Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
Читать онлайн книгу.Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft
Damit ist zugleich ein Thema angerissen, das seit jeher auch Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre war:[348] Das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft.[349] Seit ihrer Herausbildung Ende des 17. Jahrhunderts hat sich diese Dichotomie immer wieder gewandelt. Sie darf im modernen demokratischen Verfassungsstaat nicht mehr mit ihrer strikten Entgegensetzung oder Beziehungslosigkeit verwechselt werden, die allenfalls für die Zeit des Spätabsolutismus und frühen Konstitutionalismus kennzeichnend war.[350] Wer dies verlangt, muss tatsächlich (wie Carl Schmitt oder Ernst Forsthoff) nicht zuletzt mit der Ausweitung des Sozialstaats seit dem Ende des 19., vollends aber seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende moderner Staatlichkeit gekommen sehen. Andererseits kann aus der faktischen Identität zwischen Herrschenden und Beherrschten in einer demokratischen Ordnung nicht von einer Auflösung dieser Dichotomie gesprochen werden. Der Staat ist entgegen den Vorstellungen Konrad Hesses nicht zur bloßen „Selbstorganisation der Gesellschaft“[351] geworden. An der Unterscheidung ist vielmehr festzuhalten und insofern wird man Ernst Forsthoff folgen können: Wo diese Dichotomie aufhört, hört zumindest der demokratische Verfassungsstaat auf.[352]
Speziell für den demokratischen Verfassungsstaat vernachlässigt Hesse, dass dieser nicht nur auf Gleichheit, sondern auch auf Freiheit und zwar gerade auf Freiheit vom Staat beruht. Während in „totalen Demokratien“ |62|die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft tatsächlich endet, wird sie im demokratischen Verfassungsstaat durch das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere die Grundrechte,[353] aufrechterhalten und gepflegt.[354] Es sichert einen „Raum der Dunkelheit“ außerhalb der staatlichen Ausleuchtung.[355] Der Wohlfahrtsstaat und das Sozialstaatsprinzip haben zwar noch einmal Veränderungen hervorgebracht. Allerdings wird auch dadurch die Dichotomie nicht durchbrochen, sondern erst vollendet, solange der Staat nicht das soziale Ganze seinem Regelungsanspruch unterwirft. So verstanden steht das Sozialstaatsprinzip dann im Dienst der Freiheit und der Gleichheit, indem es einerseits die sozialen Grundlagen sicherstellt, derer es zur Ausübung der individuellen Freiheitsrechte bedarf[356] und andererseits die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft auf einem Niveau hält, das es ermöglicht, dass sich alle Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft auch dauerhaft als (politisch) Gleiche er- und anerkennen können.[357] Die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips in diesem Sinne ist dann keine Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates und der damit einhergehenden Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, sondern Funktionsbedingung desselben.
|63|Bedrohlicher gerade aus der Sicht der Allgemeinen Staatslehre ist die Auffassung, dass der Staat zwar weiterhin von der Gesellschaft unterschieden werden kann, im Hinblick auf die Ausübung von Herrschaftsbefugnissen aber zu einem (qualitativ nicht-besonderen) Akteur unter vielen geworden ist. Diese These trifft sich mit dem oben geschilderten Einwand, wonach die Allgemeine Staatslehre ihren zentralen Gegenstand verliert, der moderne Staat sich aber jedenfalls nicht mehr als zentraler Forschungsgegenstand eignet, wenn es um eine umfassende Herrschaftsanalyse geht. Zuletzt ist sie von Udo Di Fabio vorgetragen worden.