Kleine politische Schriften. Walter Brendel
Читать онлайн книгу.als Forderung der Landreform aufgestellt, heißt aber nicht, daß sofort mit einem Schlag der ganze Grund und Boden den bisherigen Privatbesitzern genommen und zu Staatseigentum verwandelt werden solle. In England sind die Verhältnisse allerdings so reif, daß die »Expropriation des Expropriateurs«, um Marx' Ausdruck zu gebrauchen, die Expropriation sans phrase und ohne Übergangsmaßregeln auf der Tagesordnung steht und bei Zerstörung der Klassenherrschaft unzweifelhaft einer der ersten Akte des englischen Proletariats sein wird. Der Privatgrundbesitz ist das vornehmste und augenfälligste Mittel zur Knechtung des Volks, die Hauptstütze der Klassenherrschaft – das Monopol einiger weniger, welches von diesen in jeder Beziehung auf gemeinschädlichste Weise zum Nachteil des Volks ausgebeutet wird. Kein berechtigtes Interesse hängt an dem Landbesitz; jedes berechtigte Interesse wird durch ihn verletzt. So ist die Frage klar gestellt und die Antwort von vornherein gegeben. Unter den englischen Arbeitern herrscht daher auch vollkommene Einstimmigkeit, und das Votum der englischen Delegierten auf dem Baseler Kongreß war in der Tat das Votum des englischen Proletariats in der Landfrage. Nicht so einfach ist die Frage in Frankreich oder gar erst in Deutschland. Der Kleinbauer, obgleich tatsächlich Proletarier oder dem Proletariat unaufhaltsam zutreibend, hängt großenteils sehr fest an seinem Eigentum, wenn es auch schon in den meisten Fällen nur nominelles, eingebildetes Eigentum ist. Ein Expropriationsdekret würde unzweifelhaft die Mehrzahl der Kleinbauern zum heftigsten Widerstand, vielleicht zu offener Rebellion reizen. Es gilt hier also mit Behutsamkeit und mit möglichster Rücksichtnahme auf die Vorurteile und eingebildeten Interessen zu verfahren. Der Staat muß mit peinlichster Sorgfalt alles vermeiden, was ihn den Kleinbauern als Feind könnte erscheinen lassen. Er muß dieselben systematisch über ihre wirklichen Interessen aufklären und sie von der Hoffnungslosigkeit ihrer jetzigen Lage überzeugen. Hand in Hand mit dieser theoretisch-propagandistischen Tätigkeit müssen aber praktische Maßregeln zur unmittelbaren Erleichterung gehen: In erster Linie sind die Hypothekenschulden auf den Staat zu überschreiben, so daß der Bauer aus den Klauen seines Privatgläubigers befreit wird. Es braucht dies keine Zwangsmaßregel zu sein: die Vorteile, welche der Staat bietet, werden genügende Anziehungskraft üben. Diese Vorteile – ein niedrigerer Zinsfuß, die Sicherheit gegen plötzliche Kündigung, Bereitschaft zu weiteren, sich als notwendig herausstellenden Darlehen – sind jedoch an Bedingungen zu knüpfen, welche das allgemeine Wohl erheischt, nämlich daß sich die Bauern zu einem rationellen Ackerbau verpflichten und unter Staatsunterstützung und Staatskontrolle den Einzelkleinbetrieb allmählich in den genossenschaftlichen Großbetrieb überleiten. Durch zweckmäßigen Unterricht in den Volksschulen und durch landwirtschaftliche Akademien – ich brauche nicht zu bemerken, daß im freien Volksstaat aller Unterricht unentgeltlich ist – lassen sich die nötigen agronomischen Kenntnisse schnell verbreiten.
Auf den Staatsdomänen, die in Deutschland zum Glück noch sehr bedeutend sind, wären Ackerbaukolonien zu gründen, die, nach sozialistischen Grundsätzen eingerichtet, unmittelbar für den Staat zu produzieren und zu gleicher Zeit als landwirtschaftliche Musteranstalten zu dienen hätten. Jedenfalls darf nicht zum zweitenmal der Fehler begangen werden, den die Franzosen in ihrer Revolution begingen: das Staatseigentum in Privateigentum zu zersplittern. Das Schicksal der französischen Parzellenbauern sei uns ein warnendes Exempel. Oder soll dieser Cercle vicieux ewig dauern? Dieser verhängnisvolle verrückte Kreis, in dem wir, dem Übel zu entrinnen trachtend, stets wieder in das Übel zurückrennen? Wir müssen diesen Kreis durchbrechen. Auf den Staatsdomänen kann sofort ein namhafter Teil der Landproletarier untergebracht werden; aber auch dem nicht direkt versorgten Teil derselben wird dadurch indirekt wesentlich aufgeholfen, und zwar in zweifacher Hinsicht, materiell und moralisch: indem die Entfernung zahlreicher Landarbeiter vom Arbeitsmarkt die Löhne der Zurückbleibenden steigert; und indem die menschenwürdige Existenz, welche den Landarbeitern der Staatsackerbaukolonien gesichert wird, in den übrigen Landarbeitern das Streben erweckt, sich eine ähnliche Existenz zu sichern. Mit einem Wort, es wird eine Art Regulator geschaffen. Die Staatsdomänen müssen der Kern werden, um den sich die künftige Gesellschaft kristallisiert: das Vorbild der Assoziation, Musterorganisationen, welche einesteils durch das Beispiel anfeuern, andernteils