Der Change-Code. Dieter Lederer
Читать онлайн книгу.unterscheiden sich nicht, wohl aber die intrinsische Motivation. War früher auf rationaler Ebene alles klar, so kommt heute die emotionale Bejahung des Abnehmens als die eigentliche Triebfeder hinzu.
Verändern fällt um ein Vielfaches leichter, wenn es mit positiven Gefühlen verknüpft ist.
Aus der Hirnforschung kennen wir die Hintergründe für diese Zusammenhänge: Lernen und damit auch Verändern fallen uns um ein Vielfaches leichter, wenn es um etwas geht, das uns wirklich wichtig und folglich mit positiven Gefühlen verknüpft ist (Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten, 2011). Bei Kindern werden regelrechte »Begeisterungsduschen« im Gehirn ausgelöst, wenn sie Schritt für Schritt erst ihren Köper erkunden und beherrschen lernen und dann ihre Umwelt. Bei Erwachsenen ist der Mechanismus immer noch genau derselbe, doch wir haben uns meist schon viel zu sehr daran gewöhnt, uns in »trockenen«, rationalen, nahezu emotionsfreien Kontexten zu bewegen. Dann sind Begeisterungsduschen die Ausnahme und entsprechend zäh werden viele Aufgaben und Projekte – bis hin zum Abarbeiten nur unter hohem Druck kurz vor der Deadline oder gar Verweigern, wie das Beispiel vom Abnehmen zeigt. Dazu kommt, dass unser Gehirn dafür prädestiniert ist, in Bildern und Geschichten zu denken. Zahlen, Daten, Fakten und strikt rationale Sachargumentation spielen eine untergeordnete Rolle. Konkrete bildhafte Vorstellungen regen eine Vielzahl unterschiedlicher neuronaler Netzwerke an und führen zu einer Verknüpfung mit Gefühlen und Ausschüttung neuroplastischer Botenstoffe, somit zu einem ganz anderen, intensiveren Einprägen und Erinnern. All das unterbleibt bei rein abstrakter Sachlogik, die deshalb meist den kürzesten Weg durch den Kopf nimmt: zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus.
Beim Unternehmenswandel ist es genauso: Ohne Begeisterung oder zumindest Vertrauen, ohne eine bildliche Vorstellung davon, wo die Reise hingeht, ohne bejahende Emotionen bewegen sich Menschen gar nicht oder nur bei großem extrinsischem Druck. Dann sind maximal freudlose Disziplin, emotionsloses Pflichterfüllen und rein funktionales Abarbeiten erreichbar. Große Sprünge sind damit nicht zu machen, das Überwinden von Gewohnheiten ebenso wenig. Es läge also nahe, große Transformationsprogramme so aufzuziehen, dass sie einen emotionalen Sog entwickeln. Doch trotz des Wissens darum ist eher geflissentliches Ignorieren an der Tagesordnung. Lieber zum x-ten Mal mit säuberlich ausgearbeiteten Tabellen die nächste Einsparungsrunde begründen und mit der Gießkanne Budgets kürzen, als die Mitarbeiter durch einen Exzellenz-Wettbewerb zum Einbringen ihrer Erfahrungen aufzurufen, um dysfunktionale und unnötig teure Abläufe abzustellen. Lieber einen Chief Digital Officer mit der Ausarbeitung von Digitalisierungskonzepten betrauen und diese nach einem Vorstandsbeschluss ausrollen, als Bottom-up-Ansätze evaluieren und damit Buy-in bei den Mitarbeitern bekommen. Lieber zum Erstellen feingranularer Prozesse gemäß einem regelungswütigen Prozessmodell aufrufen, die am Ende in der Schublade verstauben, als unter Vorgabe einfacher Basisprinzipien zu pragmatischer Handhabung zu kommen. Wie viel Begeisterung geht davon aus? Dabei ist die Sache ganz einfach: Wenn der Wurm dem Fisch nicht schmeckt, beißt er nicht an. Die Mehrheit der Change-Würmer schmeckt nicht, um im Bild zu bleiben.
Rechnen Sie damit, dass Ihnen das Durchbrechen von Gewohnheiten einen gehörigen Strich durch die Rechnung beim Unternehmenswandel macht.
Wir sind Gewohnheitstiere
Wir lieben unsere vertraute Ordnung, wir lieben Verlässlichkeit und Kontinuität, wir lieben Gewohnheiten. Es ist folglich naheliegend, dass uns Neues häufig nicht nur unbequem, sondern bedrohlich erscheint. Die schnellsten Reflexe dazu kommen aus unserem Hirnstamm, auch »Reptiliengehirn« genannt, und sind ca. 500 Millionen Jahre alt: Angriff, Flucht oder Totstellen (Cannon, 1915). Sie zünden durch, wenn wir uns überrascht, in die Enge getrieben oder angegriffen fühlen, gleichwohl wir als moderne Menschen auch andere Optionen zur Verfügung hätten, wie etwa Verhandeln, Klären, Kompromisse schließen und Ähnliches. Rechnen Sie also damit, dass Ihnen das Durchbrechen von Gewohnheiten einen gehörigen Strich durch die Rechnung beim Unternehmenswandel macht. Das ist nichts Persönliches oder sonderlich Individuelles, es liegt vielmehr in unserer menschlichen Grundstruktur. Günstig ist es folglich, mit Veränderungen so umzugehen, dass sie als erstrebenswert, emotional zu befürworten und beherrschbar sowie weder als übertölpelnd noch als bedrohlich wahrgenommen werden. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass uns die lieben alten Gewohnheiten weniger in die Quere kommen, als wir es heute noch viel zu oft erleben. Mehr dazu im zweiten Teil dieses Buchs.
