Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.die man bei der Betrachtung dieser Periode als maßgeblich erachtet, sind zudem von den eigenen Vorstellungen über das „Wesen“ des Staates, von der eigenen „Staatslegende“ abhängig. Daraus folgt erstens, dass es ebenso erwartbar, wie unschädlich ist, dass sich die gefundenen Merkmale in den Details unterscheiden. Wichtig ist, die eigenen Ergebnisse nicht absolut zu setzen, sondern nur als ein mögliches Verständnis, ein denkbares Szenario in den Staatsdiskurs einzustellen. Zweitens ergibt sich daraus, dass die begriffliche Debatte zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen angesehen werden kann. Der Begriff des modernen Staates ist in seiner historischen Fundierung (schon aufgrund neuer Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft, der politischen Anthropologie etc.) ebenso wandelbar, wie sich die heutige Staatenwelt permanent wandelt. Die historischen Wesensmerkmale des modernen Staates |45|sollten daher in all ihrer Offenheit auch in Zukunft zentraler Forschungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre bleiben.
Vor diesem Hintergrund sollte die Entstehungszeit des modernen Staates – im Einklang mit der überwiegenden Ansicht in der Literatur[256] – in die europäische Neuzeit verlegt werden.[257] Um möglichen Missverständnissen sogleich zu begegnen: Damit soll weder behauptet werden, dass es keinerlei außereuropäische Staatsentwicklungen gegeben hätte oder dass die Herrschaftsstrukturen dort „unmodern“, „unpolitisch“ oder gar „unzivilisiert“ gewesen seien, wie dies zur Zeit der Kolonialisierung dieser Gebiete ab dem 16. und bis ins 20. Jahrhundert oftmals geschehen ist.[258] Das Gegenteil ist richtig und die Integration der neueren Erkenntnisse über die vielfältigen historischen und keineswegs unpolitischen frühen (segmentären und tribalistischen) Gemeinschaften in Amerika, Afrika, Asien, Australien und Neuseeland in den modernen Staatsbegriff sollte stärker betrieben werden als bisher. Gleichwohl zeigt sich im Europa der Neuzeit eine Entwicklung, die zumindest für die Herausbildung des heutigen Staatensystems – es besteht mittlerweile praktisch ausschließlich aus Nationalstaaten europäischer Art, wie sie sich zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben – prägend war und die sich in dieser Form auf den anderen Kontinenten in dieser Dichte nicht ereignet hat. Die Entdeckung der Vernunft, die gesellschaftlichen und technischen Neuerungen[259] leiteten signifikante Veränderungen der bestehenden Herrschaftsstrukturen ein. Diese verdichteten sich in der Folge, um sich sodann durch Kolonialisierung und „Selbstverwestlichung“[260] auf dem gesamten Erdball zu verbreiten[261] und im Anschluss an die im 20. Jahrhundert (formal) abgeschlossene Dekolonialisierung zum weltweiten „Staatsstandard“ zu mutieren. Erneut sei aber betont: Auch diese Ausbreitungsgeschichte ist in all ihren Facetten noch nicht |46|erzählt[262] und darf nicht die signifikanten Unterschiede negieren, die in den einzelnen Weltregionen schon aufgrund der vielfältigen Kolonisierungsformen und unterschiedlichen lokalen Herrschaftstypen bis heute bestehen. Hier bleibt – nicht nur, aber vor allem – auf dem afrikanischen Kontinent mit seinen komplexen vorkolonialen tribalistischen Herrschaftsformen außerordentlich viel zu tun.[263] Dass diese Zeit Auswirkungen auch auf die heutige Situation hat, zeigt die Auseinandersetzung der deutschen Bundesregierung mit den Herero und Nama im heutigen Namibia (ehemals Deutsch-Südwestafrika) über eine Entschädigung, aber auch über eine angemessene Erinnerungskultur[264] für die grausamen Gewalttaten bis hin zum Völkermord, die ihnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts von deutschen Kolonialherren angetan wurden.[265] Generell ist im 21. Jahrhundert in vielen ehemaligen Kolonialstaaten eine neue Verantwortungsdebatte entstanden, die sich nicht allein auf die Frage der Rückgabe (in der Regel geraubter)[266] kolonialer Kunstschätze reduzieren lässt, sondern auch allgemeine Fragen der Staatlichkeit umfasst.[267]
Unter Beachtung dieser Einschränkungen sind es aus meiner Sicht die folgenden acht Merkmale, die das Wesen des modernen Staates europäischer Prägung ausmachen:[268]
