Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Allgemeine Staatslehre
Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert
2. Auflage
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Vorwort
Moderne Staatlichkeit befindet sich in stetem Wandel, sieht sich fortdauernd vor neue Herausforderungen gestellt. Selten hat sich das so eindrücklich gezeigt, wie in den zwei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage, in denen allein aufgrund der Coronapandemie zahlreiche Fragen staatlicher Organisation und Handlungsfähigkeit (Regierungssystem, Föderalismus, Exekutivlastigkeit, Parlamentsbeteiligung, Grundrechte) und der Legitimität von Herrschaftsordnungen in besonderer Weise auf die (politische und wissenschaftliche) Tagesordnung gerückt sind. Weltweit wurden die Gesellschaften in den Lockdown geschickt, Ausgangssperren verhängt und Kontaktverbote ausgesprochen. Der sich vermeintlich in Auflösung befindliche moderne Staat war zurück und zeigte mit großer Wucht, wozu er im Ausnahme- und Krisenfall (selbst gegenüber der scheinbar so autarken „Wirtschaft“) in der Lage ist. Dabei offenbarten sich zugleich Unterschiede im Umgang mit der Pandemie: Einerseits zwischen demokratischen und autokratischen Systemen, anderseits aber auch zwischen etablierten demokratischen Verfassungsstaaten, die auf diese Herausforderung mit eigenen Strategien reagierten – wobei in populistisch regierten Staaten eine Strategie bisweilen kaum erkennbar war (man denke an das Vorgehen Donald Trumps, Jair Bolsonaros, Boris Johnsons oder Narendra Modis, das, wie Adam Tooze festhält, teilweise schlicht auf Leugnung der Gefahren beruhte). Die Allgemeine Staatslehre hat die Aufgabe, diese aktuellen Entwicklungen bei ihrem ganzheitlichen Versuch, den Staat „in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion zu begreifen“ (Hermann Heller) aufzunehmen, ohne ihre historischen Wurzeln zu vernachlässigen oder in tagesaktuelle Nacherzählungen zu verfallen. Die Coronapandemie hat daher an zahlreichen Stellen Eingang in die zweite Auflage gefunden, zudem wurden weitere Aspekte aufgenommen oder eingehender behandelt (Digitalisierung, die Rolle von ExpertInnen, „Modern Monetary Theory“, die Funktion von Protest). Allgemeine Staatslehre ist – das bestätigt sich einmal mehr – ein dynamisches Lehr- und Forschungsfeld, das Erklärungsangebote für zahlreiche, auch jüngere Entwicklungen machen will und machen kann. Wie Martin Kriele treffend betont, ist damit zugleich jede Generation aufgerufen, ihre eigene Allgemeine Staatslehre zu verfassen. Ältere Werke werden dadurch nicht obsolet. Ihre grundlegenden Ergebnisse und Einsichten bleiben relevant – man denke an die bedeutenden Werke von Georg Jellinek, Hermann Heller, Hans Kelsen oder Herbert Krüger. Für die |VI| Beschreibung aktueller Problemlagen (Supranationalisierung, Digitalisierung, Populismus, Urbanisierung, Coronapandemie), ihre systematische Erfassung sowie für die Entwicklung von Lösungsangeboten können sie aber zwangsläufig weniger beitragen.
Vor diesem Hintergrund formuliert diese Einführung nach einer Verortung und generellen Rechtfertigung des Forschungsfeldes weiterhin zehn Fragen an eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet – das wäre auch gar nicht möglich. Gleichwohl geben die Antworten einen Überblick nicht nur über den Forschungsstand, sondern zeigen zugleich neue Aspekte auf, denen sich eine moderne und interdisziplinär ausgerichtete Allgemeine Staatslehre meines Erachtens widmen sollte. Sie wollen auf diesem Wege zum eigenen Weiterdenken und Vertiefen anregen. Das Buch richtet sich damit nicht nur an Studierende der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die sich einen ersten Eindruck von der Materie verschaffen wollen. Es adressiert vielmehr auch diejenigen, denen es um eine intensivere Behandlung dieser Thematik geht. Die Fragen (und Antworten) bauen zwar aufeinander auf, müssen aber nicht am Stück und nacheinander gelesen werden. Sie können und sollen auch als Anregung für diejenigen dienen, die nach interessanten Forschungsprojekten suchen. Der Fußnotenapparat ist daher umfangreich, wurde für die zweite Auflage noch einmal um aktuelle Beiträge ergänzt und umfasst nicht nur (deutsche) rechtswissenschaftliche, sondern auch politik-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Literatur, um eine angemessene (erste) Vertiefung zu ermöglichen. Das Konzept unterscheidet sich dadurch partiell von anderen Lehrbüchern. Kritik ist damit ebenso erwartbar wie willkommen (Dank daher nicht zuletzt an Thomas Vesting für seine kritische Besprechung der ersten Auflage).