durch ihre Leistungen in berechtigter Konkurrenz vorandrängen. Die vereinzelten Privateigentümer werden nicht lange gegen diese Konkurrenz anzukämpfen vermögen und schließlich mit Freuden in ihre Expropriation einwilligen. Auch die Privatassoziationen können sich nicht auf die Dauer behaupten: Die Mitglieder werden bald einsehen, daß es für sie selbst und für die Allgemeinheit besser ist, wenn sie die Fiktion des Privateigentums aufgeben und direkt für Rechnung des Staats arbeiten. Sieht dieser oder jener es nicht ein, nun so lasse man ihm die »Freiheit«, sich als »Privateigentümer« nach Herzenslust abzuquälen – vorausgesetzt, daß er nichts Gemeinschädliches unternimmt. Falls das öffentliche Interesse es nicht gebieterisch erheischt, wird ein demokratischer, ein sozialdemokratischer Staat – und nur von diesem kann hier die Rede sein – keinen Zwang anlegen. Anders wird natürlich der Verlauf sein, wenn die herrschenden Klassen in ihrem Sonderinteresse den Gang der Entwicklung gewaltsam zu hemmen suchen und eine revolutionäre Katastrophe hervorrufen. Dann wird voraussichtlich, statt eines langsamen Übergangs unter möglichster Schonung aller Sonderinteressen, ein plötzlicher, gewaltsamer Bruch mit dem Bestehenden erfolgen, ohne jegliche Rücksicht auf Sonderinteressen. Das Volk hilft sich, wie es kann; der Ertrinkende fragt nicht danach, wen er in die Fluten hinabreißt, rettet er nur sich selber. In Revolutionen gleicht aber die Gesellschaft einem Ertrinkenden – es gibt für sie bloß ein Gesetz: das der Selbsterhaltung. Lassen die herrschenden Klassen es in Verteidigung ihrer Sonderinteressen aufs äußerste ankommen – um so schlimmer für sie. Eine Abrechnung ist unvermeidlich; die Frist kann verschoben werden, aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Und bei jeder Abrechnung ist's gut, wenn beide Teile sich verständigen. Namentlich ist das gut für den Teil, welcher im Fall der Nichtverständigung alles zu verlieren und nichts zu gewinnen hat. Und je länger verschoben, desto schwieriger wird die Abrechnung, desto härter die Bedingungen. Die Sybille der Weltgeschichte verbrennt ihre Bücher nicht und hat nicht einen festen Preis, wie die Sybille des Römerkönigs; von Stunde zu Stunde erhöht sie den Herren der Erde gegenüber den Preis des Schicksalsbuches, bis er zuletzt so hoch wird, daß die Verblendeten ihn nicht mehr bezahlen können.
Als in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Lincoln zum Präsidenten gewählt wurde (1860), lautete die Devise des Nordens: Ablösung der Sklaverei – Expropriation in schonendster Form. Die Sklavenhalter des Südens verschanzten sich in ihr starres »Recht«, wiesen, pochend auf ihre Macht, jeden Kompromiß zurück und entfalteten trotzig die Fahne der Revolution. Die Abschaffung der Sklaverei war eine Lebensfrage für das Volk der Vereinigten Staaten; das Volk nahm den Kampf auf, und nach titanischem Ringen wurden die Sklavenhalter besiegt und die Sklaven ohne Entschädigung emanzipiert. Die Expropriation war verweigert worden – es folgte die Konfiskation.
Die Sklavenhalter und herrschenden Klassen Europas mögen sich die Lehre hinter die Ohren schreiben!
Hier eine kurze Bemerkung:
Man macht unserer Partei häufig den Vorwurf, sie verstehe sich wohl auf die Kritik des Bestehenden, aber sie bleibe die Antwort schuldig, was anstelle des Bestehenden zu setzen sei; wir wüßten wohl zu zerstören, aber nicht wiederaufzubauen. Der Vorwurf ist ein unverdienter und nimmt sich besonders in dem Mund von Männern, die auf ökonomischem Gebiet das laisser faire, laisser aller frz., sinngemäß: Gehen lassen, wie es geht. Doktrin der Manchesterschule.predigen, gar komisch aus. Wer, wie unsere freihändlerischen Bourgeois, den Satz verficht, daß die Gesellschaft die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen werde, wenn man die Menschen nur sich selber überlasse, sie in ihrem Kampf ums Dasein nicht durch äußere Einwirkungen und Hemmungen störe, der hat fürwahr nicht das Recht, von einer andern politischen Partei zu verlangen, sie sollt den Zustand, welchen sie erstrebt, in allen Details vorauszeichnen. Die menschliche Gesellschaft ist keine Maschine, die gemacht worden ist und von Zeit zu Zeit mechanisch repariert werden muß. Sie ist ein lebendiger Organismus, der wie eine Pflanze wächst; der gleich der Pflanze gedeiht, wenn er sich in gesunden, seiner Natur entsprechenden Bedingungen befindet; gleich ihr verkommt, wenn sein Wachstum durch schädliche Einflüsse gehemmt ist; und, gleich ihr, sich nur dann wieder erholen kann, wenn diese schädlichen Einflüsse entfernt werden. Die Entfernung der schädlichen Einflüsse ist die Heilung. Die Negation (Verneinung) des Schlimmen ist die Bejahung, die Feststellung des Guten. Das Leben