Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.dem Staat – begründe für sich noch keine interdisziplinären Erkenntnisinteressen. Speziell für die Jurisprudenz komme nach Möllers hinzu, dass diese als dogmatische Normwissenschaft den Raum für die Aufnahme interdisziplinärer Beziehungen noch weiter einschränke.[211] Die formulierten Einwände sind nicht neu – schon Hermann Hellers Staatslehre enthielt als Reaktion auf die Kritik Hans Kelsens einen langen Abschnitt zur Methodenfrage,[212] ebenso diejenige Georg Jellineks.[213] Sie wiegen gleichwohl schwer, treffen eine Allgemeine Staatslehre mit ihrem ausdrücklich interdisziplinären Ansatz sozusagen ins Mark und werden auch von renommierten Vertretern des Fachs wie Reinhard Zippelius – schon aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung des öffentlichen Rechts und der sozialwissenschaftlichen |34|Nachbardisziplinen – nicht in Abrede gestellt.[214] Ihnen zu begegnen fällt nicht ganz leicht. Nach hier vertretener Ansicht stehen sie gleichwohl dem „bewusst unzureichenden Versuch“ einer Allgemeinen Staatslehre als Experimentierfeld nicht im Wege.
Zunächst sind gewisse Zweifel angebracht, ob die Jurisprudenz tatsächlich so ungeeignet für den interdisziplinären Diskurs ist. Ist es wirklich so, dass, wie Christoph Möllers meint, „nicht klar ist, was Juristen zu einer nichtjuristischen Annäherung [an den Staat, A. T.] beitragen sollten“? Diesen Einwand wird man mit Jörn Lüdemann als überzogen zurückweisen können. Die Rechtswissenschaft hat im interdisziplinären Gespräch durchaus etwas anzubieten: „Denn das Recht ist nicht allein ein wohlgeordnetes Normensystem, sondern zugleich eine wahre Fundgrube geronnener Erfahrung. Es wäre geradezu leichtsinnig, diesen kollektiven Erfahrungsschatz durch sozialwissenschaftliche Forschung schlicht substituieren zu wollen.“[215] Fragte man bei Vertretern anderer Disziplinen nach, dürfte ein entsprechender Mehrwert auch kaum geleugnet werden.[216] Ein jüngeres Beispiel für eine solche gegenseitige Befruchtung ist die Dissertation der Politikwissenschaftlerin Verena Frick.[217] Aber auch die Debatte um die Zulässigkeit des „Nudging“[218] und den „libertären Paternalismus“ verläuft im juristisch-sozialwissenschaftlichen Dialog und prominente „Ethikräte“ sind mit Vertretern unterschiedlicher Disziplinen besetzt, zu denen auch JuristInnen gehören. In den beiden letzten Fällen sind es Debatten um das Verständnis der Menschenwürde, das die verschiedenen Disziplinen zusammenführt, aber auch beim Umgang mit der Coronapandemie zeigte sich das Potenzial interdisziplinärer Kooperation. Und wie verhält es sich eigentlich mit der „ökonomischen Analyse des |35|Rechts“?[219]
Gewichtiger ist die Behauptung der generellen „Unmöglichkeit von Interdisziplinarität“ mangels konsentierter Methode und nicht zu bewältigender Stoffmenge bei der Betrachtung des „ganzen Staates“. Wissenschaftstheoretisch wird man diese – auch wenn es anregende methodische Ansätze gibt[220] – kaum oder nur sehr schwer widerlegen können; die nicht zu vermeidenden Zufälligkeiten bei der Konzeption der Allgemeinen Staatslehre sind erwähnt worden. Bezogen auf das Verhältnis von Geschichts- und Rechtswissenschaft hat Sebastian Schwab unlängst festgestellt: „Nun war und ist es aber nicht so, dass das Recht nicht mehr auf Historizität Bezug nimmt. Es stillt seinen Bedarf nur anders – und zwar, in den meisten Fällen, dilettantisch.“[221] Die Frage ist aber, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Streng genommen müsste die Konsequenz lauten, jede Form der (scheinbar) interdisziplinären Wissenschaft von vornherein schlicht sein zu lassen. Nachfragen bei anderen Disziplinen blieben danach möglich, aber allein um, wie Möllers es formuliert, „wissenschaftliche Disziplinen aus der eigenen Stagnation zu befreien“.[222] Soll das wirklich die Lösung sein? Das erscheint aus zwei Gründen fragwürdig.
