Die wirkliche Lage in Rußland . Leo Trotzki

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Die wirkliche Lage in Rußland  - Leo Trotzki


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Stellen mit Stalinisten, wurde ein besonderes Geschäft, das mit den Gesichtspunkten unserer Politik nichts mehr zu tun hatte. Dies ist der Grund, warum Lenin in Erwägung der Möglichkeit seines Abscheidens der Partei seinen letzten Rat gab: Entfernt Stalin, er würde die Partei zur Zersplitterung und zum Ruin führen.

      Die Partei erfuhr nicht rechtzeitig von diesem Rat, eine ausgesiebte Bureaukratie hielt seinen Brief zurück. Die Folgen davon sehen wir jetzt in ihrer ganzen Größe. Die herrschende Gruppe glaubt, daß sie mit Gewaltmitteln alles erreichen kann. Das ist ein tiefer Irrtum. Gewalt kann eine ungeheure Rolle in einer Revolution spielen, aber nur unter einer Bedingung – wenn sie einer ehrlichen Klassenpolitik unterworfen bleibt. Die Gewaltanwendung der Bolschewisten gegen die Bourgeoisie, gegen die Menschewisten, gegen die Sozialrevolutionäre, wie sie unter bestimmten historischen Bedingungen vor sich ging, führte zu riesenhaften Ergebnissen. Die Gewalttaten Kerenskis und Tseretellis gegen die Bolschewisten haben nur den Zusammenbruch des kompromißlerischen Regimes beschleunigt. Aber die jetzt herrschende Gruppe benutzt Verbannung, Verhaftung und Arbeitsentziehung als Unterdrückungs- und Einschüchterungsmittel gegen ihre eigne Partei. Das Arbeitermitglied fürchtet sich, in seinem eignen Lokalverband, seine Gedanken auszusprechen. Es fürchtet sich, nach seinem Gewissen zu stimmen. Unsere Partei, angeblich der höchste Ausdruck der Diktatur des Proletariats, wird von einer Diktatur der Bureaukratie terrorisiert. Indem Sie aber die Partei terrorisieren, vermindern Sie Ihre Fähigkeit, die Feinde des Proletariats in Furcht zu halten.

      Aber eine Organisationsleitung führt kein von andern unabhängiges Leben. In der Parteileitung findet der ganze politische Kurs der Partei seinen Ausdruck. Dieser politische Kurs hat in den letzten Jahren hin und her geschwankt – sein Klassenherz und seine Triebkraft haben von links nach rechts geschwankt, von den Proletariern zu den Kleinbürgern, vom ungelernten Arbeiter zum Spezialisten, vom gewöhnlichen Parteimitglied zum Funktionär, vom Landarbeiter und Kleinbauern zum Kulak, zum reichen Bauern, vom Schanghai-Arbeiter zu Tchang Kai-schek, von den chinesischen Bauern zu den bürgerlichen Generalen, von den englischen Proletariern zu Purcell, Hicks und dem Generalausschuß – und so endlos weiter. Darin liegt das Wesen des Stalinismus.

      Auf den ersten Blick scheint es ja, als ob der Stalinkurs vollständig siegreich gewesen sei. Die Stalinpartei scheint ihre Hiebe nach links auszuteilen (in Moskau und Leningrad) und auch nach rechts (im nördlichen Kaukasus). In Wirklichkeit geht aber die ganze Politik dieser zentristischen Partei selbst auch unter den Hieben von zwei Peitschen vorwärts – einer Peitsche von rechts und einer von links. Diese bureaukratische, zentristische Partei, die jeder Klassengrundlage entbehrt, taumelt zwischen zwei Klassenlinien daher mit dem Plan, von dem proletarischen zu dem kleinbürgerlichen Kurs hinüberzuschleichen. Sie tut dies aber nicht in einer direkten Linie, sondern in scharfen Zickzackschwankungen. Wir haben viele von diesen Zickzackbewegungen in der Vergangenheit gehabt. Besonders scharf und auffällig war die Verbreiterung der Wahlrechte unter dem Druck der Kulaks, der reichen Bauern (ein Peitschenhieb von rechts) und dann die Aufhebung dieser Anordnung unter dem Druck der Opposition (ein Hieb von links). Wir haben viele von diesen Zickzackbewegungen gesehen in den Bereichen der Arbeitergesetzgebung, der Lohnpolitik, der Steuerpolitik, der Politik gegen das Privateigentum usw. Aber im ganzen ist der Kurs unentwegt nach rechts abgewichen. Das jüngste Manifest ist eine unbestreitbare Zickzackbewegung nach links. Aber wir werden unsere Augen nicht einen Moment der Tatsache verschließen, daß diese Zickzackbewegung nicht im mindesten den allgemeinen politischen Kurs ändert und daß sie in Wirklichkeit – und zwar in sehr naher Zukunft – das Abtreiben des herrschenden Zentrums nach rechts beschleunigen wird.

