines Schaustellers, der einem aufgeregten Touristen unauslotbare Abgründe des Horrors vor Augen führt« (S. 28). Ralph Wright dagegen verdeutlicht in seinem Beitrag A Sensitive Petronius die Funktion der minutiösen »Mikroskopie« in Prousts Personenbeschreibungen als die Grundlage für das merkwürdige Gefühl des Déjà vu, das einen bei der Lektüre der Suche so häufig beschleicht: »Er versucht mit allen Mitteln, einem seine Hauptcharaktere vertraut zu machen, aber nicht nur so,


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