Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig

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Rasante Zeiten - 1985 etc. - Stefan Koenig


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      Nur Moni konnte er nicht auf den Vegetarier-Kurs zwingen; ganz im Gegenteil. Je mehr er von seinem vegetarischen Leben schwärmte, desto versessener schien sie heimlich Schnitzel und gelegentlich Hähnchenschlegel beim Metzger um die Ecke zu genießen. Wenn Gunnar und ihr gemeinsamer pubertierender Sohn Philip mittags noch nicht zu Hause waren, schlich sie sich davon und täuschte für die beobachtende Nachbarschaft einen Familieneinkauf vor. Per Zufall hatte ich sie einige Male beim Metzger getroffen. Mein Gott, ich wollte sie dort nicht treffen! Und meine Güte, ich gehörte nicht zur beobachtenden Nachbarschaft – was man von Moni nicht behaupten konnte.

      Wohl deshalb fragte sie mich jetzt ein wenig aus.

      „Wer waren denn die beiden Herren, die da vor eurer Haustür standen?“

      Ich wusste sofort, wen sie meinte. Da aber gerade der zweite Schub an Saunagästen zur Tür hereinströmte, sagte ich: „Erzähl‘ ich dir später. Das ist eine längere Geschichte. Was ich dich fragen wollte: Macht Philip eigentlich die Essenspläne seines Vaters mit?“

      Philip wuchs nun in seinem sechsten Lebensjahr schon voll vegetarisch auf. Und er war dennoch – wahrscheinlich aber gerade deshalb – sehr gut in der Schule, wie Moni und Gunnar unentwegt betonten. In seiner Klasse, in der die fleischfressenden Freunde noch weit in der Überzahl waren, war er jedoch in jeglicher Hinsicht Einzelgänger.

      „Er schreibt schon wie ein Siebtklässler“, sagte Moni stolz. „Und er hat das Mathetalent seines Vaters geerbt, was ich neidlos zugestehen muss.“

      „Vegetarisch bedingt?“, fragte ich.

      Sie gackerte.

      Als Gunnar sich etwas abseits mit dem gerade hinzugestoßenen Ärztepaar Anne und Tobias unterhielt, flüsterte sie mir zu: „Bitte keine Bemerkung über meine Balkonaktivitäten.“

      Erst stutzte ich einen Moment, dann musste ich lächeln und antwortete mit einem klaren: „Ehrenwort!“

      Auf Monis Balkon, über den wir uns zuwinken konnten, rauchte sie – auch hier heimlich und verschwörerisch – ihre ansonsten auf dem Küchenschrank sorgsam versteckten Zigaretten. Gunnar hatte das Rauchen strikt untersagt, „da man der Jugend kein falsches Vorbild abgeben darf“, wie er, der pädagogisch stets »on top« war, betonte.

      „Wenn ich mein Zigarettchen morgens und mittags nicht rauchen kann, werde ich fett. Ich explodiere dann regelrecht und mein Mann wird mich von einer Diät zur anderen jagen“, flüsterte sie weiter. „Ich habe jetzt schon drei Kilo zu viel drauf!“

      Die kleine Blondine war gut proportioniert, aber keinesfalls hatte sie eine jener vielen Brigitte-Diäten nötig, die seit einigen Jahren das besondere Geschenk der Unternehmerfamilien Gruner und Jahr an die neue ernährungsbewusste Welt der Feministinnen war. Mit Diäten ließ sich neuerdings gut Umsatz machen.

      Inzwischen hatte Gunnar seine Nachbarn Anne und Tobias tief in pädagogische Austauscherfahrungen über ihre beiden gleichaltrigen Söhne verstrickt.

      „In Sachen Ordnungssinn bin ich strikt!“ Gunnar hatte drei Wände des Kinderzimmers mit halbhohen Schubladenregalen versehen, und jede Schublade hatte eine große Überschrift mit etlichen kleinen Unterpunkten. Ein perfektes, bis ins Kleinste ausgeklügeltes Ordnungssystem, das einem jungen Menschen das Schubladendenken unheimlich nahe bringen musste.

      Anne, die fast-promovierte Arztfrau – sie hatte kurz vor der Heirat die Doktorarbeit abgebrochen –, war jedoch keineswegs so ordnungsbegeistert wie ihr Nachbar und meinte: „Unsere Kinder brauchen Entfaltungsmöglichkeiten und müssen sich ihr Ordnungssystem vielleicht auch selbst erarbeiten, oder wie siehst du das, Gunnar?“

      Gunnar sah es natürlich anders, denn sein Philip konnte – „freiwillig“, wie er betonte – noch etliche Schubladenregale aufstocken, was aus seiner Sicht genügend kreative Luft nach oben bot. Ich schwieg dazu und musste lächeln. Wahrscheinlich bewunderte ich insgeheim das Ordnungssystem. Aber gleichzeitig dachte ich: So wehrt sich die tief verinnerlichte alte Ordnungssehnsucht unserer Eltern und Großeltern gegen die erst eineinhalb Jahrzehnte frische Sehnsucht der 68er-Eltern nach mehr flexibler und kreativer Freiheit von genau dieser Ordnung.