      Das heutige Geschrei nach einer »verstärkten Attacke« auf die Kulaks, auf die wohlhabenden Bauern – auf dieselben Kulaks, denen Sie gestern noch zuschrien: »Bereichert euch!« – kann die allgemeine Richtung nicht ändern. Alljährliche Jubiläumsversprechungen in bezug auf den Siebenstunden-Arbeitstag können sie auch nicht ändern. Die politische Richtung der augenblicklichen Führerschaft wird nicht durch diese vereinzelten spekulativen Gesten bestimmt, sondern durch das Gefolge, das diese Führerschaft in ihrem Kampfe gegen die Opposition um sich versammelt hat. Durch das Stalinistische System, durch die Stalinistische Herrschaft, sind jetzt die Kräfte, die den proletarischen Vorkämpfer niederdrücken, der Bureaukrat, der Arbeitsausbeuter, der Verwalter, der industrielle Geschäftsführer, der neue Privatkapitalist, die privilegierte Intelligenz in Stadt und Land – alle diese Elemente, die anfangen, den Kulak, den reich gewordenen Bauer, dem arbeitenden Mann als Muster vorzuhalten, und sagen: »Vergiß nicht, es ist jetzt nicht mehr 1918, mein Freund.«

      Nicht die nach links gerichtete Geste entscheidet, sondern der grundlegende politische Kurs. Die Auswahl Ihrer Kollegen entscheidet. Der leitende Stab entscheidet. Der soziale Anhang. Sie können nicht die Stimme des Arbeiters unterdrücken und zugleich den Kulak angreifen. Diese beiden Dinge sind unvereinbar. Ihr fortwährendes Streben nach links wird, sobald man es in die Wirklichkeit umsetzen will, einer unnachgiebigen Opposition in den Reihen Ihrer eigenen Majorität begegnen. Heute zu sagen: »Bereichert euch!« und morgen: »Fort mit dem Kulak!«, das ist für Leute wie Bucharin sehr leicht. Er taucht seine Feder ein und ist fertig. Er hat nichts zu verlieren. Aber der Kulak, der Geschäftsunternehmer, der mächtige Bureaukrat, der Spezialist – die sehen das anders an. Diese Leute haben keinen Sinn für plötzliche Seitensprünge und Jahresfeiern. Sie werden aber ihr Wort zu sagen wissen.

      Genosse Tomski, der Gewerkschaftsführer, der in einer übleren Lage steckt als irgend jemand anderes, wandte sich in scharfer Opposition gegen die neueste Rechtsschwenkung. Tomski hat eine Ahnung von dem, was die Arbeiter in den Gewerkschaften fragen werden. Er wird derjenige sein, der zu antworten hat. Morgen werden die Arbeiter von Tomski verlangen, daß er endlich dieses Abweichen nach rechts aufhalten und für den im Manifest angekündigten Linkskurs eintreten soll. Dies ist die Ursache zu dem unvermeidlichen Kampf innerhalb des regierenden Blocks. In unserem rechten Flügel gibt es eine Tendenz nach der Seite der industriellen Unternehmer und eine nach der Seite der Gewerkschaften. Sie arbeiten eine Zeitlang zusammen, wie es oft in der Geschichte der Arbeiterbewegung geschehen ist. Aber dieses Jubiläumsmanifest für einen Ruck nach links treibt einen Keil zwischen die Unternehmer und die Gewerkschaftler. Der berufsmäßige Bureaukrat, der zwischen ihnen hin und herschwankt, wird deren Unterstützung verlieren.

      Dieses Jubiläumsmanifest ist auf der einen Seite eine ganz unzweifelhafte und feierliche Anerkennung, daß die Ansichten der Opposition über alle tieferen Probleme unseres Stadt- und Landlebens die richtigen sind. Auf der anderen Seite ist er eine politische Selbstverwerfung der herrschenden Partei, ein Bekenntnis ihres eigenen Bankrotts. Es ist ein Bekenntnis in Worten von Leuten, die nicht imstande sind, irgend etwas in Taten zu zeigen. Dieses Jubiläumsmanifest wird den politischen Zusammenbruch des gegenwärtigen Kurses nicht aufhalten, sondern beschleunigen.

      Das Regime der Unterdrückung der Partei entspringt unvermeidlich der ganzen Politik dieser Führerschaft. Hinter dem Rücken der extremen Bureaukraten steht die erwachende innere Bourgeoisie, hinter deren Rücken die Weltbourgeoisie. Alle diese Kräfte drücken auf den proletarischen Vorkämpfer und hindern ihn, seinen Kopf zu erheben, oder seinen Mund aufzutun. Je mehr die Politik des Zentralausschusses von dem Wege der proletarischen Klasse abweicht, desto mehr ist sie gezwungen, mit Methoden der Unterdrückung dem Proletarier diese Politik aufzuzwingen. Das ist die Grundursache für die augenblicklichen unerträglichen Zustände in der Parteileitung.

      Wenn die Martinows, Schmerals, Rafieses und Peppers die Leitung in der chinesischen Revolution spielen, und Mrachkowski, Serebriakow, Preobraschenski, Scharow und Sarkis aus der Partei ausgestoßen werden, weil sie ein bolschewistisches Programm für den kommenden Kongreß drucken und verbreiten, so tragen diese Tatsachen nicht nur ein innerpolitisches Gepräge. Sie sind ein allgemeiner Ausdruck für den schwindenden Klassenkampfcharakter unserer Politik. Die Weltbourgeoisie und die innere Bourgeoisie – diese natürlich nicht in einem so unverschämtem Maße – drücken gemeinsam gegen die Diktatur des Proletariats und seine proletarischen Vorkämpfer, und diesem doppelten Druck muß man gleichzeitig begegnen. Diejenigen Elemente aber in der arbeitenden Klasse und in der Partei, die zuerst diese heranrückende Gefahr fühlten und von ihr sprachen – die wirklich revolutionären, entschlossenen, weitblickenden und unbeugsamen Vorkämpfer der Arbeiterklasse – sie bilden heute die Reihen der Opposition. Diese Reihen füllen sich, sowohl in unserer Partei, wie


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