Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.für ältere wie für neuere Werke – verzichtet auf eine knappe und einprägsame Definition und wählt stattdessen den Weg der beschreibenden Erläuterung, in der weniger dargelegt wird, was Allgemeine Staatslehre generell ist oder sein sollte als vielmehr, was der jeweilige Verfasser darunter versteht.[8] Für die Vorlesungen, die an den unterschiedlichen Fakultäten gehalten werden, gilt nichts anderes, zumal diese bisweilen mit der Verfassungsgeschichte und anderen Grundlagenfächern kombiniert werden und schon dadurch divergierende Schwerpunkte setzen. Zum juristischen Pflichtstoff zählt die Allgemeine Staatslehre ohnehin – wenn überhaupt – nur als Bestandteil der Grundlagenfächer.[9] Was Studierende erwarten können, die diese Vorlesung besuchen, erfahren sie daher erst zu Beginn des Semesters und es variiert in Abhängigkeit von den DozentInnen. Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu den Kerngebieten des öffentlichen Rechts. Inhalt und Aufbau der gängigen Lehrbücher weisen dort eine große Ähnlichkeit auf, was daran liegt, dass eine prinzipielle Einigkeit über den behandelten Gegenstand und auch über die Art der Darstellung besteht. Das gilt für den Bereich des Staatsrechts (insbesondere für die Grundrechts-Lehrbücher), ebenso aber für das Verwaltungsrecht.[10] Deutlich wird dies auch in den Prüfungsordnungen der Landesjustizprüfungsämter, die in diesen Bereichen vergleichsweise kongruent ausfallen.
|3|Diese unterschiedlichen Lehrverständnisse spiegeln die wissenschaftliche Welt der Allgemeinen Staatslehre. Ein konsentiertes Forschungsprogramm fehlt,[11] was allerdings nicht zwingend als Defizit angesehen werden muss, sondern auch als wissenschaftliche Offenheit einer sich entwickelnden Programmatik im (globalen) Kontext interpretiert werden kann. Wichtiger als wissenschaftlicher Konsens, so ließe sich formulieren, ist dann die konstante Debatte über Begriff und Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre. Diese Debatte hält die Allgemeine Staatslehre am Leben; käme sie an ihr Ende, dürfte das das Ende der Allgemeinen Staatslehre in ihrer bisherigen „experimentellen“ Form sein.
Auf den folgenden Seiten soll vor diesem Hintergrund ein Beitrag zu dieser Debatte geleistet und ein Vorschlag gemacht werden, was unter einer modernen Allgemeinen Staatslehre zu verstehen sein könnte, welche Aufgaben eine solche im 21. Jahrhundert sinnvollerweise (noch) wahrnehmen kann und an welchen Stellen sich konkreter Forschungsbedarf entdecken lässt. Anders formuliert: Es geht um die Beantwortung der an die Schiller’sche Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1789 anknüpfenden Frage: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Allgemeine Staatslehre?
Betrachtet man die bestehenden Vorstellungen von und Beschreibungen der Allgemeinen Staatslehre vor diesem Hintergrund, lassen sich drei Gemeinsamkeiten herausschälen, die – bei allen Unterschieden im Detail und in der Gewichtung – das weitgehend konsentierte Fundament der Allgemeinen Staatslehre bilden. Sie werden im Folgenden skizziert (I–III) und liegen der knappen Definition zugrunde, die anschließend vorgeschlagen wird (IV).
Fußnoten
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 4.
H. Peters, in: Verwaltungsakademie Berlin, Gegenwartsfragen der Kommunalverwaltung, S. 139 (140).
Dazu etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010.
Vgl. C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9 f.
Eine entsprechende Disziplin findet sich allein im deutschsprachigen Raum (also in Deutschland, Österreich und der Schweiz), vgl. A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (2). Siehe knapp zur historischen Entwicklung auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 5. Relativierend allerdings C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (359 f.).
Siehe auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15: „Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“
M. Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1, Rn. 5.
Vgl. etwa H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1: „Abstrakt-begriffliche Definitionen wären hier allerdings wenig fruchtbar.“
Ob das vor dem Hintergrund der im Jahr 2012 veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für das juristische Studium sinnvoll ist, darf bezweifelt werden, gerade weil die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft geeignet ist, Erklärungsansätze für die vielfältigen globalen Entwicklungen anzubieten.
Das schließt Unterschiede im Detail und in den Schwerpunktsetzungen natürlich nicht aus. Gerade bei den klassischen Lehrbüchern „weiß“ man aber als LeserIn was einen erwartet. Und auch die Vorlesungen sind in diesen Bereichen zumindest inhaltlich ähnlich aufgebaut.
Siehe auch O. Lepsius, Besprechung von Thomas Vesting, Staatstheorie, JZ 2019, 991 (992): „Wie immer bei Staatslehren ist unklar, was eigentlich genau mit dem Erkenntnisgegenstand ‚Staat‘ erforscht werden soll.“
I. Der Staat als Gegenstand
Bei der Allgemeinen Staatslehre geht es erstens um eine Betrachtung des kulturellen, sozialen und normativen Phänomens „Staat“ beziehungsweise „Staatlichkeit“: „Der Untersuchungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre ist der Staat“, heißt es bei Burkhard Schöbener und Matthias Knauff[12] gleich zu Beginn ihres Werkes, für Georg Jellinek ist Aufgabe der Staatslehre „Erkenntnis der Erscheinung des Staates nach allen Richtungen seines Daseins“[13], Roman Herzog zählt die Staatslehre zu den Wissenschaften, „die sich mit dem Staat befassen“[14] und Hans Herbert von Arnim sowie Herbert Krüger |4|streben gar die Entwicklung einer „Theorie des Staates an sich“[15] respektive eine „wahrhaft(e) Lehre vom Staate“[16] an. Zwar lehnt Hermann Heller eine Untersuchung des „Wesens“ des Staates insoweit ab, als eine solche vom Staat als eines „unveränderlichen Ding[s] mit zeiträumlich konstanten Merkmalen“[17] ausgeht. Gleichwohl will aber auch er „den Staat begreifen in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion.“[18]
Die Feststellung der Staatszentriertheit der Allgemeinen Staatslehre mag auf den ersten Blick banal erscheinen – wie sollte es bei einer Wissenschaft anders sein, die den Staat schon im Namen trägt? Gleichwohl geht mit ihr eine Begrenzung des zu behandelnden Gegenstandes einher, gerade im Vergleich zu den Wirtschafts-, Politik- sowie anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Diese können und müssen Teil einer Allgemeinen Staatslehre nur sein oder tragen zu dieser nur bei, soweit es um Fragestellungen geht, die in einer Nähebeziehung zum modernen Staat oder zur Staatlichkeit stehen. Diese Wissenschaften weisen zur Allgemeinen Staatslehre also Schnittmengen auf, überlappen sich mit dieser