1.2 Luftschloss Illusion
Wissen Sie, dass die ehrwürdige Traditionsmarke Leica, eine Legende bei professionellen Fotografen und ambitionierten Amateuren, fast vom Markt verschwunden wäre? Die Unternehmensleitung glaubte fest daran, dass die Digitalfotografie eine Modeerscheinung sei und Analogkameras eine Renaissance erfahren würden, ähnlich wie es bei Analoguhren der Fall war. Noch 2004, und damit zehn Jahre nach dem offiziellen Geburtsjahr der Digitalfotografie in Deutschland, hielt der damalige Leica-Chef Hanns-Peter Cohn digitale Kameras für ein vorübergehendes Intermezzo9. Entsprechend turbulent waren die Folgejahre, um von der Beinahe-Insolvenz über Eigentümerwechsel, Sanierung und Restrukturierung wieder in die Erfolgsspur zu kommen. Hätte dieser Verlauf vorhergesehen werden können? Ja, hätte er. Zwar ist Leica nicht die einzige Kameramarke, die ob der verschlafenen Digitalisierung in schwieriges Fahrwasser kam – der Niedergang des Digitalfotografie-Erfinders Kodak ist noch tragischer und der berühmte »Kodak-Moment« seitdem eine weithin bekannte Warnung vor dem Ignorieren von Markttrends10. Gleichwohl haben viele andere Foto-Hersteller die Transformation in die digitale Welt ohne größere Turbulenzen geschafft und Neulinge wie Sony die Chance zum Einstieg genutzt. Worin also lag der Fehler bei Leica und Kodak? Darin, sich der Illusion hinzugeben, dass die eigene Markteinschätzung zutrifft, und sowohl die Erfolge von Wettbewerbern als auch Kundenwünsche gönnerhaft vom Tisch zu wischen. Nein, die Kunden wollten keine analogen Filme und Bilder mehr. Sie zogen die Einfachheit des Bearbeitens, Teilens und Archivierens in der weit überlegenen Welt der Bits und Bytes vor – der über 150-jährigen Geschichte der Analogfotografie zum Trotz.
Retrospektive Verklärung
Vergleichbare Beispiele, in denen disruptive Innovationen vorherige Erfolgsmodelle abgelöst haben, gibt es mehr als genug: Auto und Pferdekutsche, Transistor und Röhren, CD und Schallplatte, Flachbildschirm und Kathodenstrahlröhre, Smartphone und herkömmliches Handy, Musikdownload und CD, Interneteinkaufsportal und Katalogversandhändler – um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Man könnte meinen, dass es angesichts der schieren Anzahl und Vielfalt dieser Beispiele leichtfiele, wachsam zu sein, die Märkte sehr aufmerksam zu beobachten, Trends zu erkennen und zu bewerten, um darauf basierend rechtzeitig den Wandel des eigenen Unternehmens einzuleiten. Doch dem ist nicht so. Einer der Gründe dafür ist der »hindsight bias« oder Rückschaufehler (Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 2011). Dessen Mechanik ist einfach zu verstehen: Retrospektiv betrachtet erscheinen uns Entwicklungen als logisch und zwingend sowie als Resultat unserer Einschätzungen und Handlungen. Dies gilt auch dann, wenn in der Vorausschau Prognosen hoch unsicher waren und ein Gutteil des eigenen Erfolgs von glücklichen Umständen abhing. Insofern glauben wir bereitwillig, aber zu Unrecht, die Qualität und Treffsicherheit unserer Vorhersagen seien weitaus höher, als sie es in Wirklichkeit sind. Die Folgen reichen bis zu katastrophalen Fehleinschätzungen von Marktentwicklungen und darauf basierenden Fehlentscheidungen.
Dazu kommt, dass es sehr verführerisch ist, bahnbrechende Innovationen als irrelevant abzutun, die zunächst improvisiert und hemdsärmelig daherkommen. Als 2006 in Kalifornien ein Verrückter fast 7000 Laptop-Batterien in einen Roadster einbaute und das Ergebnis ein Elektroauto nannte, lachte die Fachwelt darüber. Als derselbe Verrückte 2012 eine batterieelektrische Oberklasse-Limousine auf den Markt brachte und anfing, ein Schnellladenetz dazu aufzubauen, lachten schon weniger. Sie ahnen es bereits, die Rede ist von Tesla. Den wahren Kern dieses Angriffs auf die träge gewordene Old-School-Autoindustrie haben die meisten Experten jedoch über viele Jahre hinweg nicht erkannt oder