Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.zu einem gewissen Teil eine (willkürliche) Wertungsfrage – ein Umstand, der angesichts der grundlegenden Übereinstimmung in der Frage der relevanten Kriterien aber nicht sonderlich dramatisch |14|erscheint:[85] Die Allgemeine Staatslehre fängt im 21. Jahrhundert nicht bei null an. Ohnehin besteht die Möglichkeit, die eigene Auswahl zu einem späteren Zeitpunkt zu modifizieren.
Neben dem Großteil der europäischen Staaten – eine Ausnahme bilden die Türkei, Russland, Weißrussland und einige weitere ehemalige Sowjetrepubliken[86] – gehören unter anderem die USA, Kanada, aber auch zahlreiche südamerikanische Staaten wie Argentinien, Chile, Peru, Kolumbien, Uruguay oder (noch) Brasilien zu dieser Staatengruppe. Auf dem afrikanischen Kontinent sind es Südafrika, Botswana, Namibia, Ghana, partiell auch Kenia und nun vielleicht auch Äthiopien sowie (noch) Tunesien. In Somaliland funktionieren die staatlichen (demokratischen) Institutionen, allerdings genießt dieser Staat keine internationale Anerkennung.[87] In Asien wird man Indien, Südkorea, Japan und Taiwan sowie Israel nennen können,[88] zentralasiatische Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan), über die in der westlichen Welt generell wenig bekannt ist,[89] wird man sämtlich nicht dazuzählen können (wenngleich sich zumindest in Kirgistan im Vergleich deutlich „demokratischere Züge“ aufzeigen lassen). Hinzu kommen aber natürlich Australien und Neuseeland.
Diese Entscheidung für eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat beruht auf folgenden fünf Erwägungen: Erstens findet sich mit den demokratischen Verfassungsstaaten eine prinzipiell anerkannte Gruppe moderner Staaten, an die eine Begrenzung anknüpfen kann. Die zu analysierende Staatengruppe muss also nicht (zumindest nicht in Gänze) theoretisch konstruiert werden, sondern findet sich in der „faktischen Staatenwelt“. Das entlastet aus wissenschaftlicher Sicht erheblich und wird zudem dem Anspruch der Allgemeinen Staatslehre gerecht, auch Seinswissenschaft zu sein. Zweitens erscheint diese Staatengruppe einerseits ausreichend homogen, um eine ausführliche Analyse mit den begrenzten Kapazitäten zu ermöglichen, während die modernen Staaten dieser Gruppe andererseits doch solche Unterschiede aufweisen, die auf fruchtbare Ergebnisse der Systematisierung und des (wertenden) Vergleichs hoffen lassen. R. M. MacIver hat das treffend formuliert: „Practically all modern States are, in terms of the definition already given, to be classed as democracies, but not all are quite alike in |15|character.“[90] Schon die unterschiedlichen Regierungssysteme – vom Präsidialsystem über das parlamentarische und das semi-parlamentarische Regierungssystem bis zum Direktorialsystem bieten reichlich Analyse-, Vergleichs- und normatives Bewertungspotenzial. Drittens scheint dieser Staatentyp mittlerweile derjenige zu sein, dem der Großteil der bestehenden Staaten nach Außen und Innen entsprechen will: „Es gibt nach wie vor eine internationale und auch innenpolitische Prämie auf den Status, als Demokratie zu gelten: International bringt es Prestige wie auch handfeste wirtschaftliche Vorteile; im Inneren kann man den unterlegenen politischen Gegnern immer vorhalten, sie seien eben schlicht nicht populär und müssten sich dem erklärten Mehrheitswillen beugen.“[91] Dann aber scheint es nicht nur zweckmäßig, sondern notwendig, herauszuarbeiten, was diesen attraktiven Staatentyp im Einzelnen prägt.[92] Nur dann kann fundiert dargelegt werden, dass und warum einige Staaten ihrem selbst gesteckten Anspruch nicht genügen. Erst die Entwicklung dieses normativen Referenzmodells macht es etwa möglich zu begründen, dass die türkische Verfassung nach der von Recep Tayyip Erdogan eingeleiteten Reform und entgegen den eigenen Behauptungen den Anforderungen an ein demokratisches Präsidialsystem im US-amerikanischen Sinne nicht genügt.[93] Gleiches gilt für die neue russische Verfassung, mit der Wladimir Putin seinen Machtanspruch für die nächsten Jahre gesichert hat. Für die Europäische Union kommt hinzu: Beitreten können dieser nur demokratische (europäische) Staaten, so dass man wissen muss, was solche Staaten ausmacht. Viertens erscheint es sinnvoll eine Staatengruppe zu wählen, zu der auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz gehören. Das ist deshalb ratsam, weil es sich bei der Allgemeinen Staatslehre um eine vornehmlich deutschsprachige Disziplin handelt – bereits eine englische Übersetzung des Begriffs „Staatslehre“ bereitet Schwierigkeiten,[94] ist vielleicht gar unmöglich. Eine Allgemeine Staatslehre, die nicht auch diese deutschsprachigen Staaten in den Blick nähme, wäre zwar möglich, aber doch ungewöhnlich. Hinzu kommt die – ein subjektives Argument – Sozialisation des Autors dieser Zeilen und die damit einhergehenden Kenntnisse der deutschen Demokratie und des Grundgesetzes. Schließlich und fünftens weist der demokratische Verfassungsstaat in den letzten Jahren gewisse Krisensymptome auf,[95] die sich im Erstarken |16|rechtspopulistischer[96] beziehungsweise autoritärer Strömungen (Donald Trump, Jair Bolsonaro, Boris Johnson, AfD, FPÖ, Tea Party Bewegung etc.),[97] in einer problematischen Streitkultur sowie in einer tendenziell sinkenden Wahlbeteiligung[98] widerspiegeln.