Hüben und drüben Davor und danach. Beate Morgenstern
Читать онлайн книгу.überhaupt erscht gläubig g´worde is, war wohl ein schlimmer Antisemit gewese, aber doch mit starkem sozialen Engagement. I denk bloß an das Stoeckerstift in Berlin-Weißensee! Jetzt Stefanus-Stift. Sie vergegenwärtigte sich, was sie von den Vorfahren wusste. Die Linien der Großmutter bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein zu verfolgen. Durchweg hatten sie Beamtenposten bekleidet, waren Amtsrichter, Bürgermeister, Pastoren, mehr oder weniger hohe Gerichtsbeamte gewesen. Keiner, der in all den Jahrhunderten aus der sozialen Schicht herausgefallen war. Und waren doch sicher nicht alles kluge Leute gewesen! Die Krügersche Linie, die ihres Großvaters, auf die sich Hertha bezog, nicht so lang. Doch gab es mehr schriftliche Zeugnisse. Und durch die Frau, die ein Vorfahr Krüger geheiratet hatte, schließlich im 16. Jahrhundert mit einem Vorfahren von Goethes Mutter verwandt. Hatte Gisel gesagt, die die Dokumente aufbewahrte. Auch die Krügers erzkonservativ gewesen, ausgenommen vielleicht der Großvater von Hertha, Gisel und ihrer Mutter. Bis hin zum berüchtigten Hofprediger Adolf Stoecker, den eine Cousine des Großvaters geheiratet hatte. Und was war mit dem Konteradmiral oder mit seinem Bruder, der eine hohe Funktion bei der Post gehabt hatte? Hertha wünschte sich etwas zurecht und verwies zudem ihren Vater, einen mittellosen Bauernsohn, aus der Reihe verdienstvoller Ahnen. Im Gespräch mit Götz hatte sie mitbekommen, Götz hatte nicht die geringste Ahnung von dessen Existenz. Vielleicht auch, weil er sich nicht interessierte. Durch Gisel wusste sie mehr als er.
Könnt man sich net denke, dass bei einer so reich veranlagte Familie net amal ´n Durchbruch kommt!
Was redesch vom Durchbruch!, sagte Götz zornig. Was verstehsch überhaupt darunter.
Ein lichter Augenblick! Hertha machte eine unbestimmte Bewegung. In ihrem Gesicht das Lächeln einer Erleuchteten …
Hertha hatte zu viel getrunken. Sie neigte dazu, zu viel zu trinken. Wie anders hatte sie Beruf, Familie und ihrem starken Anspruch auf Freunde, auf Genuss am Leben verwirklichen können. Alkohol setzte bei ihr Kräfte frei.
Du redesch wie von nem religiöse Ereignis, sagte Götz.
Darf i net meine Gedanke, meine Wünsche habe! Hertha schlug die Beine über, tat ihren einen Ellenbogen aufs Knie, stützte den Kopf in die Hand. Sie hatte ein eher schmales Gesicht. Hohe, runde Stirn, die Jochbögen der eingefallenen Wangen wegen gut sichtbar. Die kleinen Augen von keiner bestimmbaren Farbe blickten sehr intensiv. Kurz und gerade die Nase, die Mundpartie vorgewölbt wie ständig kampfbereit, kräftig das Kinn. (Eine gewisse Ähnlichkeit gab es mit Götz.) Der grauweiße Stirnpony verlieh ihrem Gesicht zusätzlich etwas Verwegenes. Löwenhaft sah sie aus. Ja, jetzt hatte sie es. Sieht sie nicht aus wie eine Löwin?, sagte sie zu Götz.
Götz schaute seine Mutter an, grinste. Stimmt, ja. Hasch vollkomme recht.
Hertha schien zu überhören, was über sie gesagt wurde, war nach außen hin noch eine Spur ärgerlicher.
Kannsch net mal konkret sein. Was isch für dich denn wichtig, was zählt? Götz führte das Streitgespräch mit großer Geduld fort.
Dass mer was aus seim Lebe macht, dass mer´s gestaltet, einen Entwurf hat. Dass mer, was mer mal als richtig erkannt hat, durchsetzt un unbedingt seinen Weg geht!
Gut. Einverstande, sagte Götz. Un was hasch als richtig erkannt?
So allerhand, mein Sohn. Hertha nickte überlegen und leicht besoffen. Weisch, warum i mich in die Asylantenfrage so engagier. Weisch, warum Heinrich un ich, wir beide alte Leut, in Mutlange mitg´macht habet bei der Sitzblockad un habet uns wegtrage lasse? Des isch, weil´s war was Ungeheures, dass wir nach dem Hitler eine Demokratie bekomme habe. Wir hen sie quasi geschenkt kriegt, un jetz müsse wir se verteidige. Denn die Demokratie, des isch was ganz Koschtbares. Hertha formte mit ihren Händen eine Schale. Der Martin, deiner Mutter ihr Bruder - sie wandte sich an sie, ihren einzig übrig gebliebenen Gast - der meint, mer solle um Himmels wille nich an die Verhältnisse rühre, sonsch würde alles no schlimmer. Aber der Heinrich wie i denken, wir müsset was tun, damit net alles in die negativ Richtung geht. Und das kann leicht passiere, glaubet mir.