      Als Annes Mann Tobias, unser promovierter Diabetes-Experte, über verträgliche Menge und Art der Süßigkeiten für unsere Kids zu schwadronieren begann, war es Zeit, die Hüllen fallen zu lassen und zu duschen. Die Sauna war auf 80 Grad aufgeheizt, und so setzten wir unsere Unterhaltung schwitzend fort. Inzwischen waren auch Irmel und Arnd aus der Seitenstraße sowie ihr Untermieter, der 25-jährige Jungschauspieler Christian, eingetrudelt. Auch Doris, die im Nebenhaus wohnte und in Frankfurts Innenstadt einen gutsituierten Optik- und Hörgeräteladen betrieb, kam später dazu. Noch genoss sie ihr Single-Dasein, lag aber bei jeder Festivität auf der Lauer …

      „Auf meinem Grabstein wird mal stehen »Sie war stets suchend und bemüht«. Ich werde euch für diese Inschrift jedenfalls von himmlischen Gefilden herab danken!“, sagte sie dann scherzend, wenn jemand versuchte, sie auf einen Mann aufmerksam zu machen.

      Gib mir mal ‘ne Bottle Bier

      Nach dem ersten Saunagang saßen wir um unseren Esstisch herum und tranken erst einmal aus Emmas Samowar, den sie auf Frankfurts Trödelmarkt am Main erstanden hatte. Tee mit Glühweingeschmack, der aber kein Glühwein war. Nun ja, dem Trend der Zeit entsprechend: mehr Schein als Sein, aber gewiss nicht ungesund, irgendwie, oder so oder vielleicht. Aromatisierte Teesorten waren »in«.

      Dann kamen noch Gitti, wie immer stark parfümiert, und Bernd, entsprechend passend zu seiner Herzdame duftend, hinzu. Sie wohnten im selben Dreifamilienhaus wie Moni und Gunnar. Unsere Saunarunde war nun komplett.

      Bis auf Doris, die zehn Jahre älter und Christian, der zehn Jahre jünger war, waren wir alle im etwa gleichen Alter zwischen 30 und 35 Jahre alt. Meistens machten wir Jungs gemeinsam einen Saunagang, und danach gingen die Mädels in die verschwitzte Bude. Wir unterhielten uns entweder über unsere Jobs oder über Politik und Wirtschaft. Die Frauen erzählten sich Neuigkeiten aus Kindergärten, Schulen und der Mode. Klassische Rollenaufteilung, klassisches Rollengeschwätz. Aber immer unterhaltsam. Das Revolutionsfieber lag Jahrzehnte hinter uns. Und doch glühte da irgendwo noch irgendetwas sanft in der linken Herzkammer und hielt die Aortenklappe in Bewegung.

      Christian, unser Jungschauspieler auf diversen Tingel-Tangel-Bühnen, fand, die Politik sei ein einziges Schauspiel, und CDU und CSU hätten zugestandener Weise die weltallerbesten Darsteller. Gerade vor ein paar Tagen nämlich war CDU-Charmeur Rainer Barzel vom Amt des Bundestagspräsidenten mit Sauerbiermiene zurückgetreten, nachdem der Verdacht aufgekommen war, er stehe im schmierigen Zusammenhang mit der Flick-Parteispendenaffäre. Natürlich spielte er einen auf völlig unbeteiligt und wusste von nichts, auch wenn die sich Sachlage selbst für Otto Normalverbraucher sehr eindeutig darstellte.

      „Barzels Sauerbiermiene ist wahrscheinlich auch nur gespielt“, meinte ich und wurde mir sofort bewusst, dass ich hätte schweigen sollen, als Gunnar mit einer ebensolch bierernsten Miene das Wort ergriff.

      Schließlich war er selbsternannter Bierfachmann und somit auch Bierhistoriker. „Vorneweg: »Das« Sauerbier gibt es nicht“, sprang er sofort auf Barzels Sauerbiermiene an. „Mit dem Begriff Sauerbier werden eine ganze Vielzahl unterschiedlichster Biere zusammengefasst.“

      Höflich und unschuldig, wie er war, fragte Bernd überflüssiger Weise nach: „Welche Vielzahl meinst du? Welche Brauerei-Stile sind das, wo kommen sie her – und vor allem: Warum schmecken manche Biere sauer?“

      Jetzt mischte auch noch Doris mit, obwohl sie kaum Bier, stattdessen aber viel Rotwein trank: „Genau! Früher war Bier irgendwie mehr sauer.“ Eine absolute Steilvorlage für Bier-Gunnar, der als Vollkostvegetarier zugleich überzeugter Biertrinker war, wovon sein Bierbäuchlein zeugte.

      „Bier ist gesund und besteht zu 100 Prozent aus vegetarischen Bestandteilen“, warf ich opportunistisch dazwischen, um nicht als Spielverderber blöd da zu stehen.

      Gunnar sah mich ein klein wenig misstrauisch an,


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