Die wirkliche Lage in Rußland . Leo Trotzki

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Die wirkliche Lage in Rußland  - Leo Trotzki


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Bedrückungen verstärken unsere Reihen, sie gewinnen uns die Besten von den »Alten« der Partei, sie stählen die Jungen und sammeln die echten Bolschewisten unter ihnen um die Opposition. Die Oppositionsleute, die Sie aus der Partei ausgeschlossen haben, sind in Wirklichkeit die besten Parteimitglieder. Die andern aber, die Urheber des Ausschlusses und der Verhaftungen, bilden – auch wenn sie es nicht wissen und nicht verstehen – nur die Instrumente, durch die die andern Klassen das Proletariat zurückdrängen. Indem die herrschende Gruppe versucht, unser Programm in den Schmutz zu treten, erfüllt sie nur das soziale Gebot Ustrialows und der wiederauflebenden kleinen und mittleren Bourgeoisie. Im Gegensatz zu der aussterbenden alten Emigrantenbourgeoisie strebt Ustrialow, der tüchtige, weitblickende Politiker der neuen Bourgeoisie, nicht nach der Gegenrevolution oder nach irgendwelchen Unruhen. Er beabsichtigt keine Stufen zu überspringen. Die nächste Stufe für Ustrialow ist der Stalinkurs. Ustrialow setzt ganz offen auf das Spiel Stalins. Ustrialow verlangt von Stalin, daß er die Opposition beseitigt, und indem Stalin die Mitglieder der Opposition ausschließt und verhaftet und sie einer Thermidorischen Verschwörung und eines Militärkomplotts mit einem Wrangeloffizier beschuldigt, erfüllt er die Befehle Ustrialows.

      Die unmittelbare Aufgabe, die sich Stalin gestellt hat, ist die Zersplitterung der Partei, die Beseitigung der Opposition, die Gewöhnung der Partei an die Methode der Hinrichtungen. Faschistische Banden von Auspfeifern, Fausthiebe, das Werfen mit Büchern und Steinen, die Gefängnisgitter – hier hat das Stalin-Regime einen Augenblick Halt gemacht auf seinem Wege, aber die Richtung ist vorgezeichnet. Warum sollten die Jaroslawskis, Schwerniks, Goloschchokins und andre sich mit der Opposition in ehrliche Auseinandersetzungen über Regierungsstatistiken einlassen, wenn sie einfach einen schweren Band dieser Statistiken einem Oppositionsmann an den Kopf fliegen lassen können? Der Stalinismus findet in einem solchen Akt seinen rückhaltlosesten Ausdruck und scheut sich vor keiner Pöbelei. Und wir wiederholen: Diese faschistischen Methoden sind nur eine blinde und unbewußte Erfüllung von sozialen Befehlen anderer Klassen. Das Ziel ist, die Oppositionsmitglieder auszuschließen und sie womöglich durch Hinrichtung zu beseitigen. Schon kann man Stimmen hören: »Wir werden tausend ausschließen und hundert erschießen, dann haben wir Frieden in der Partei.« Es sind dies Stimmen von elenden, ängstlichen und doch auch teuflisch verblendeten Menschen. Es ist dies die Stimme Thermidors. Die schlechtesten Elemente, durch Macht verdorben, geblendet durch bureaukratischen Haß, bereiten mit aller Kraft den Thermidor, den Tag der Vernichtung der Revolution, vor. Sie brauchen dazu zwei Parteien. Aber alle ihre Gewalttaten werden zerbrechen vor der Macht eines ehrlichen politischen Kurses. In der Hingabe an einen solchen Kurs wird der revolutionäre Mut der oppositionellen Reihen fest zusammenstehen. Stalin wird keine zwei Parteien schaffen. Wir sagen offen zu der Partei: Die Diktatur des Proletariats ist in Gefahr. Und wir sind davon überzeugt, daß die Partei in ihrem proletarischen Kern uns hören und verstehen und daß sie der Gefahr entgegentreten wird. Die Partei ist schon tief aufgerührt. Morgen wird sie bis zum tiefsten Boden aufgerührt sein. Hinter den wenigen tausend Mann in den wirklichen Reihen der Opposition kommt eine zweite und dritte Reihe von solchen, die der Opposition zugetan sind, und hinter ihnen noch eine breitere Schicht von Arbeitermitgliedern, die schon angefangen haben, auf unsere Stimme zu hören und sich nach unserer Seite hin bewegen. Dieser Prozeß kann nicht rückgängig gemacht werden. Die nicht in der Partei befindlichen Arbeiter haben Ihre Lügen und Verleumdungen gegen uns nicht geglaubt. Ihre berechtigte Unzufriedenheit über das Anwachsen von Bureaukratie und Unterdrückung hat die arbeitende Klasse von Leningrad in ihrer Demonstration vom 17. Oktober deutlich zum Ausdruck gebracht. Das Proletariat ist unentwegt für die Sowjetmacht, aber es will eine andere Politik, und es wird sie unwiderstehlich durchsetzen. Ihr System ist machtlos dagegen. Je brutaler Ihre Unterdrückungsmaßregeln sind, um so stärker wird das Ansehen der Opposition in den Augen der einfachen Parteimitglieder und der Arbeiterklasse im allgemeinen. Für jedes Hundert von Oppositionsleuten, das Sie aus der Partei ausstoßen, werden tausend neue in die Partei hineingelangen. Der ausgeschlossene Oppositionsmann fühlt sich immer noch als ein Parteimitglied und bleibt auch eins. Sie können dem echten bolschewistischen Leninisten mit Gewalt die Parteikarte aus der Hand reißen, Sie können ihn für eine Zeit seiner Parteirechte berauben. Aber er wird niemals seinen Parteipflichten entsagen. Als Janson in der Sitzung des Zentral-Kontrollkomitees Mrachkowski fragte, was er tun würde, wenn man ihn aus der Partei ausschlösse, antwortete Genosse Mrachkowski: »Ich werde das Steuer anfassen und den alten Kurs beibehalten.« Wir stehen am Steuer des Bolschewismus, es wird Ihnen nicht gelingen, uns davon fortzureißen. Wir halten es auch weiter fest. Sie werden uns nicht von der Partei abschneiden, Sie werden uns nicht von der arbeitenden Klasse abschneiden. An Bedrückungen sind wir gewöhnt, wir sind auch an Schläge gewöhnt. Wir werden die Oktoberrevolution nicht der Politik eines Stalin überlassen, dessen ganzes Programm in diese wenigen Worte zusammengefaßt werden kann: Unterdrückung des proletarischen Kerns, Verbrüderung mit den Kompromißlern aller Länder, Kapitulation vor der Weltbourgeoisie. Sie schließen uns aus dem Zentralkomitee aus, gerade einen Monat vor Beginn des Parteikongresses, den Sie schon in ein armseliges Werkzeug der Stalinpartei umgewandelt haben. Der fünfzehnte Kongreß wird scheinbar der höchste Triumph Ihres bureaukratischen Systems sein. In Wirklichkeit wird er sich als ein Zeichen Ihres vollständigen politischen Schiffbruchs erweisen. Die Siege der Stalinpartei sind die Siege fremder Klassenmächte über die proletarischen Vorkämpfer. Die Niederlagen der durch Stalin geführten Partei sind Niederlagen der proletarischen Diktatur. Die Partei fühlt dies schon. Wir werden helfen, daß es weiter verstanden wird. Das Programm der Opposition liegt auf dem Tisch der Partei. Nach dem fünfzehnten Kongreß wird die Opposition in der Partei unendlich stärker werden als jetzt. Die Anklageliste der arbeitenden Klasse und die der Partei stimmen nicht überein mit der bureaukratischen Anklageliste Stalins. Das Proletariat denkt langsam, aber es denkt tief. Unser Programm wird diesen Prozeß beschleunigen. Die Entscheidung liegt in letzter Linie in dem Verlauf, den die Politik nimmt, nicht in den Fäusten der Bureaukraten. Schließen Sie uns heute aus dem Zentralausschuß aus, wie Sie gestern Serebriakow und Preobraschenski aus der Partei ausgeschlossen, wie Sie Fischelew und andere ins Gefängnis gesteckt haben. Unser Programm wird seinen Weg finden. Die Arbeiter der ganzen Welt werden sich in tiefer Besorgnis fragen: »Aus welchen Gründen verfemen und verhaften sie am zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution die besten Kämpfer jener Tage? Wer steckt dahinter? Welche Klasse? Etwa die Klasse, die im Oktober gesiegt hat? Oder vielmehr die Klasse, die den Oktobersieg stumpf macht und ihn untergräbt?«

