Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Merkels über eine verfassungsrechtliche Amtszeitbegrenzung des Regierungschefs diskutiert.[246] Eine Allgemeine Staatslehre kann nicht nur aufzeigen, wo entsprechende Begrenzungen bereits bestehen (selten in parlamentarischen, häufig in präsidentiellen Regierungssystemen), sondern auch, welche Vor- und Nachteile damit einhergehen und inwiefern sie mit parlamentarischen Regierungssystemen vereinbar sind. Sie öffnet den Erfahrungsschatz moderner Staatlichkeit für aktuelle Debatten, holt diese aus dem Bereich der Vermutungen und Mutmaßungen heraus und trägt zu deren Rationalisierung bei: „Das Spezifische dieser Disziplin besteht eben nicht in der Ausbildung abstrakt-begrifflicher (Staats-)Definitionen, sondern in der Distanz zu Einzelphänomenen, die vor allem über eine theoretisch angeleitete, typisierende und vergleichende Betrachtungsweise gewonnen wird.“[247] Wäre die Einführung direktdemokratischer Elemente sinnvoll? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?[248] Wann ist die Errichtung unabhängiger Verwaltungsbehörden empfehlenswert?[249] Wie lässt sich |41|Verwaltung generell organisieren? Wo liegen Vor- und Nachteile? Wie gehen andere Verfassungsgerichte mit dem Problem ihrer Politisierung um? Um die Beantwortung solcher Fragen geht es. Damit setzt eine Allgemeine Staatslehre keineswegs die Annahme einer „vorverfassten“ oder einer „vorverfassungsrechtlichen Staatlichkeit“ voraus. Dass es letztlich also „nur so viel Staat [gibt], wie die Verfassung konstituiert“,[250] ist eine Aussage, mit der eine moderne Allgemeine Staatslehre problemlos umgehen und die ihr daher nicht als prinzipieller Einwand entgegengehalten werden kann. Im Gegenteil: Weil der Staat eine formbare sozial-normative Konstruktion ist, kann ihr kritischer Blick etwas bewirken.
Fußnoten
P. Häberle, Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: K. Weber/I. Rath-Kathrein (Hrsg.), Neue Wege der Allgemeinen Staatslehre, S. 29 ff.
Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 123.
Für eine synonyme Verwendung dieser Begriffe C. Möllers, Staat als Argument, S. 429.
S. Breuer, Der Staat, S. 12.
Dazu auch A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 317 ff.
A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3). Siehe auch M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 202: „Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen.“
Vgl. A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 332 ff.
Dazu umfassend zuletzt etwa P. Tucker, Unelected Power, 2018.
So P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 620.
|43|C. Zehn Fragen an eine Allgemeine Staatslehre
im 21. Jahrhundert
„Diese Staatslehre, die der Verfasser als Ergebnis einer Bemühung von beinahe 35 Jahren vorlegt, will wahrhaft eine Lehre vom Staat sein.“
Herbert Krüger [251]
„Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“
Roman Herzog [252]
„Der Staat ist ein in seiner Komplexität unerschöpfliches Thema.“
Martin Kriele [253]
Wenn eine Allgemeine Staatslehre nicht nur möglich, sondern zugleich sinnvoll erscheint, stellt sich die Frage nach dem Forschungsprogramm, ihren „Aufgaben“. Diese sind, wie Roman Herzog festhält, nicht statisch festgeschrieben, sondern wandeln sich mit den Herausforderungen der Staatenwelt.[254] Was sollte eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert umfassen, welchen Fragen an den Staat sollte sie sich widmen? Nach dem Gesagten kann es sich nur um einen subjektiven Vorschlag handeln, einen Debattenbeitrag, der zugleich mögliche Forschungsprojekte skizziert. Formuliert werden zehn Fragen, auf die eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“ Antworten liefern, zumindest Antwortvorschläge machen sollte. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Allgemeine Staatslehre umrissen. Die ersten vier Fragen behandeln die Grundlagen und beleuchten das Phänomen moderner Staatlichkeit an sich; sie fallen in ihrer vorläufigen Beantwortung kürzer aus. Ab der fünften Frage rücken die Charakteristika und die Struktur des |44|demokratischen Verfassungsstaates in das Zentrum der Betrachtungen – die Antworten werden länger.
Fußnoten
H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Vorwort S. V.
R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15.
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 1.
R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15.
I. Was ist der „moderne Staat“ und wie ist sein
Verhältnis zur Gesellschaft?
1. Der moderne Staat als Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre
Den zentralen Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre bildet der moderne Staat. Damit ist allerdings noch nicht geklärt – es wurde angedeutet –, was den modernen Staat kennzeichnet, diesen aus historischer Perspektive von nicht-modernen Formen von Staatlichkeit früherer Hochkulturen unterscheidet. In dieser Frage besteht keine Einigkeit, weder im Hinblick auf die zeitliche und örtliche Einordnung der Entstehung des modernen Staates, noch auf die konkreten historischen Wesensmerkmale, die diesen charakterisieren.[255] Dieser Disput wird entschärft, wenn man sich das Prozesshafte der Entwicklung und die Abhängigkeit der Einordnung von der eigenen Staatstheorie in Erinnerung ruft. Der Staat entstand nicht in Form einer eruptiven Entladung aus den vormodernen Herrschaftssystemen und war plötzlich „da“. Die Suche nach einem konkreten Entstehungsdatum erscheint insofern wenig sinnvoll, angeben lässt sich allenfalls eine zeitliche Periode, in der sich der moderne Staat allmählich herausbildete. Es geht um einen schleichenden und Jahrhunderte dauernden Prozess, der zudem in unterschiedlichen Regionen in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten