Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Ausgangspunkt. Die Legitimität jeder Herrschaftsordnung hängt unter anderem von (sozialen) Output-Elementen, von der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ab.[172] Es verwundert daher nicht, wenn der lange so vehement propagierte Rückzug des Staates auch „staatsintern“ |29|zunehmend kritisch gesehen wird, da der Rückgriff auf die „effizienten Märkte“ auch hier nicht zu den Ergebnissen geführt hat, die man sich in sozialer Sicht möglicherweise erhofft hat – die Stichworte „Rekommunalisierung“ und „sozialer Wohnungsbau“ sollen an dieser Stelle genügen. In den Jahren 2020/2021 war es schließlich die Coronapandemie, die verdeutlicht hat, welche Einflussmöglichkeiten der moderne Staat weiterhin hat:[173] Milliarden von Menschen wurden in den Lockdown geschickt, das kulturelle und soziale Leben kam mehr oder weniger zum Stillstand, Grenzen wurden geschlossen. Auch Steffen Mau hält daher zutreffend fest: „Der Staat ist kein Statist der Globalisierung, kein schwacher, ohnmächtiger Akteur, der den Phänomenen der Grenzüberschreitung nur unbehelligt zuschauen kann. Ganz im Gegenteil: Seine oft verborgene und zurückgenommene Macht trat in der Pandemie unübersehbar hervor.“[174] Von diesem pandemiebedingten staatlichen Zugriff blieb auch die internationale Wirtschaftsordnung nicht verschont – auch diese beruht nicht auf Naturgesetzlichkeiten, sondern auf politischen und damit umkehrbaren Entscheidungen.[175] Wer sie erhalten will, muss sich auf die politische Debatte einlassen; die Ausgestaltung der Handelsbeziehungen versteht sich nicht von selbst, die Staaten können frei entscheiden, inwieweit sie an ihnen partizipieren oder ihnen gar eine völlig andere Struktur geben wollen.
Man mag diese Wiederbelebung des (souveränen) Staates aufgrund der neuartigen und zweifellos sozial ungerecht ausgestalteten Abschottungstendenzen[176] ablehnen – der späte Zygmunt Baumann sprach kritisch von einem „Zeitalter der Nostalgie“[177] in das wir eingetreten sind – und daher für dessen Überwindung eintreten.[178] Allein gegenwärtig ist der Staat weiterhin auch im Innern der bedeutendste politische Akteur,[179] oder mit Erhard Eppler: „Das nächstbessere Modell hat noch niemand entworfen“.[180] Die Vorstellung, dass die Globalisierung mit der umfassenden Aufhebung nationaler Grenzen |30|einhergehen würde, war ohnehin zu pauschal und richtete den Blick zu einseitig-idealistisch auf wenige privilegierte Bevölkerungsgruppen des globalen Nordens.[181] Es geht aktuell damit also weniger um die Überwindung des modernen Staates als um die Einhegung eines destruktiven und autoritären Nationalismus,[182] der mit dem modernen Staat zwar zusammengehen kann, aber nicht zusammengehen muss[183] – das beweist der Blick in die Historie. Der Nationalismus ist wie der Nationalstaat eine Idee des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, als der moderne Staat längst etabliert war.[184] Gerade dem demokratischen Verfassungsstaat ist es zuzutrauen, die Geißel des feindseligen Nationalismus, dessen zerstörerische Kraft sich in zwei Weltkriegen und zahlreichen weiteren Auseinandersetzungen auf so schreckliche Weise offenbart hat,[185] dauerhaft zu zähmen. Unlängst hat Yascha Mounk dazu die Etablierung eines „inklusiven Patriotismus“ vorgeschlagen.[186] An anderer Stelle habe ich das Konzept des denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates entworfen, einen „Staat ohne Nation“, in dem Nation und Nationalismus als letzte sakrale Elemente von der staatlichen in die private Sphäre verbannt werden.[187] Die (wissenschaftliche und praktische) Überzeugungskraft dieser und anderer Konzepte wird sich zeigen. Erinnert sei aber daran, dass auch der säkulare demokratische Verfassungsstaat, der „Staat ohne Gott“,[188] über Jahrhunderte reifen musste. An dieser Stelle war allein darzulegen, dass die Überwindung des modernen Staates (wenn überhaupt) ein Zukunfts- und jedenfalls kein Gegenwartsthema ist, das gegen eine im Jetzt ruhende Allgemeine Staatslehre vorgebracht werden könnte. Der moderne Staat hat seine Bedeutung als weltweiter politischer Primärraum noch nicht verloren und |31|wird sie auf absehbare Zeit nicht verlieren. Wer sich schon Anfang der 90er Jahre auf dem Weg in eine friedvolle „post-hobbesianische“ politische Ordnung wähnte,[189] sieht sich getäuscht: „From the surge of populist discontent to the backlash against supranational courts and challenges to the multilateral architecture of the post-war international order, the demise of the state prophesied by earlier literature appears to have been, like the rumours about Mark Twain’s death, greatly exaggerated.“[190] So wie das vielzitierte „Ende der Geschichte“[191] ist auch das „Ende des modernen Staates“[192] zu früh ausgerufen worden[193] – dass beide Thesen im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges in einer Zeit der weitverbreiteten (aber mit Jan-Werner Müller keineswegs allgemein-umfassenden)[194] Hoffnung artikuliert und vertreten wurden, dürfte im Übrigen kein Zufall sein.
