Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.für die Anerkennung der Herrschaftsordnung durch die Herrschaftsunterworfenen, also die Legitimität derselben.
Errichtung eines stehenden Heeres. Mit der Veränderung der Kriegsführungstechniken ging eine professionellere Organisation der militärischen Verteidigung einher. Ausgehend von den Niederlanden und Schweden wurde der besoldete und unter Waffen stehende Soldat, der auch in Friedenszeiten seine Stellung behält, zum neuen militärischen Standard. Dazu bedurfte es eines umfassenden militärischen Verwaltungsapparates und entsprechender Infrastruktur (vor allem über das gesamte Territorium verteilte Kasernen). Das Militär wurde zu einem wirksamen Macht- und Symbolfaktor des zentral agierenden Herrschers (Frankreich, Preußen). In vielen Staaten kommt dem Militär bis heute eine erhebliche Integrationskraft selbst in Friedenszeiten zu (USA, Frankreich). In Deutschland ist das aus historischen Gründen anders.
Umfassende Steuerfinanzierung. Im Mittelalter kam der Herrscher im Wesentlichen selbst für die Kosten der Herrschaft auf. Die Finanzierung des modernen, gestaltenden und verwaltenden Staates war auf diesem Wege nicht mehr zu leisten. Im Laufe der Zeit trat daher die Steuer als dauerhafte Einnahmequelle an die Stelle der Selbstfinanzierung: Der moderne Staat ist Steuerstaat.[283] Diese Entwicklung war für den Prozess der Parlamentarisierung und damit den demokratischen Verfassungsstaat bedeutend. Die Ständevertretungen, die für die Bewilligung der Steuern verantwortlich zeichneten, waren die Vorläufer der heutigen Parlamente. Das Budgetbewilligungsrecht bildet weiterhin eine der parlamentarischen Kernkompetenzen.
Staatsvolk? Ein formales Staatsvolk, eine formale Staatsangehörigkeit kannte der moderne Staat lange Zeit nicht. Die Herrschaft war im Wesentlichen nicht personal, sondern territorial organisiert – zumindest wenn man auf die zentrale staatliche Ebene blickt.[284] Auch die Konfession ließ sich nicht als Staatsangehörigkeitsersatz interpretieren, schon weil es nur zwei (später drei) unterschiedliche Konfessionen gab[285] und diese zudem prinzipiell frei wählbar waren. Erst die Demokratiebewegung begründete das Bedürfnis ein irgendwie geartetes Volk von anderen Völkern abzugrenzen.[286] Die Idee, die in diesem Zusammenhang geboren beziehungsweise |50|„erfunden“[287] wurde, war die der Nation – ein mehr als folgenreiches Konzept für den modernen Staat.[288]
2. Der Nationalstaat als zentrale moderne (gescheiterte) Kategorie
Die modernen Staaten sind heute praktisch ausschließlich als Nationalstaaten konstruiert,[289] kennen neben einer nationalen Staatsangehörigkeit eine Nationalhymne, eine Nationalflagge sowie weitere nationale Symbole und sind – bis auf wenige Ausnahmen – in den Vereinten Nationen international organisiert.[290] Daraus wird bereits ersichtlich, dass sich dem Umstand Nationalstaat zu sein noch nichts über die innere Organisation des jeweiligen Staates entnehmen lässt. Handelt es sich um ein demokratisches oder ein autoritäres Regime, um eine Monarchie oder eine Republik? Entgegen den Vorstellungen der ersten Nationalisten hat sich das Konzept des Nationalstaats als überaus flexibel erwiesen und verträgt sich prinzipiell mit praktisch jeder innerstaatlichen Ordnung.[291] Auch ist es – noch nicht einmal in Europa – weder gelungen die einzelnen Nationen überschneidungsfrei voneinander abzugrenzen geschweige denn jeder dieser Nationen als Ausgangspunkt einer friedlichen nationalstaatlichen Weltordnung ihren eigenen Staat zuzuweisen. In jedem Nationalstaat finden sich bis heute ethnische, religiöse oder sonstige Minderheiten, mit denen die Nationalstaaten umgehen müssen, was mal besser und mal schlechter gelingt; teilweise wird durch extreme Assimilierungspolitiken versucht, die Unterschiedlichkeiten zugunsten einer erwünschten Homogenität des Staatsvolkes (gewaltsam) zu unterdrücken, in anderen Fällen werden die Minderheiten schlicht aus der Öffentlichkeit verbannt und in Arbeitslager gesteckt (so etwa die Uiguren in der Volksrepublik China). Etliche Nationen fühlen sich bis heute um ihren eigenen Nationalstaat betrogen (Kurden, Katalanen, Schotten). Faktisch bleibt der Vielvölkerstaat insofern die staatliche Normalität. Mit anderen Worten: Das Konzept des Nationalstaats wird man als im Kern gescheitert ansehen müssen. Die Idee der Nation hat zwar beachtliche Leistungen im Hinblick auf die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates geleistet. Eine zentrale Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre sollte es nun jedoch sein, Möglichkeiten aufzuzeigen, den Nationalstaat (nicht aber Staatlichkeit an sich) zu überwinden und Staatsmodelle zu entwickeln, die besser geeignet sind, die |51|heutigen komplexen staatlichen Integrationsaufgaben zu meistern und die die Schwierigkeiten, die mit dem Nationsbegriff verknüpft sind, vermeiden.[292]