Zum einen schließt der Einwand von der (vermeintlichen) theoretischen Unmöglichkeit auf die praktische Sinnlosigkeit des Vorhabens. Weil es theoretisch nicht gelingt, umfassend rationale interdisziplinäre Erkenntnismethoden zu konstruieren, wird der Allgemeinen Staatslehre von vornherein jeder wissenschaftlich-brauchbare Erkenntnisgewinn abgesprochen: Das große umfassende Buch über den Staat sei eben nicht zu machen. Allgemeine Staatslehre lässt sich freilich nicht nur vom Ergebnis her denken, sondern auch als „ein Unternehmen verstehen, das wissenschaftliche Neuerungen aus überraschenden Verknüpfungen von normalerweise als getrennt angesehenen Disziplinen gewinnt.“[223] Solche Neuerungen sind weder von vornherein ausgeschlossen, noch notwendig völlig unbrauchbar für die Einzeldisziplinen, können vielmehr über ihre bloße „Destagnation“ hinausgehen. Thomas Vesting verweist etwa auf die von Hans-Jörg Rheinberger entwickelte Idee der „Experimentalkultur“. Diese ist zwar vor allem für die Laborwissenschaften erdacht worden, lässt sich aber auch für die Allgemeine Staatslehre fruchtbar machen. „Experimentalkulturen sind bewegliche Forschungsfelder, die ständig |36|dazu tendieren, die Konturen und Grenzen etablierter Fächer mit ihren Ausbildungsnormen, Lehrplänen und institutionell verankerten und verfestigten Kommunikationsstrukturen zu verschieben, sie zu verwischen, aufzulösen und umzuschreiben. Experimentalkulturen, nicht Disziplinen, legen fest, wie weit zu einem bestimmten Zeitpunkt die materiell vermittelte wissenschaftliche Kooperation, die wissenschaftliche Konkurrenz und der Spielraum epistemischer Verhandlungen reichen.“[224] Es mag daher in manchen Fällen (mit Möllers) so sein, dass das Interesse an einem gemeinsamen Gegenstand keine interdisziplinären Erkenntnisinteressen begründet. Ob sich das am Ende aber auch praktisch und stets bewahrheitet, lässt sich nicht vorhersagen, weil sich die gemeinsamen Erkenntnisinteressen vielleicht erst im interdisziplinären Gespräch ergeben. In den Naturwissenschaften, aber auch in der Mathematik würde man das kaum bezweifeln. Die Ausdifferenzierung der Rechts- und Sozialwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert macht die Angelegenheit gewiss nicht leichter. Eventuell kann sich die Allgemeine Staatslehre aber auch als eine Art Gegenbewegung präsentieren, die in all dem wissenschaftlichen „Klein-Klein“ und der damit einhergehenden „Wiederverrätselung der Welt“[225] versucht, das „große Ganze“ nicht aus dem Blick zu verlieren und allzu differenzierte und kleinteilige Wissenschaftsdisziplinen[226] wieder (partiell) zusammen zu führen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen[227] oder Erkenntnislücken überhaupt sichtbar zu machen. Ähnlich stellen Ran Hirschl und Jan Mertens hinsichtlich der „künstlichen“ Trennung von Verfassungsrechts- und Politikwissenschaft fest: „Eine Aufrechterhaltung der Trennung dieser Bereiche, die sich mit den verschiedenen Aspekten derselben konstitutionellen Phänomene befassen, begrenzt künstlich und unnötig unseren intellektuellen Horizont. Sie begrenzt die Art von Fragen, die wir stellen, und die Vielfalt der Antworten, die wir geben |37|können.“[228] Und später: „Eine Abgrenzung von Disziplinen trägt generell nicht zu einem Verständnis des Gesamtgeschehens unserer Zeit bei.“[229] Tatsächlich klingt auch Möllers in späteren Arbeiten optimistischer, zumindest aber gnädiger im Hinblick auf den Versuch einer Allgemeinen Staatslehre.[230] Forschungsprojekte würden neuerdings doch immer häufiger interdisziplinär und um einen konkreten Gegenstand herum konstruiert, ohne dass sich die Akteure von theoretischen Methodenfragen von vornherein abschrecken ließen. Möllers selbst nennt die Kulturwissenschaften, die Gender-Studies oder die Holocaust-Forschung.[231] Heute würde man noch die Digitalisierung oder – etwas spezieller – das autonome Fahren[232] aber auch den Klimaschutz erwähnen können. Unlängst ist zudem der erste von Anselm Doering-Manteuffel, Bernd Greiner und Oliver Lepsius herausgegebene Band des Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte erschienen, der sich aus unterschiedlichen Disziplinen dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts widmet.[233] Dass dieser Band keine interessanten und neuartigen Ergebnisse geliefert hätte, wird man nicht sagen können, wenngleich der Mehrwert für die einzelnen Disziplinen nicht immer umgehend erkennbar sein mag. Aber sollte „der Staat“ wirklich von vornherein kein tauglicher gemeinsamer Gegenstand in diesem Sinne sein können? Es spricht damit auch eine Art wissenschaftliche Doppelhypothese für den „bewusst unzureichenden Versuch“ einer Allgemeinen Staatslehre: Für die Wissenschaft wäre es danach schlimmer, wenn bedeutende Erkenntnisse ausblieben, weil man von vornherein von einer interdisziplinären Allgemeinen Staatslehre absähe, als wenn eine versuchte Allgemeine Staatslehre nichts oder wenig Erhellendes hervorbringen würde. Ein solcher Versuch wäre in dieser Interpretation keine |38|antiquierte und obsolete Idee als vielmehr Ausdruck eines wiederentdeckten und „modernen“ Wissenschaftsverständnisses[234] und damit „das Gebot der Stunde.“[235] So gesehen wären es die Kritiker selbst, die sich wissenschaftlicher Modernität mit ihrem Beharren auf Methodenreinheit verweigerten.
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