      Selbst die rückständigsten Arbeiter aller Länder werden, durch unsere Bedrückungen erregt, unser Programm in die Hand nehmen, um selbst die Wahrheit über Ihre nichtswürdigen Verleumdungen in der Sache des Wrangeloffiziers und des Militärkomplotts herauszufinden. Ihre Verfolgungen, Ausschließungen, Verhaftungen werden unser Programm zum beliebtesten, gelesensten und geschätztesten Dokument der Arbeiterbewegung machen. Schließen Sie uns aus. Den Sieg der Opposition – den Sieg der revolutionären Einheit unserer Partei und der kommunistischen Internationalen werden Sie nicht aufhalten.

      Zur Einführung

      In seiner Rede auf dem letzten Parteikongreß, dem er beiwohnte, sagte Lenin: »Wir haben hier ein Jahr lang die Staatsgewalt in unsern Händen gehabt – hat sich nun das neue wirtschaftliche System nach unserm Ziel hin entwickelt? Nein. Es ist nicht angenehm, das zuzugeben, aber es war wirklich nicht der Fall. Wie hat es sich denn entwickelt? Die Staatsmaschine geht nicht dahin, wohin wir sie lenken, sondern wohin sie irgendwelche heimliche, ungesetzliche und Gott weiß woher stammende Spekulanten oder privatkapitalistische Geschäftsmenschen lenken. Eine Maschine geht nicht immer genau ihren Weg, sie geht manchmal einen ganz anderen Weg, als sich der einbildet, der am Steuer sitzt.«

      In diesen Worten ist uns der Prüfstein gegeben worden, mit dem wir die Grundprobleme unserer Politik beurteilen sollten. In welcher Richtung geht die Maschine? geht der Staat? geht die Macht? Gehen sie in der Richtung, wie wir, die Kommunisten, die die Interessen und den Willen der Arbeiter und der gewaltigen Masse der Bauern zum Ausdruck bringen, es wünschen? Oder gehn sie nicht in dieser Richtung? Oder nicht »ganz genau« in dieser Richtung?

      In diesen Jahren seit dem Tode Lenins haben wir mehr als einmal versucht, die Aufmerksamkeit der zentralen Organe unserer Partei und später der gesamten Partei auf


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