3. Der demokratische Verfassungsstaat
Ein solches Modell kann der demokratische Verfassungsstaat sein, der sich mit der amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete[293] und sich dann in mehreren Wellen[294] über den Erdball ausbreitete.[295] Anders als der Nationalstaat ist er im Hinblick auf die innere Struktur des Staates nicht mehr neutral und damit das anspruchsvollere Modell:[296] Er beruht auf der Idee der gleichen (politischen) Freiheit aller als dem demokratischen Grundversprechen und setzt daher neben dem Ausgang der gesamten Staatsgewalt vom Volk die Aufteilung dieser Staatsgewalt auf unterschiedliche Institutionen (Gewaltenteilung), die Gewährleistung fundamentaler Grund- und Menschenrechte sowie den Vorrang der Verfassung voraus. Wie der Nationalstaat kommt auch dieser allerdings nicht umhin, die Zugehörigkeit zum demokratischen Staatswesen über die Staatsangehörigkeit formal zu regeln.[297] Ohne eine formale Zuordnung ist Demokratie nicht denkbar – einerseits, weil klar sein muss, wer zum Volk gehört, von dem die Staatsgewalt ausgeht, andererseits, weil Solidarität[298] und Zusammenhalt[299] (unter anderem in Form eines Sozialstaats) an eine geteilte Idee der Zugehörigkeit geknüpft sind.[300] Allerdings sollte diese Zuordnung gerade nicht auf einer wie auch immer gearteten Nation beruhen,[301] da eine solche gewisse Defizite |52|aufweist. Insgesamt drei Probleme einer solchen „Integration durch Nation“ sind zu beklagen: Erstens wird dadurch die Zusammengehörigkeit im Jetzt durch den Blick in eine (vermeintlich) geteilte Vergangenheit begründet. Das war in der Anfangszeit der Nationsidee kaum anders machbar, erscheint heute aber unnötig. Da es um eine Integration im Jetzt geht, sollte die Integration auch auf einer im Jetzt ruhenden Idee basieren. Damit wird – entgegen dem Vorwurf von Aleida Assmann – nicht pauschal die Bedeutung einer angemessenen Erinnerungskultur geleugnet.[302] Zumindest für das friedliche und integrierte Zusammenleben im Jetzt erfolgt aber durchaus eine gewisse Verschiebung des Blicks weg von der (nationalen und tendenziell exkludierenden) Vergangenheit hin zur (denationalisierten) Gegenwart. Das Stichwort, das an späterer Stelle noch einmal aufzunehmen ist lautet hier: Verfassungspatriotismus.[303] Zweitens ist unklar, welche Merkmale eine Nation in diesem Sinne begründen. Das macht die Idee anfällig für Missbrauch und allzu konstruierte (beliebige) Zusammengehörigkeiten – ein Phänomen, das bis heute immer wieder vorkommt und für politische Ziele instrumentalisiert wird.[304] Drittens ist die Zugehörigkeit zu einer Nation in vielen Fällen nicht erlernbar. Wo sich eine Nation ethnisch, religiös oder über territoriale Abstammung definiert, kann eine Integration von Neuankömmlingen schon formal nicht gelingen. Die betreffenden Personen bleiben BürgerInnen zweiter Klasse. Die Denationalisierung des demokratischen Verfassungsstaates könnte einen Weg darstellen, diesen Problemen zu begegnen.[305] Die Nation würde nach diesem „Zusammengehörigkeitsnarrativ“[306] – so wie zuvor die Religion – zur Privatsache erklärt („Staat ohne Nation“), hätte dort aber weiterhin ihren Platz. Die Zugehörigkeit zum demokratischen Gemeinwesen würde hingegen über die Anerkennung erlernbarer materiell-formeller Wertevorstellungen erfolgen, die primär in der Verfassung verankert sind.[307] Darauf wird bei der letzten Frage zurückzukommen sein.
4. Der völkerrechtliche Staatsbegriff
Das Bedürfnis nach einem völkerrechtlichen Staatsbegriff, der von den unterschiedlichen internen Verhältnissen der einzelnen Staaten abstrahiert, ist weiterhin aktuell und entfiele nur, soweit sich eine einzige interne Struktur (etwa in Form des denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates) |53|endgültig und weltweit umfassend durchsetzen sollte. Es entstand erstmals, nachdem Anfang des 19. Jahrhunderts mit den USA und den ersten südamerikanischen nicht-monarchischen Nationalstaaten Akteure die staatliche Bühne betraten, deren Staatsqualität nicht aufgrund ihrer kontinentalen Verortung (Europa) und ihrer Staatsstruktur (Monarchie) von vornherein feststand. Die Kritik an der heute herrschenden „Drei-Elemente-Lehre“