Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig

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Rasante Zeiten - 1985 etc. - Stefan Koenig


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weniger Berühmten und

      tausenden mutigen Unbekannten.

      Sie kämpfen gegen die abgrundtiefe Bösartigkeit und Ignoranz der Herrschaftseliten, welche die westlichen Demokratien zu Fassadendemokratien umgebaut haben.

      * Auch dem kleinen Maxim Joris gewidmet *

      George Orwell & das Jahr 1984

      Ich war im ersten Moment sprachlos. Noch eben hatte ich unsere Nachbarn für den verabredeten Sauna-Abend an diesem trüb-kalten Novembertag erwartet. Jetzt standen vor unserer Haustür zwei Herren mit dem zweifelhaften Charme grauer Eminenzen und hielten mir ihre Blechmarken unter die Nase.

      „Staatsschutz. Dürfen wir reinkommen?“

      Ich war gerade von meiner Arbeit an der Frankfurter Uni nach Hause gekommen und hatte meine Frau Emma, unsere eineinhalb-jährige Karola und den sechs Wochen alten Luca mit einem Küsschen begrüßt. Es war schön, endlich einmal zeitig zu Hause zu sein. So schön, Ruhe zu haben, bevor die Saunarunde angetanzt kam. So schön, Emma mit den beiden Süßen im Arm auf dem Sofa liegen zu sehen. Ich war entspannt und wollte gerade in die Küche gehen, um meiner Frau und mir einen Tee zu machen, als es geklingelt hatte. Erst einmal, dann ein zweites, und schließlich ein drittes, aufdringliches Mal.

      „Schon die ersten Nachbarn?“, hatte ich Emma gefragt und auf die Uhr geschaut.

      „Na, die wären aber mehr als eine Stunde zu früh.“

      Es war Viertel nach Fünf, und erst um halb Sieben war die Saunarunde angesagt. Ich hätte mich am Liebsten tot gestellt und wäre nicht zur Tür gegangen, aber da klingelte es schon wieder, diesmal lange, sehr lange. Der kleine Luca hatte zu schreien begonnen.

      Ich war zur Wohnungstür gegangen, hatte den Hausflur durchquert, die Haustür erwartungsvoll geöffnet und starrte nun auf diese beiden ovalen Blechmarken, auf denen „Zentrale Kriminaldirektion Land Hessen ZK 10“ eingraviert stand.

      Mir ging blitzschnell so viel durch den Kopf, dass ich selbst nicht wusste, wie mir geschah. Ich dachte an meine Zeit in den USA, wo ich auf Kosten der IBM schwarz telefoniert hatte – konnte das vielleicht ein Grund sein? Aber ausgerechnet der Staatsschutz? Die IBM-Telefonate waren reines Privatrecht – da sah ich wahrhaftig keinen Zusammenhang.

      Ich dachte an meine Verbindungen zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ACLU, der American Civil Liberties Union – was konnte daran verboten sein? Meine Blitzerinnerung führte mich aber auch zurück in die noch frühere Zeit der 1970er Jahre, als ich für den Verfassungsschutz zum Vorwand für eine kleine klassische Verschwörung wurde. Nur weil er mich kannte, sollte ein Schulkamerad Berufsverbot und damit keine Assistenzprofessur erhalten – offensichtlich war ich für unsere Staatsschützer ein Staatsfeind. Und der Bekannte eines Staatsfeindes war ebenfalls ein Staatsfeind. In jenen frühen Zeiten hatte ich Altkleidersammlungen für den Befreiungskampf der Vietnamesen gegen das völkerrechtswidrige, jahrelange Dauerbombardement der USA organisiert. Spendensammelei für Medizin, die von der vietnamesischen Bevölkerung dringend benötigt wurde. Der christliche Westen hatte die offiziellen Medizinlieferungen boykottiert. Konnte man als humanistischer Spendensammler im Christenland schon zum Staatsfeind werden?

      Ich dachte an meinen verschwundenen Koffer, der höchstwahrscheinlich von der CIA noch auf dem International Airport in San Francisco vor meinem Abflug nach good old Germany abgefangen worden war. Stand etwa etwas Staatsgefährdendes in meinen Dokumenten? Vielleicht, dass die Amis ein äußerst progressives Gesetz hatten, den »Freedom of Information Act«, der jedem Bürger die Einsicht in seine von den Behörden geführten Akten unumschränkt erlaubte? Dass es große Hürden für die Administrationen gab, wenn sie dieses Recht ihren Bürgern verweigern sollten – konnte ein solch offen vorliegendes Wissen für die BRD-Behörden Verfolgens wert sein?

