Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.erkenntnistheoretischer Modelle der Fall, sondern auch weil jede Generation eine veränderte Staatenwelt vorfindet, die einer eigenständigen Beschreibung und normativ-kritischen Einordnung bedarf. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Lehrbücher nicht selten ihren Schwerpunkt beim demokratischen Verfassungsstaat setzen, hängt insofern auch damit zusammen, dass sich dieser (erst) seitdem weltweit verbreitet hat. Damit steht zugleich fest: Keine Allgemeine Staatslehre kann zeitlose Geltung beanspruchen. Dazu hängen ihre Ergebnisse zu sehr an den sich verändernden empirischen Begebenheiten. Hier liegt der Grund, warum Hermann Heller auf den Zusatz „Allgemeine“ von vornherein verzichtete: „Dass also eine zeiträumlich ‚allgemeine‘ Staatslehre nicht erstrebt, weil gar nicht für möglich gehalten wird, soll schon im Titel dieser Arbeit zum Ausdruck gelangen.“[116] Entscheidend ist, dass man sich dieser eingeschränkten Bedeutung des Begriffs „Allgemeine“ bewusst ist, dass es also um eine Allgemeinheit im Jetzt und nicht um eine Allgemeinheit in der Zeit geht. Dann spricht nichts gegen dessen Verwendung (zumal sich diese Begrifflichkeit auch durchgesetzt zu haben scheint). Das bedeutet im Übrigen nicht, dass eine Allgemeine Staatslehre auf historische Betrachtungen jedweder Art verzichten müsste oder sollte. Sie werden allerdings nur dort erfolgen, wo es darum geht, typische Entwicklungen (etwa die Entstehung |19|und Ausbreitung des modernen Staates, den „normalen“ Ablauf von Revolutionen oder den Untergang von Staaten) durch historisch belegte Prozesse zu verdeutlichen, kurz: wo es „zum Verständnis der Gegenwart nötig ist.“[117]
Mit dieser zweiten Einschränkung hängt die letzte zusammen. Der universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre sollte nicht überinterpretiert werden. Wer mit dem Ziel antritt, das Wesen des Staates zu ermitteln oder eine Theorie des Staates an sich[118] zu entwickeln, wird in einem gewissen Übereifer möglicherweise dazu neigen, bestehende Differenzen und Unterschiede zum Wohle der eigenen allgemeinen Theorie zu überspielen. Er oder sie zwängt die reale Staatenwelt dadurch in ein Prokrustesbett und verfehlt das Ziel einer empirisch zutreffenden Beschreibung des Status quo, die den Ausgangspunkt der Allgemeinen Staatslehre bilden muss. Ähnlich hält Christoph Möllers fest: „Die Rede vom ‚Staat‘ als solchem hat von vornherein Unterschiede im Namen eines vermeintlichen Idealtyps unterschlagen.“[119] Es gilt sich eine gewisse Offenheit für die Mannigfaltigkeit der heutigen Staatenwelt zu bewahren, die sich über Jahrhunderte nicht systematisch, sondern immer auch aufgrund historischer, kultureller und sozialer Zufälligkeiten und Pfadabhängigkeiten entwickelt hat. Voreilige Schlussfolgerungen können so vermieden werden. Auch die hier im Fokus stehenden demokratischen Verfassungsstaaten weisen eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten, aber eben auch an Unterschieden auf,[120] die nicht zu Gunsten einer möglichst einheitlichen Staatsidee allzu grobschlächtig übergangen werden dürfen. Demokratie ist nicht gleich Demokratie. Erneut sei R. M. MacIver zitiert: „Practically all modern states are, in terms of the definition already given, democracies, but no two are quite alike in character.“[121]
Fußnoten
Ähnlich auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 10. Siehe auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2. Eine solche „Besondere Staatslehre“ findet sich etwa bei H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984. Ähnlich auch W. Heun, Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 2012 sowie U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013. Siehe zu dieser Unterscheidung auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 35 ff.
Siehe K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, S. 259: „Der einzige Weg, der den Sozialwissenschaften offensteht, besteht darin, […] die praktischen Probleme unserer Zeit mit Hilfe der theoretischen Methoden zu behandeln, die im Grunde allen Wissenschaften gemeinsam sind: mit Hilfe der Methode von Versuch und Irrtum, der Methode des Auffindens von Hypothesen, die sich praktisch überprüfen lassen, und mit Hilfe ihrer praktischen Überprüfung.“ Vgl. dazu auch J. Nasher, Die Staatstheorie Karl Poppers, S. 48 ff.
Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 35 f.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9 f.
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 22: „Eine zweite Begrenzung unserer Aufgabe liegt darin, dass sie im wesentlichen nur die Erscheinungen der heutigen abendländischen Staatenwelt und deren Vergangenheit insoweit, als es zum Verständnis der Gegenwart nötig ist, als Forschungsobjekt betrachtet.“
R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 36.
R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 37.
H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 27. Dieser Staat dürfte auch der Allgemeinen Staatslehre von Hans Kelsen zugrunde liegen.
Vgl. auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 23: „In solcher zeitlichen und räumlichen Beschränkung der Aufgabe liegt aber keineswegs eine Unvollkommenheit oder wenigstens eine größere als in allen auf historischem Boden erwachsenen Disziplinen.“
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 1 f.
Vgl. auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 173 f.
Knapp zu den Verfassungen der DDR A. Thiele, Der konstituierte Staat, S. 357 ff.
Vgl. dazu Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2020, „In sickness and in health?“, 2021. Insgesamt hat die weltweite „Demokratiequote“ im Jahr 2020 erneut abgenommen – der globale Durchschnittswert fiel auf den niedrigsten Wert seit der ersten Erhebung im Jahr 2006, was zweifellos auch mit der Coronapandemie zusammenhing.
Vgl. auch R. M. MacIver, The Modern State, S. 343: „Democracy, it is true, is a matter of degree, and lines are hard to draw here as elsewhere.“
Georgien befindet sich gewissermaßen auf halber Strecke zwischen autoritärem Regime und Demokratie.
M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, S. 165.
Hongkong wird man zwar (noch) dazu zählen können,