Auch für die zweite Auflage habe ich mich bei vielen Personen zu bedanken, die zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Das betrifft zunächst Jona Buhrke, Tabea Nalik, Victoria Kautzner, Johanna Kramer, Katharina Kriebel, Cederic Meier, Lara Schmidt, Karolin Schwarz, Clara Wolf und Felicitas Wolf. Sie haben das Manuskript nicht nur (mehrfach) Korrektur gelesen, sondern zudem wertvolle Hinweise zu seiner Verbesserung gegeben. Sarah Ehls hat wesentliche Impulse für das Design des Umschlagmotivs geliefert, das bei der zweiten Auflage unverändert geblieben ist. Pia Lange hat in unzähligen Gesprächen und mit ihren Anmerkungen und Anregungen erneut zum Gelingen beigetragen. Daniela Taudt vom Verlag Mohr Siebeck hat das Manuskript gemeinsam mit Rebekka Zech und Lisa Laux wie stets hervorragend betreut. Vielen Dank!
Gewidmet ist auch diese Auflage meinem viel zu früh verstorbenen akademischen Lehrer Werner Heun. Vor mittlerweile mehr als zwanzig Jahren saß ich an der Universität Göttingen erstmals in seiner Vorlesung zur Allgemeinen Staatslehre und war von Anfang an fasziniert – nicht nur vom |VII| Thema, sondern insbesondere von den (historischen) Kenntnissen und der Belesenheit des Dozenten. Dass ich Jahre später ausgerechnet an seinem ehemaligen Schreibtisch ein einführendes Lehrbuch zur Allgemeinen Staatslehre verfassen würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.
Berlin, im Dezember 2021 Alexander Thiele
A. Begriff und Verortung
der Allgemeinen Staatslehre
„Die wichtigste, auf menschlicher Willensorganisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat […].“
Georg Jellinek [1]
„[D]ie Basis aller juristischen Betrachtungen ist nach wie vor die rechtsdogmatische Festlegung der Begriffe.“
Hans Peters [2]
Was ist Allgemeine Staatslehre? In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht, zur (vergleichenden)[3] Verfassungslehre, zur Staats-, Politik- aber auch zur Sozial- und Wirtschaftswissenschaft? Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert in Zeiten voranschreitender Globalisierung und eines (vermeintlichen) Untergangs des modernen Staates noch zeitgemäß? Ist sie im ausgefächerten Wissenschaftssystem noch möglich? Und wenn ja: Wie könnte ein angepasstes und auf aktuelle Entwicklungen reagierendes Lehr- und Forschungsprogramm aussehen, das versucht, Tradition und Gegenwart der Disziplin miteinander zu versöhnen?
Die Antwort auf diese Fragen fällt schwerer als man angesichts der langen, in das 19. Jahrhundert zurückreichenden[4] und vornehmlich deutschsprachigen[5] Tradition der Allgemeinen Staatslehre vermuten würde.[6] Eine |2|allgemeingültige Definition „dieses in die Jahre gekommenen Disziplinformats“[7] fehlt weiterhin, man wird sogar sagen können, dass die Beschreibung ihres Gegenstandes den ersten Streitpunkt unter denjenigen darstellt, die sich der Allgemeinen Staatslehre verschrieben haben. Es besteht dadurch eine erhebliche Unsicherheit, wenn man zu bestimmen versucht, womit sich die Allgemeine Staatslehre beschäftigt oder womit sie sich beschäftigen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass (klassische) Lehrbücher auf diesem Gebiet nicht nur eine individuelle Begrifflichkeit zugrunde legen, sondern zugleich individuelle Schwerpunkte setzen und damit ihren eigenen (wissenschaftlichen) Weg gehen. In der Konsequenz unterscheiden sich die Lehrbücher signifikant in Inhalt,