[358] Die Interaktion mit anderen Funktionssystemen und interne kommunikative Anschlussbedingungen erforderten danach eine andere, abstraktere (vom modernen Staat gelöste) Analyse von Macht und Herrschaft, die Zusammenhänge von Institutionen, funktionellen Leistungen und ideellen Prägekräften sichtbar mache. Der moderne Staat sei bereits seit längerem nicht mehr der klärende Ausgangspunkt oder die Matrix für Theoriebildung; Staaten, supranationale oder internationale Organisationen seien zwar unzweifelhaft wichtig, aber nicht notwendigerweise und immer das Zentrum politischer Herrschaft, wenn man unter Macht die Steigerung der Wahrscheinlichkeit zur Übernahme fremder Selektionen und Handlungsperspektiven (Gehorsam) verstehe. Der Sache nach liegt diese These aber auch dem Konzept des Netzwerkstaats Vestings zugrunde, wenn dieser unter Berufung auf Hermann Hellers Vorstellung vom Staat als besondere organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit ausführt, dass „gegenwärtig keine Rede mehr davon sein [kann], dass der Staat den Menschen als Organisation ‚in ganz anderer Weise zu ergreifen vermag als die sonstigen Organisationen‘.“[359] Wenn Vesting zur Bestätigung seiner These unter anderem darauf verweist, dass selbst ein Land wie Deutschland „ohne Regierung funktioniert und monatelange Koalitionsverhandlungen das Alltagsleben nicht wirklich berühren“,[360] so wird man dem allerdings zweierlei entgegenhalten können: Erstens bestand selbstverständlich zu jeder Zeit eine geschäftsführende Regierung und zweitens – so würde gerade Max Weber betonen – ist der Alltag von Herrschaft die Verwaltung. Und die zentrale staatliche Verwaltung des Alltagslebens wurde von den Koalitionsverhandlungen in keiner Weise berührt – wäre sie es gewesen, hätten wir es gespürt.[361] Im Zusammenhang mit der Coronapandemie ist zudem deutlich geworden, welche besonderen Macht- und Durchsetzungsoptionen der moderne Staat im Vergleich zu sonstigen gesellschaftlichen Herrschaftsträgern zumindest in einer solchen Ausnahmesituation besitzt. Gleichwohl scheinen |64|zumindest die sozialen Medien (Facebook, Twitter, Instagram) diese These für „normale Zeiten“ zu stützen. Man denke an das Phänomen der Echokammern, das unlängst von Cass Sunstein analysiert worden ist.[362] Paul Collier hat die zentralen Akteure dieser Medien gar als die neuen „dezentralisierten Anführer der Gesellschaft“[363] bezeichnet. Dennoch bleibt der moderne Staat nach hier vertretener Ansicht auch insoweit der zentrale Herrschaftsakteur, gerade weil er als einzige „Entscheidungs- und Wirkungseinheit“ die Möglichkeit hat, regulierend einzugreifen und die Existenz entsprechender Phänomene zu beeinflussen. Wer anderes behauptet, schließt allzu schnell von der faktischen Existenz dieser Entwicklungen auf ihre natürliche Notwendigkeit und Nichtbeeinflussbarkeit. Es stimmt insofern, dass der Staat hier nur selten eingreift. Es stimmt aber auch, dass er jederzeit eingreifen könnte, wenn er wollte. Insofern sollte auch die Allgemeine Staatslehre dieser weit verbreiteten (und bisweilen in einer generell staatsskeptischen Ideologie wurzelnden) Ansicht nicht kampflos das Feld räumen. Ohnehin sind gesellschaftliche und andere nicht-staatliche Herrschaftsträger seit jeher Bestandteil einer umfassenden Allgemeinen Staatslehre und müssen es auch sein[364] – dass die Souveränität des modernen Staates immer auf faktische Schranken stieß, ist erwähnt worden. Insofern sollten die aktuellen Entwicklungen nicht zu schnell als qualitativer Sprung gewertet werden, der der Idee einer Allgemeinen Staatslehre das Fundament nimmt, auf dem sie errichtet ist. Dass hier aber eine zentrale Debatte liegen dürfte, die innerhalb der Allgemeinen Staatslehre (und möglicherweise auch gegen sie) geführt werden muss, liegt auf der Hand.[365]
Fußnoten
Siehe auch U. Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003.
Siehe auch E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 11; E. Özmen, Politische Philosophie, S. 18; M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 5; E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4 ff.; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 202; A. Gamper, Staat und Verfassung, S. 30.
A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 16 ff.
Auch der einleitende Satz „Europa hat den Staat erfunden“ von Wolfgang Reinhard in seinem bedeutenden Werk „Geschichte der Staatsgewalt“ (3. Auflage 2003) sollte nicht in diesem exkludierenden Sinne interpretiert werden.
Das betrifft die Urbanisierung ebenso wie die Entwicklung der Postkutsche.
Ein von Jürgen Osterhammel geprägter Begriff, vgl. J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt,