Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Staat stehen, werden aus unbekannteren Disziplinen diejenigen herangezogen, über die man – etwa, weil |9|sie in einer Tageszeitung erwähnt wurden – schlicht gestolpert ist. Das ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, in der Sache aber kaum zu ändern, wenn man an der Allgemeinen Staatslehre festhalten will.[55] Allgemeine Staatslehre ist ebenso interdisziplinär wie experimentell und individuell.[56]
Immerhin wird man zwei Dinge festhalten können, die in dieser Hinsicht allgemein anerkannt sein dürften. Da es der Allgemeinen Staatslehre um die Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse des Staates (also der staatlichen Wirklichkeit) geht,[57] kann und muss sie sich zum einen bei den Sozialwissenschaften bedienen. Dazu gehören mit Hans Herbert von Arnim die Soziologie, die Politikwissenschaft aber auch die Volkswirtschaftslehre, die Finanzwissenschaft und die Politische Ökonomie.[58] Hinzu treten die politische Philosophie[59] und die Geschichtswissenschaft, ohne die eine Beschreibung und Analyse des Status quo der heutigen (modernen) Staatenwelt und möglicher Transformationen letztlich nicht möglich ist[60] – trotz der polemischen und eher einer persönlichen Abneigung geschuldeten Bedenken, die Egon Friedell gegenüber der Geschichtswissenschaft geäußert hat.[61] Zum anderen umfasst die Allgemeine Staatslehre auch die normwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche Perspektive; sie ist auch normative Wissenschaft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Allgemeine Staatslehre dadurch zum Aliud der Staatswissenschaften wird (denen es gerade an dieser Perspektive mangelt) oder – wofür Roman Herzog plädiert hat – sie als Unterdisziplin der umfassend zu verstehenden Staatswissenschaften[62] anzusehen ist.[63] Entscheidend ist, dass eine Untersuchung des modernen Staates ohne diese normative Perspektive keine Allgemeine Staatslehre im hier verstandenen Sinne sein kann. Die Allgemeine Staatslehre strebt vielmehr gerade an, die im Positivismus (für den der ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Verfassungsstaat im |10|Zentrum stand)[64] begründete Aufspaltung in eine soziale Staatslehre einerseits und eine normative Staatsrechtslehre andererseits rückgängig zu machen und beide Seiten der „staatlichen Medaille“ wieder zusammenzuführen – so, wie dies in der Hochphase der Allgemeinen Staatslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich der Fall war.[65] Angesichts dieser doppelten Ausrichtung erscheint es aber losgelöst von vermeintlichen „Fachegoismen“ wenig überzeugend, eine Umbenennung der Allgemeinen Staatslehre in „Politikwissenschaft“[66] zu einer zweitrangigen Frage zu erklären.[67] Begrifflichkeiten sind zur Abgrenzung und Systematisierung der Wissenschaftszweige ebenso wie zur Vermeidung von Verständnisproblemen innerhalb des Wissenschaftsraumes nicht beliebig und austauschbar – auch wenn zuzugeben ist, dass diese bisweilen historischen Zufälligkeiten geschuldet sind und es allein auf das materielle Verständnis und die behandelten Fragestellungen ankommen kann. Gerade der Begriff der Politikwissenschaft dürfte sich aber so etabliert und ausdifferenziert haben, dass seine Gleichsetzung mit der (sozial-normativen) Allgemeinen Staatslehre auf Seiten aller Beteiligten eher für Verwirrung, zumindest aber Verwunderung sorgen dürfte.
Dieser interdisziplinäre Ansatz, bei dem normative und sozialwissenschaftliche Vorstellungen und Kontexte zusammenkommen, grenzt die Allgemeine Staatslehre vom (vergleichenden) Staatsrecht und vom (vergleichenden) Verfassungsrecht ab, denen die normativ-dogmatisch (rechtliche) Analyse einer bestimmten Staats- und Verfassungsordnung respektive der normative (rechtliche) Vergleich mehrerer Staats- und Verfassungsordnungen obliegt.[68] Die Allgemeine Staatslehre geht in diesen normativen Verfassungsvergleichswissenschaften nicht auf, die daher auch nicht an ihre Stelle treten können. Vergleichbar ist sie im anglo-amerikanischen Raum am ehesten mit der unter anderem von Ran Hirschl wiederbelebten Disziplin „Comparative |11|Constitutionalism“,[69] die im anglo-amerikanischen Raum auch (aber nicht ausschließlich)[70] von RechtswissenschaftlerInnen betrieben wird.[71]
Fußnoten
Vgl. auch T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 16 ff.
H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (158).
Vgl. C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
Vgl. auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 10.
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
Dass die Zusammenführung gegenwärtig mehr oder weniger methodenfrei abläuft ist allerdings ein Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Siehe dazu sogleich.
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
Vgl. M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2.
In zahlreichen Lehrbüchern kommen ökonomische Aspekte, nicht zuletzt die Frage nach der Finanzierung des Staates, allerdings nur sehr verkürzt oder überhaupt nicht vor. Hier besteht zweifellos Forschungsbedarf aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre. Vor allem aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Entwicklungen – etwa zur Bewertung der Staatsverschuldung – werden allenfalls rudimentär zur Kenntnis genommen.
Zur Methodenkritik auch gleich noch unten.
Vgl. T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 36.
Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.
H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 5.
Einführend dazu E. Özmen, Politische Philosophie, 2013.
Speziell zum historischen Staatsverständnis zuletzt auch G. Metzler, Der Staat der Historiker, 2019.
E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 24 ff. Friedell spricht der Geschichtswissenschaft dabei im Ergebnis jede Wissenschaftlichkeit ab, aaO, S. 26: „Wir gelangen demnach zu dem Resultat: sobald die referierende Geschichtsschreibung versucht, eine Wissenschaft zu sein, hört sie auf objektiv zu sein, und sobald sie versucht, objektiv zu sein, hört sie auf, eine Wissenschaft zu sein.“ Diese Einschätzung wird hier nicht geteilt, sie sei aber zur nicht ernstgemeinten Provokation