Die wirkliche Lage in Rußland . Leo Trotzki
Читать онлайн книгу.nicht in der Richtung, wie sie die Interessen der Arbeiter und Bauern verlangen. Am Vorabend des neuen Kongresses halten wir es für unsere Pflicht, trotz aller Verfolgungen, die wir erlitten haben, mit erneuter Energie die Aufmerksamkeit der Partei auf diese Tatsache zu lenken. Denn wir sind sicher, daß die Lage geändert werden kann. Sie kann geändert werden durch die Partei selbst. Als Lenin sagte, die Maschine ginge öfters so, wie sie von uns feindlich gesinnten Mächten gelenkt würde, richtete er unsere Aufmerksamkeit auf zwei Tatsachen von höchster Bedeutung. Zunächst darauf, daß in unserer Gesellschaft solche, unserer Sache feindlichen Mächte existieren: die Kulaks, die wohlhabenden Bauern – die Nepleute, die neuen Privatkapitalisten – und schließlich die Bureaukraten–, die sich unsere Untätigkeit und unsere politischen Fehler zunutze machen und auf die Unterstützung des internationalen Kapitalismus rechnen. Zweitens auf die Tatsache, daß diese Mächte stark genug sind, unsere Regierungs- und Wirtschaftsmaschine nach der falschen Richtung zu drängen und schließlich sogar zu versuchen – zunächst in versteckter Weise – das Steuer der Maschine zu ergreifen.
Lenins Worte haben uns allen die folgenden Verpflichtungen auferlegt:
1 Sorgfältig das Anwachsen dieser feindlichen Mächte der Kulaks, der Nepleute und der Bureaukraten zu beobachten.
2 Daran zu denken, daß mit dem allgemeinen Wiederaufblühen des Landes diese Mächte danach streben werden, auch ihre eigenen Ansprüche zu vergrößern und unter einem stets wachsenden Druck auf unsere Politik ihre persönlichen Interessen durch unser System zu befriedigen.
3 Alle nur möglichen Maßnahmen zu ergreifen, das Anwachsen, das Zusammenarbeiten und den Druck dieser feindlichen Mächte zu schwächen und sie an der Durchführung eines unsichtbaren, aber tatsächlich vorhandenen Zweikräftesystems, auf das sie hinarbeiten, zu hindern.
4 Die volle Wahrheit über diese Vorgänge allen arbeitenden Massen offen mitzuteilen. Hierin nämlich liegt die Hauptaufgabe gegenüber einer thermidoristischen Gefahr und dem gegen sie gerichteten Kampf. Seit Lenin seine Warnung ausgesprochen hat, haben sich viele Dinge gebessert, viele aber auch verschlechtert. Der Einfluß des staatlichen Beamtenapparats wächst an, aber damit auch die Bedrückung der Arbeiter durch die Bureaukratie. Das absolute und relative Anwachsen des Kapitalismus auf dem Lande und sein absolutes Anwachsen in den Städten beginnen bei den bürgerlichen Elementen unseres Landes ein politisches Selbstbewußtsein hervorzurufen. Diese Elemente versuchen – nicht immer ohne Erfolg – die Kommunisten, mit denen sie bei der Arbeit oder auch gesellschaftlich in Kontakt kommen, zu zermürben. Die Parole, die Stalin auf dem vierzehnten Parteikongreß ausgegeben hat, »Gefahr von links!« kann nur die Union der rechtsstehenden Elemente in der Partei mit den bürgerlichgesinnten Elementen im Lande fördern.
Die Frage: »Wer siegt?«,wird durch einen unaufhörlichen Klassenkampf auf allen Frontabschnitten des ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens entschieden werden – durch einen Kampf um einen sozialistischen oder kapitalistischen Entwicklungsgang und eine Verteilung des nationalen Einkommens je nach dem Siege der einen oder der andern Entwicklung. In einem Lande mit kleinen und ganz kleinen Bauern und Eigentümern entwickeln sich die wichtigsten Dinge häufig in zusammenhangloser und versteckter Weise und brechen dann »unerwartet« an die Oberfläche empor.
Das Auftreten von kapitalistischen Elementen zeigt sich zunächst in der Bildung von Klassenunterschieden auf dem Lande und in einer Vermehrung der Privatkapitalisten in der Stadt. Die oberen Kreise auf dem Lande und die bürgerlichen Elemente in der Stadt verweben sich immer dichter mit den verschiedenen Zweigen unseres staatswirtschaftlichen Systems. Und dieses System ist nicht selten der neuen Bourgeoisie behilflich, unter einem statistischen Nebel ihre erfolgreichen Bemühungen um eine Vergrößerung des Anteils am Nationaleinkommen zu verschleiern.