Stillstand gibt´s nicht, pflichtete sie Hertha bei. Wahrscheinlich muss man eine Demokratie immer aggressiv ausfüllen, um sie zu erhalten.
Vielleicht so, sagte Hertha. Mir wisse ja, was bei dem Hitler war. Um ein Haar wär ich zu Tod komme. Hertha zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger, wie viel sie vom Tod entfernt gewesen war. Un da darf mer net ruhig seine Hände in den Schoß lege. Übrigensch, Heinerle - Hertha wandte sich an ihren Mann, der still neben ihr saß - die Beate sagt, drüben würde jetzt auch die Männer vom 20. Juli geehrt. War das richtig?
Ja, hab ich so gesagt.
Aber wäre die an die Macht komme, die meischte ware doch so was von konservativ. Das Militär musch denke, Beate, die meischte stammte außem Hochadel. I weiß net, was füre Regierung wir kriegt hätte. Ob sie net arg belaschtet gwese wäre. Ob´s eine Demokratie hätte gebe könne.
Un i mach nix aus meim Lebe!, begehrte Götz auf. Aber erscht muss mer doch mal was als richtig erkenne!
Schon, mein Sohn. Hertha griff sich in ihr Gesicht, knetete darin herum. Aber du arrangiersch dich und vergisch über dem kleine Leben das große Ganze.
Herrgott nochmal, sagte Götz, was soll i denn deiner Meinung nach tun?
Ja was. Dich engagiere und net arrangiere, sagte Hertha unbestimmt.
Sie dachte an ihre Vorfahren, sie dachte an ihre Eltern, an ihre Geschwister. Unsere Familie hat sich erledigt, sagte sie.
Götz sah sie sehr nachdenklich an.
Wie hasch gesagt, Beate?. fragte Hertha eine Weile später.
Sie konnte sich nicht mehr besinnen.
Unsere Familie hat sich erledigt, wiederholte Götz.
Unsere Familie hat sich erledigt, richtig. Hertha befriedigte die Aussage. Aber wir haben junge Menschen, in die wir unsere Hoffnung setze, auf die wir unsere Hoffnung setzet, auf die wir vertrautet. Gehörsch au dazu, Beate. Die junge Leut kommet zu uns, un wir freue uns, gell, Heinerle? Mit einem nach innen gesunkenen zärtlich trunkenen Blick schaute sie auf ihren Mann. Familie oder net, das isch net das Problem. Wenn mer au e bissele traurig isch.
Nein, des hält mer im Kopf net aus, sagte Götz, und sein Gesicht rötete sich. Mit ihre Ansprüch macht se alles kaputt.
Sie wunderte sich, dass Götz sich nicht stärker wehrte. Sie hatte auch an Stefan beobachtet, dass er sich nur geradeso vor Schlägen der Mutter schützte und selbst nicht austeilte. Warum? Hatten die Söhne an Heinrich gesehen, dass es so immer noch das Beste war. Sonst reizten sie noch stärkeren Widerspruch heraus, dem niemand gewachsen war? Waren Frauen klug, blieben sie im Wortgefecht immer Siegerinnen. Half nichts anderes, dann, indem sie unlogisch wurden. Sie dachte daran, wie Stefan ihr gesagt hatte, der Heinrich hätte Hertha Kinder gemacht, um sie zu bändigen. Doch sie war nicht zu bändigen. Eine Löwin eben. Imponierend als Frau. Als Mutter ein Ungeheuer. Im Übrigen verzieh Stefan dem Vater nicht, dass der Vater die Kinder als Mittel benutzt hatte. Was sicher nur ein Teilaspekt war und längst keine Rolle mehr spielte. Aber der Heinrich hätte dem Stefan nicht so etwas sagen dürfen, diesem armen Menschen, der sowieso kein Zutrauen zu sich hatte.
Hertha sprach immer weiter. Wechselte nun das Thema.
Magsch des Bärbele?, fragte sie wegen Heinrichs Nichte.
Ja.
Wir auch. Sie isch uns sehr ans Herz gewachse. Mer sollt´s net meine, wenn mer se sieht, aber was hat se schon hinter sich, schlimm! Weisch, was se sagt? In unserer Familie gibt es ein Schicksal. Ich hab´s net glaube wolle. Aber isch manches, was sie erlebt und was mer als Außenstehender doch auch mitkriegt, so furchtbar wahr. I seh noch heut die beide auf unsere Treppe drauße sitze, das Bärbele un ihr Mann. Un beide erzählet mir, was se erfahre habet über Bärbeles Schwiegervater. Dabei hat Bärbele ihn hochverehrt, ein sicher begnadeter Künschtler, so weit man´s aus der Ferne beurteile kann. Aber was hat er seiner Frau angetan! Und beide junge Leut ware so tief entsetzt darüber. Un net fünfzehn Jahre danach, als hätt Bärbeles Mann net auf der Treppe gesessen, so erschüttert, weiß Gott, da tut er in genau derselben