[99] „Die liberale Demokratie des Westens ist in der Defensive“, stellte Heinrich August Winkler in seiner umfassenden Analyse aus dem Jahre 2017 fest.[100] Achim Schäfer und Michael Zürn konstatieren: „Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Delle“,[101] Alexander Bogner führt aus, dass der globale Drang nach Demokratie mittlerweile in eine veritable Rezession übergegangen sei[102] und Jan-Werner Müller hält lapidar fest: „Es ist ein Gemeinplatz geworden: Die Demokratie steckt in der Krise.“[103] Cristina Lafont spricht von „schwierigen Zeiten für die Demokratie.“[104] Die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten markierte demnach lediglich den vorläufigen Höhepunkt dieser (trotz dessen Abwahl nach seiner ersten Amtszeit andauernden) weltweiten Krise,[105] die mittlerweile von zahlreichen AutorInnen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beschrieben worden |17|ist.[106] Sie hat, in den Worten Manfred G. Schmidts, dazu geführt, dass die europäischen Demokratien – man denke an Ungarn, Polen, aber auch Tschechien und Rumänien – zwar „nicht todkrank, aber auch nicht kerngesund, sondern angeschlagen“ sind.[107] Als besonders erschreckend erweist sich die Tatsache, dass von dieser Entwicklung zunehmend auch etablierte Demokratien wie die USA, Großbritannien oder Indien betroffen sind. Entgegen optimistischen Modernisierungstheorien der Nachkriegszeit war und ist die Demokratisierung insofern kein unaufhaltsamer und unumkehrbarer Prozess,[108] der demokratische Status quo nicht gesichert. Die vergleichende Analyse demokratischer Verfassungsstaaten verspricht Antworten auf die Frage, inwieweit diese Krisensymptome auf ähnliche oder sogar identische Ursachen zurückzuführen sind (Axel Schäfer und Michael Zürn sprechen von einer prinzipiell vergleichbaren doppelten Entfremdung),[109] wo Unterschiede bestehen – Philip Manow hat unlängst auf die Bedeutung der jeweiligen politischen Ökonomie hingewiesen[110] – und wie mögliche Lösungsansätze allgemeiner und besonderer Art aussehen könnten. Die Fokussierung auf demokratische Verfassungsstaaten bedeutet ohnehin nicht, dass nicht auch andere Staaten in die Betrachtung einbezogen werden müssten. Eine solche Einbeziehung erfolgt dann allerdings zur Veranschaulichung der Unterschiede und damit punktuell und unsystematisch, mithin zur deutlicheren Herausarbeitung des spezifischen Charakters des demokratischen Verfassungsstaates.[111] Sie kann aber gerade dort, wo eine materielle Demokratisierung aktuell mehr oder weniger gescheitert ist (Russland, Türkei, Ukraine, Afghanistan, Libyen, Venezuela, Syrien) auch helfen, die gegenwärtig zu beobachtenden Krisensymptome zu verstehen und besser einzuordnen.
Darüber hinaus muss sich eine Allgemeine Staatslehre auf eine Untersuchung des bestehenden Staatensystems beschränken. Die Allgemeinheit auch in historischer Perspektive einlösen zu wollen und damit zugleich eine umfassende Evolutionsgeschichte des modernen Staates zu verfassen, ist |18|angesichts der Vielfalt der historischen Staaten und staatsähnlichen Herrschaftsstrukturen nicht möglich, muss daher anderen überlassen bleiben.[112] Durch die Erkenntnisse der politischen Anthropologie ist die Zahl politischer Systeme, die in einer solchen Geschichte zu behandeln wären, noch einmal erheblich angestiegen. Diese hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargelegt, dass Formen von Politik und damit auch Formen von Staatlichkeit und Herrschaft keineswegs erst mit den Hochkulturen, sondern bereits in den frühen segmentären und tribalistischen Gesellschaften im Anschluss an die neolithische Revolution zu finden sind.[113] Diese Gesellschaften waren stets auch von politischem und sozialem Wandel geprägt[114] und haben eine politische Geschichte, die zu erzählen ebenso wichtig erscheint, wie sie von einer Allgemeinen Staatslehre nicht geleistet werden kann. Martin Kriele hat also Recht, wenn er festhält, dass jede Generation ihre eigene Allgemeine