Zentralisierung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse. War die Macht im Feudalismus des Spätmittelalters noch in einem diffusen System auf zahlreiche Personen und die Kirche aufgeteilt,[269] kam es mit dem moralischen Verfall der Kirche und den folgenden Religionskriegen ab dem 14. Jahrhundert zu einer Machtkonzentration beim Monarchen, bei dem sich nicht zuletzt die Streitentscheidungskompetenzen bündelten. Die Stände wurden entmachtet und es folgte die Ära des |47|Absolutismus:[270] „L’État c’est moi!“[271] Theoretisch unterfüttert wurden diese Entwicklungen durch Jean Bodin, der den vielleicht umstrittensten Begriff in die Allgemeine Staatslehre einführte: „Souveränität“. Ein umfassendes, auch faktisches Gewaltmonopol ging mit der Zentralisierung allerdings zu keiner Zeit einher – die lokalen Herrschaftsträger blieben im täglichen Leben auch in der Hochzeit des Absolutismus schon aus organisatorisch-technischen Gründen von großer Bedeutung. Die „Souveränität“ der ersten modernen Staaten nachträglich zu verklären, erscheint daher wenig überzeugend.[272]
Säkularisierung bei Konfessionalisierung. Die Entdeckung der Vernunft führte zu einer Trennung der geistlichen von der weltlichen Sphäre, wobei sich der weltliche Monarch langfristig den Primat, den „Suprematieanspruch“,[273] sicherte. Er hatte auf seinem Territorium das letzte Wort und zwar auch im Hinblick auf Fragen der Religion. Religion spielte damit in der Anfangszeit noch eine große, vielleicht sogar die bedeutendste Rolle für den modernen Staat. Es kam also zu einer Säkularisierung,[274] aber nicht zu einer Entkonfessionalisierung des Staates. Bis zum „Staat ohne Gott“, wie ihn Horst Dreier zuletzt beschrieben hat und in dem die Religion prinzipiell zur Privatsache erklärt wird,[275] sollte es noch einige Jahrhunderte dauern – vollständig durchgesetzt hat sich dieses Konzept bis heute nur in wenigen modernen Staaten.
Territoriale Abgrenzung und Entpersonalisierung. Im Zusammenhang mit der Konfessionalisierung stand die Territorialisierung der Herrschaft, die sich fortan vornehmlich über ihr Staatsgebiet und weniger über die konkrete Person des Herrschers definierte. Es kam zu einer Entpersonalisierung, der Staat wurde zur Körperschaft, deren nicht zuletzt territoriale Existenz vom Herrscher unabhängig war – nach dem Tode Karls des Großen war dessen Reich noch wie selbstverständlich unter den Nachkommen aufgeteilt worden. Die seitdem entstehenden „festen“ Grenzen waren aber vornehmlich räumliche Abgrenzungen der Herrschaftsgewalt und keine für Menschen physisch unüberwindbaren Barrieren. Anfangs waren es |48|angesichts der vorherrschenden ökonomischen Theorie – dem Merkantilismus – auch weniger fremde Menschen, die auf dem eigenen Staatsgebiet unerwünscht waren als aus dem Ausland stammende Waren. Aktuell scheint es im „entfesselten und globalisierten Kapitalismus“ umgekehrt zu sein.[276] Grenzenlos ist die Welt heute allenfalls für einen kleinen Kreis privilegierter Personen, während der Großteil praktisch überall außen vor bleibt. Die Grenze ist als „Sortiermaschine“[277] im 21. Jahrhundert insofern präsenter denn je: „Den Prozess der Globalisierung in seinem Kern als Entgrenzung zu verstehen, ist daher vereinseitigend, aus meiner Sicht sogar irreführend.“[278] Der moderne Staat hat seine Territorialität in Zeiten der Globalisierung nicht verloren, die unzähligen Menschen, die vor Grenzen „gesammelt, rückgestaut oder aufgehalten“[279] werden, legen davon Zeugnis ab.
Gestaltung durch Gesetzgebung. War die Ordnung des Mittelalters noch vornehmlich eine erkennende, wurde sie mit der Entdeckung der Vernunft zunehmend zu einer vom Menschen selbst vor allem durch Recht gestalteten Ordnung:[280] Der moderne Staat ist Gesetzgebungsstaat. Damit übernahm der Herrscher zugleich die Verantwortung für die Ausgestaltung dieser Ordnung: Er konnte gestalten, aber nunmehr musste er auch gestalten. Es fanden sich umfangreiche Regelungen zur „guten Policey“ mit denen der Herrscher versuchte, sowohl die Gefahrenabwehr als auch die allgemeine Wohlfahrtspflege zu organisieren und nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Die neuen Ordnungen ließen kaum einen Bereich aus und reichten von der Kleiderordnung bis hin zum schicklichen Verhalten in der Öffentlichkeit. Allerdings verlief dieser Prozess in den einzelnen Staaten unterschiedlich. In Großbritannien und den USA wird man der Gesetzgebung erst Ende des 19. Jahrhunderts eine größere Rolle zusprechen können.[281]
Ausbildung einer zentralen Bürokratie. Die Gestaltung durch Gesetze aber auch die Konfessionalisierung bedurfte der konkreten Umsetzung innerhalb des gesamten Territoriums der einzelnen Staaten. Nach dem Vorbild der katholischen Kirche entwickelte sich eine zentralisierte Verwaltung, die im Übrigen auch von technischen Neuerungen (wie der Postkutsche) profitierte. Verwaltung ist auch heute der Aspekt von Staatlichkeit, dem |49|die BürgerInnen am häufigsten begegnen: „Der Alltag von Herrschaft ist Verwaltung.“[282]