Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.an der zentralen Funktion eines spezifisch völkerrechtlichen Staatsbegriffs vorbei. Dieser muss in der Lage sein, die faktische staatliche Vielfalt unter sich zu vereinen,[311] nicht aber das „wahre Sein“ des Staates gänzlich zu erfassen.[312] Es ist insofern nicht ausgeschlossen, Staatlichkeit enger oder anders zu fassen (siehe dazu sogleich); allein die Eignung einer solchen Konzeption als völkerrechtliche Staatsdefinition wäre dann in Frage gestellt. Jedenfalls eignet sich die völkerrechtliche Staatsdefinition nur bedingt dazu, „Staatspolitik“ zu betreiben, um auf diesem scheinbar formalem Wege eine bestimmte Vorstellung von Staatlichkeit zum völkerrechtlichen Normmodell zu erklären.[313] Eine tauglichere als die Jellinek’sche Definition ist vor diesem Hintergrund bisher zumindest nicht gelungen. Dieser Befund schließt nicht aus, die einzelnen Elemente näher zu betrachten und auch kritisch im Hinblick auf ihre Bedeutung zu hinterfragen. Auch hier gilt es auf wandelnde Verhältnisse und technische Möglichkeiten einzugehen – in den nächsten Jahren dürfte sich etwa die Frage stellen, wo der Weltraum beginnt (und damit der Staat völkerrechtlich „endet“) und unter welchen Voraussetzungen extraterrestrische Gebiete (Mond? Mars?) zum Staatsgebiet gerechnet werden können:[314] „However, perhaps the most fascinating development of current times is that our |54|geopolitical power struggles are now breaking free of our earthly restraints and being projected into space. Who owns space? How do you decide?“[315] Dabei handelt es sich weniger um eine originäre Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre als um eine solche des Völkerrechts. Die Allgemeine Staatslehre muss deren Erkenntnisse integrieren, ist aber nicht dazu aufgerufen, einen eigenen völkerrechtlichen Staatsbegriff zu entwickeln.
5. Weitere Staatsbegriffe
Originäres Terrain der Allgemeinen Staatslehre wird allerdings dort betreten, wo es um die Entwicklung allgemeiner Staatsbegriffe geht, also versucht wird, das Wesen des modernen Staates konkret und losgelöst von den historischen Wesensmerkmalen und den völkerrechtlichen Notwendigkeiten zu fassen. Aus einer historisch-theoretischen Perspektive wird man in Anlehnung an die Dissertation von Christoph Möllers[316] die folgenden fünf Konzepte zu dem Kanon zählen können, zu dem sich auch eine moderne Allgemeine Staatslehre weiterhin verhalten sollte:
Zwei-Seiten-Theorie (Georg Jellinek). Jellinek, als Person einer der „Klassiker der Allgemeinen Staatslehre“,[317] unterschied einen Rechts- von einem Sozialbegriff des Staates, mithin eine sozial-faktischen von einer juristisch-normativen Beschreibungsebene von Staatlichkeit:[318] „Die erste hat zum Gegenstand den Staat als soziale Erscheinung. Sie wendet sich den realen, subjektiven und objektiven Vorgängen zu, aus denen das konkrete Leben der Staaten besteht […]. Die zweite hat zum Gegenstand die rechtliche Seite des Staates […]. Die juristische Erkenntnisweise des Staates hat die soziale daher zu ergänzen, ist aber in keiner Weise mit ihr zu vermengen.“[319] Damit konnte der Staat nach Jellinek zwar aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, beide Perspektiven waren aber stets sauber voneinander zu scheiden: „Eine Vermischung des Rechtlichen mit dem, was vor dem Rechte liegt, soll in einer wissenschaftlichen Darstellung der Staatslehre nicht stattfinden.“[320] Damit ging Jellinek das Methodenproblem auf innovative Weise an, er versuchte gewissermaßen zwischen sozialer und normativer Staatslehre zu vermitteln: „Dass es Jellinek |55|in seinen zentralen Positionen und Begriffen vor allem auf die Vermittlung von Faktizität und Normativität ankam, zeigt bereits ein erster Blick in seine Allgemeine Staatslehre.“[321] Überzeugend zu lösen vermochte er das Methodenproblem damit freilich nicht. Mit Christoph Möllers: „Der Anstaltsstaat des staatsrechtlichen Positivismus wird der Wirklichkeit gegenüber gleichzeitig geöffnet und juristisch immunisiert.“[322] Gleichwohl vermag dieser vermittelnde Ansatz erklären, warum Jellinek bis heute besonders rezeptionsfähig erscheint, da jede positive Rechtsordnung weiterhin vor ähnlichen Vermittlungsproblemen steht: Sein Vermittlungsversuch „lässt Georg Jellinek als Klassiker für solche Juristen erscheinen, die für die Vermittlung von Faktizität und Normativität nach historischen Referenztexten suchen, um die normative Argumentation für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu öffnen, ohne gleichzeitig ihren juristischen Methodenanspruch aufzugeben.“[323]