      Und dann klopfte jenes Literaturglanzstück des laufenden Jahres wie verhext an mein Oberstübchen: »1984«, von George Orwell. Würden mich diese beiden Staatsschützer vielleicht auf unseren Staat einschwören wollen? Würden sie mir Fragen nach Orwellschem Muster stellen? Total verschwörerisch …

      „Herr Koenig, sind Sie bereit, für unseren Staat Ihr Leben zu opfern?“

      „Ja“, würde ich des Scheins halber antworten, um ihre wahre Absicht in Erfahrung zu bringen.

      „Sind Sie bereit, einen Mord zu begehen?“

      „Ja.“

      „Sabotageakte zu begehen, die vielleicht den Tod von Hunderten von unschuldigen Menschen herbeiführen?“

      „Ja.“

      „Unser Land an die Vereinigten Staaten von Amerika zu verraten?“

      „Ja.“

      „Sind Sie bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, die Gesinnung von Kindern zu verderben, süchtig machende Rauschgifte unter die Leute zu bringen; die Prostitution zu ermutigen, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten – alles zu tun, was dazu angetan ist, die linken Genossen in Misskredit zu bringen?“

      „Ja.“

      „Würden Sie alles tun, um die Macht der Gewerkschaften und der Anti-Atombewegung zu untergraben?“

      „Ja.“

      „Wenn es zum Beispiel irgendwie unseren Interessen dienlich sein sollte, einem dieser neuen Grünen Schwefelsäure ins Gesicht zu spritzen – sind Sie dazu bereit?“

      „Ja.“

      „Sind Sie dazu bereit, Ihre bisherige Persönlichkeit aufzugeben und für den Rest Ihres Lebens als Kellner oder Hafenarbeiter durchs Leben zu gehen?“

      „Ja.“

      „Sie sind bereit, Suizid zu verüben, wenn und wann wir Ihnen das befehlen?“

      „Ja. Nun sagen Sie mir aber bitte, was Sie heute von mir wollen?“, würde ich antworten.

      „Noch eine letzte Frage: Sind Sie bereit, sich von Ihrer Frau, Ihrer Tochter und Ihrem Sohn zu trennen und sie nie wiederzusehen?“

      Wahrscheinlich wäre ich für einen langen Augenblick meiner Sprache beraubt. Meine Zunge würde keinen Laut hervorbringen, während sie immer wieder die Anfangssilben erst des einen, dann des anderen Wortes zu formen versuchte. Ehe ich es nicht gesagt haben würde, würde ich nicht wissen, welches Wort meine Zunge endgültig formen würde, bevor die beiden Staatsschützer endlich ein „Nein!“ aus meinem Mund erreichen würde.

      Meine Gedanken stockten.

      Einer der beiden Herren vor der Haustür räusperte sich.

      Noch immer starrte ich wie gebannt auf die Blechmarken der beiden Beamten.

      „Nun“, sagte der größere von beiden, „mein Name ist Hase, sollten wir das Gespräch nicht lieber diskret führen?“

      „Wer ist denn da?“, rief Emma aus der nahen Ferne des heimeligen Wohnzimmers.

      „Ein Herr Hase und ein Herr …“

      „Herrlinger“, sagte der zweite Schlapphut.

      „Führen Sie zufällig auch Dienstausweise bei sich?“, fragte ich. „Nicht, dass ich Ihnen nicht traue, aber …“

      „Selbstverständlich!“, sagten beide wie aus einem Mund und zückten ihre Ausweise, auf denen dasselbe wie auf den Blechmarken stand, versehen mit ihren Lichtbildern, ihren Namen und der Bezeichnung ihrer Wiesbadener Dienststelle: »Fahndung, OPE Staatsschutz«.

      Zwei Stockwerke über uns hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. Die Tür der neugierigen, alles sehenden, alles riechenden, alles hörenden Tante Ria.

      „Kommen Sie herein“, sagte ich mit einem Seufzer. „Ich bitte Sie jedoch, auf unsere müden Kleinen Rücksicht zu nehmen. Meine Frau wollte sie gerade eben zu Bett bringen.“

      „Dem


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