Eine moderne Allgemeine Staatslehre muss die geschilderten transformatorischen Veränderungen und den damit einhergehenden Wandel von Staatlichkeit,[195] den „Staat als Prozess“[196] selbstverständlich aufnehmen und verarbeiten.[197] Sie kommt nicht ohne Abschnitte zur Internationalisierung, zur Supranationalisierung[198] und zu gesellschaftlichen Machtverschiebungen aus[199] – in der Coronapandemie kam zuletzt verstärkt die Frage auf, welche Rolle ExpertInnen in einer Demokratie zukommen sollte (beziehungsweise |32|darf)[200] – und muss sich zudem zu (vermeintlichen) globalisierungsbedingten Steuerungsverlusten verhalten:[201] Bedarf es als Antwort möglicherweise mehr Supranationalisierung? Wie verhält sich die Abgabe von Befugnissen an entsprechende Organisationen zur Legitimität der staatlichen Ordnung? Wie können Verlierer der Globalisierung ansprechend entschädigt werden? Festzuhalten aber bleibt: Ihren Gegenstand als solchen hat die Allgemeine Staatslehre bisher nicht verloren,[202] die räumlich-fundierte Staatsgewalt hat ihre zentrale Bedeutung nicht eingebüßt.[203] Es geht mithin darum „den evidenten Wandel von Staatsaufgaben, des Staatsverständnisses, der Staatsfinanzierung und einzelner Staatsfunktionen usw. näher zu beschreiben und zu analysieren“[204] und, so wäre zu ergänzen, auch zu kritisieren. Welche Rolle kann ein gewandelter, „offener“ moderner Staat im Zeitalter der Globalisierung spielen und welche Rolle sollte er – auch und gerade für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung[205] – spielen? Diese Aufgabe kann der Allgemeinen Staatslehre schon deshalb gut gelingen, weil ihr zu keinem Zeitpunkt ein einheitlicher, abgeschlossener und Veränderungen nicht zugänglicher Staatsbegriff zugrunde lag. Wie Andreas Voßkuhle festgestellt hat, hätten weder Hermann Heller (Staat als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit) noch Hans Kelsen (Staat als Rechtsordnung) größere Probleme damit gehabt, die geschilderten Entwicklungen in ihre Staatslehre zu integrieren.[206] Für Carl Schmitt oder auch Ernst Forsthoff gilt das freilich nicht.
Fußnoten
Das gilt natürlich im Besonderen für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Dazu etwa A. Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, 2017.
Vgl. S. Breuer, Der Staat, S. 10: „Im Zuge seiner Eingliederung in internationale Ordnungen und Vertragswerke hat der souveräne Nationalstaat darüber hinaus so viele seiner Kompetenzen abgeben müssen, dass manche Beobachter sein Ende einläuten.“ Historisch ist die These vom Ende des Staates freilich keine neue, vgl. A. Benz, Der moderne Staat, S. 259 ff.
Vgl. auch S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, S. 25.
Vgl. M. Zürn, Schwarz-Rot-Grün-Braun: Reaktionsweisen auf Denationalisierung, in: U. Beck, Politik der Globalisierung, S. 297 (298, 326). Siehe auch C. Crouch, Postdemokratie revisited, S. 25.
Zum Konzept der Souveränität knapp H. Zapf, Souveränität – Ideengeschichtliche Genese, Krisendiagnosen und Herausforderungen, in: L. Bahmer u.a., Staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert, S. 1 ff.