Der Staat als Rechtsordnung (Hans Kelsen).[324] Nach dieser Vorstellung ist das Recht die einzige Ausdrucksform des Staates: Der Staat ist das Recht und das Recht ist der Staat; außerhalb des Rechts gibt es keine Form von Staatlichkeit, kein faktisches Staatswesen, das wie bei Jellinek durch das Recht aufgenommen und geformt werden könnte. In seiner Allgemeinen Staatslehre, die Matthias Jestaedt treffend als die erste Gesamtdarstellung der Reinen Rechtslehre einordnet,[325] führt Kelsen gegen Jellineks „Zwei-Seiten-Theorie“ des Staates gerichtet aus: „Ist erkannt, dass die Existenzsphäre des Staates normative Geltung und nicht kausale Wirksamkeit, dass jene spezifische Einheit, die wir in dem Begriff des Staates setzen nicht in der Welt der Naturwirklichkeit, sondern in jener der Normen oder des Wertes liegt, dass der Staat seinem Wesen nach ein System von Normen oder der Ausdruck für die Einheit eines solchen Systems ist, dann ist damit die Erkenntnis, dass der Staat als Ordnung nur die Rechtsordnung oder der Ausdruck ihrer Einheit sein kann, eigentlich schon erreicht […]. Ist der Staat ein Normensystem, kann er nur die positive Rechtsordnung sein, weil neben dieser die Geltung einer anderen Ordnung ausgeschlossen sein muss.“[326] Es ging bei Kelsen insofern nicht nur darum, den juristischen Staatsbegriff noch stärker in den Fokus zu rücken. Vielmehr behauptete |56|er die Unmöglichkeit eines außerrechtlichen Staatsbegriffs (auch für andere Disziplinen):[327] „Von jenem Gegensatz zwischen Staat und Recht, der die heutige Theorie beherrscht, kann jedenfalls keine Rede sein.“[328] Horst Dreier fasst diese Gedanken folgendermaßen zusammen: „Für Kelsen steht der Staat weder vor noch hinter und schon gar nicht über der Rechtsordnung, für ihn ist der Staat die Rechtsordnung; Staat und Recht sind identisch.“[329] Eine Erkenntnis, die Kelsen schließlich „zu der fragwürdigen, rein begrifflichen und deshalb auch bloß tautologischen Schlussfolgerung führt: ‚Jeder Staat ist Rechtsstaat.‘“[330] Auch deshalb dürfte sich Kelsens Staatsverständnis in der Folge nicht durchgesetzt haben;[331] die Indifferenz bezüglich unterschiedlicher Staatsformen[332] (Demokratie oder Diktatur) spielte demgegenüber wohl eher eine geringere Rolle. Die Lektüre seiner von brillanten Gedanken durchzogenen Allgemeinen Staatslehre sei im Übrigen gleichwohl wärmstens empfohlen.
Der faktische Staatsbegriff (Carl Schmitt). Gewissermaßen das Gegenmodell zu Kelsen bildete das Staatsverständnis Carl Schmitts, indem nicht die normative, sondern die faktische Seite des Staates in den Vordergrund gerückt wurde (wenngleich stets auf die konkrete Verfassung bezogen). Der Staat war damit für Schmitt bereits vorrechtlich existent und zwar als politische Einheit eines Volkes, das durch diese Einheit erst in die Lage versetzt wurde, sich und damit den Staat (in einer Verfassung) zu verrechtlichen. Diese vorrechtliche Einheit wirkte aber auch nach der Verrechtlichung als politische Seite des Staates fort und konnte Abweichungen von der Rechtsordnung legitimieren – etwa, wenn andernfalls die politische Einheit in Gefahr geriete. Hierin wurzelt denn auch der berühmte Ausspruch Schmitts wonach souverän derjenige ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Schmitt plädierte daher für eine strikte Trennung von dem die Einheit repräsentierenden Staat und der Gesellschaft/Wirtschaft und sah mit deren zunehmender Vermischung (vor allem durch die Parlamentarisierung und die Ausweitung des Sozialstaats) konsequenterweise bereits das Ende der (beziehungsweise jedenfalls seiner Vorstellung von) Staatlichkeit angebrochen.
|57|Wirklichkeitswissenschaftliches Staatsverständnis (Hermann Heller). Für Hermann Heller war vor allem die politische Wirklichkeit entscheidend, wenn es darum ging, den Staat zu definieren. Zentral waren für ihn daher die wirklichkeitsbezogenen Wissenschaften (Sozialwissenschaften). Er wandte sich damit nicht zuletzt gegen Kelsens positivistische (und entpolitisierende) Verrechtlichung, sah aber auch Jellinek insgesamt als zu unpolitisch an. Die verfasste politische Einheit (Schmitt) war für Heller zwar durchaus relevant, allerdings nicht in Form einer unveränderlichen und vorrechtlichen oder vorstaatlichen Einheit. Vielmehr beschrieb Heller das Volk als vielfältig, dass sich daher nur punktuell und situationsbezogen zu einer Einheit zusammenfinden kann, die vom Staat immer wieder hergestellt werden muss. Der Staat war für Heller daher eine organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit, die sich von anderen