Das staatliche, genossenschaftliche und private Handelssystem verschlingt einen enormen Teil unseres Nationaleinkommens, mehr als ein Zehntel der Gesamtproduktion. Auf der andern Seite hat das Privatkapital als Handelsvermittler in den letzten Jahren beträchtlich mehr als ein Fünftel des gesamten Handels in seinen Händen gehabt – in absoluten Zahlen, mehr als fünf Billionen im Jahr. Bis heute hat der einfache Verbraucher mehr als 50 Prozent der von ihm benötigten Produkte durch die privatkapitalistischen Vermittler bezogen. Für die Privatkapitalisten ist das eine Hauptquelle des Profits und der Akkumulation. Die Ungleichheit zwischen den Preisen für ländliche und industrielle Erzeugnisse, zwischen den Groß- und Kleinhandelspreisen, der Unterschied zwischen den Preisen in den einzelnen Zweigen der Landwirtschaft je nach den Gegenden und Jahreszeiten, und schließlich der Unterschied zwischen den einheimischen und den Weltpreisen (Schmuggel), sind ständige Quellen privater Bereicherung.
Das Privatkapital erhebt wucherische Zinsen durch Darlehen und verdient Geld an den Staatspapieren.
Die Rolle, die das private Kapital in der Industrie spielt, ist also eine recht beträchtliche. Selbst wenn es in der letzten Zeit relativ abgenommen hat, so hat es sich doch absolut vermehrt. Die eingetragene privatkapitalistische Industrie zeigt eine Gesamtproduktion von 400 Millionen im Jahr. Kleine, im Heim und mit der Hand betriebene Industrien zeigen mehr als 1800 Millionen. Im ganzen macht die Produktion der nicht staatlichen Betriebe mehr als ein Fünftel der gesamten Güterproduktion aus und liefert etwa 40 Prozent der auf den Markt kommenden Waren. Die überwiegende Menge dieser Erzeugung ist auf einem oder anderem Wege an privates Kapital gebunden. Die verschiedenartigen, offenen oder verhüllten Formen der Ausbeutung von Handarbeitern durch Handels- und Heimarbeitskapital ist ganz bedeutend und bildet, was noch wichtiger ist, eine immer stärker werdende Quelle für das Wachstum der neuen Bourgeoisie.
Steuern, Löhne, Preise und Kredit sind die Hauptmittel der Verteilung des nationalen Einkommens, für die Stärkung bestimmter Klassen und die Schwächung anderer.
Die ländliche Steuer im Dorf wird in der Regel in einer verkehrten Progression auferlegt: schwer auf die Schwachen, leichter auf die Starken und auf die Kulaks, die reichen Bauern. Nach annähernden Berechnungen haben 34 Prozent von den armen Landbesitzern der Sowjetunion (selbst unter Fortlassung von Provinzen mit hoher Entwicklung der Klassenunterschiede, wie es die Ukraine, der nördliche Kaukasus und Sibirien sind) 18 Prozent des gesamten Einkommens. Genau dasselbe Totaleinkommen, 18 Prozent, hat die höchste Gruppe, die nur aus 7,5 Prozent der Besitzer besteht. Trotzdem bezahlen beide Gruppen annähernd denselben Betrag, 20 Prozent der gesamten Steuersumme. Aus diesen Zahlen geht einleuchtend hervor, daß auf jedes einzelnen armen Mannes Eigentum die Steuer viel schwerer lastet, als auf dem des Kulaks oder des wohlhabenden Besitzers im allgemeinen. Im Gegensatz zu dem, was die Führer des vierzehnten Kongresses befürchtet haben, hat unsere Steuerpolitik durchaus nicht den Kulak »ausgeplündert«. Sie hindert ihn nicht im geringsten, unaufhörlich größere Mengen von Geld und Gütern anzusammeln.
Die Rolle, die die indirekten Steuern in unserm Budget spielen, wächst in beunruhigendem Maße auf Kosten der direkten Steuern. Dadurch allein wird die Last der Steuern automatisch von den stärkeren Schultern auf die schwächeren abgewälzt. Die Besteuerung der Arbeiter in den Jahren 1925–1926 war zweimal so hoch als in dem vorhergehenden Jahr, während sich die Besteuerung der übrigen städtischen Bevölkerung um 6 Prozent verminderte. Die Branntweinsteuer fällt mit mehr oder weniger unerträglicher Schwere ganz auf die industriellen Bezirke. Die Vermehrung des Einkommens für 1926, verglichen mit 1925, betrug pro Person nach bestimmten, annähernden Berechnungen bei den Bauern 19 Prozent, bei den Arbeitern 26 Prozent, bei den Kaufleuten und Industriellen 46 Prozent. Wenn man die Bauern in drei Hauptgruppen einteilt, wird es zweifellos klar werden, daß sich das Einkommen des wohlhabenden Bauern unverhältnismäßig mehr als daß des Arbeiters vermehrt hat. Das Einkommen der Kaufleute und Industriellen ist unzweifelhaft größer, als es nach den Steuerangaben erscheint. Aber auch diese etwas gefärbten Zahlen beweisen klar das Anwachsen von Klassenunterschieden.
Die »Scheren«, die die Ungleichheit der ländlichen und industriellen Preise darstellen, sind in den letzten anderthalb Jahren noch weiter auseinandergegangen. Der Bauer erhielt für sein Produkt nicht mehr als das Einundeinviertelfache des Vorkriegspreises, und er bezahlte für Industrieprodukte nicht weniger als zweiundzweizehntelmal soviel als vor dem Kriege. Diese Mehrbezahlung durch die Bauern, die auch wieder vorwiegend durch die untern Bauernklassen getragen wurde, ergab im vergangenen Jahr eine Summe von etwa einer