Hüben und drüben Davor und danach. Beate Morgenstern
Читать онлайн книгу.Abendbrot gab es warm, doch für sie ungewohnt spät. Und sie mit ihrer Sorge von Kindheit her, sie bekäme nicht genug zu essen! Sie lief wieder auf und ab in der Stadt, um sich alles gut zu merken und sich schließlich auszukennen. Die Überdachung der Geschäfte nahm sie als Schutz gegen den anhaltenden Regen. Da nun auch die Leute, die sie gestern im Park gesehen hatte. Nichtsesshafte, hatte Hertha gesagt und sich nicht gewundert, dass sie so viel davon gesehen hatte. Gleich in der Nähe gäbe es ein Obdachlosenasyl. Die Nichtsesshaften zwischen den anderen. Aber die einen gingen die anderen nichts an. Sie hatten keine Blicke füreinander. Wie merkwürdig. Nur sie als Fremde hatte Blicke für beide. Wie sie später durch den Park ging, der nun menschenleer, dachte sie: Wenn ich nun nicht hinauf zu Hertha und Heinrich gehen könnte! Die paar Mark, die ich noch in der Tasche habe. Ihre Haare nass. Sie hatte keinen Schirm mit auf die Reise genommen, um sich nicht unnötig zu beschweren. Nachdem es mit dem Geld nichts war, das Hertha ihr im Brief versprochen hatte, damit sie sich tagsüber allein versorgte, hatte sie auch nicht mehr nach einem Schirm fragen mögen. Ihr war elend, fühlte sich schon jetzt gemieden, obwohl sie doch ein von Hertha mal geschenktes Lodencape trug, was Regen abhielt, und wodurch ihr äußerlich Verwahrlosung noch nicht anzumerken war. Eine Gabe hatte sie, sich immer gleich ganz minder zu fühlen und wie eine Seiner geringsten Brüder und Schwestern!
Hasch den Umschlag mit dem Geld g´funde? fragte Hertha beim Abendessen.
Nein.
Ein bunter Umschlag von der Sparkasse! , setzte Hertha nach. Warum fragst dann net?
Ihr Gesicht wurde heiß. Ihre Scham aber geringer als die Freude.
Im Gartenhäuschen nahm sie das Geld, den großen Schatz, aus dem bunt bedruckten Umschlag, den sie als Reiseprospekt genommen hatte. Davon könnte sie jeden Tag vielleicht zweimal warm sehr gut essengehen und was noch! War der Umschlag auf dem Schreibtisch im Gartenhäuschen für sie, dann war wohl auch das Naschwerk für sie bestimmt. Ihr musste man so etwas sagen. Hertha in Auskünften über das alltägliche Leben sehr karg, hatte sie schon gemerkt. (Wie ärgerlich Hertha wurde, wenn sie bei Handreichungen in der Küche nicht gleich fand und wusste!) Und sie nicht fähig zu fragen. Da kamen zwei zusammen!
Was ich nicht brauche, bekommst du zurück!, sagte sie Hertha über das Geld. Sie dachte an die Mutter, die zu ausgiebig von Herthas wirklicher Großzügigkeit Gebrauch gemacht hatte. Worauf die Mutter derbe Schelte bekam: Ich scheiße das Geld doch auch nicht!, hätte Hertha zu ihr gesagt. Sie wollte bei Hertha Terrain wettmachen und nicht als eine vom „Stamme nimm" gelten, wie die Mutter ihr das früher vorgehalten hatte. Sie wollte weiter sparsam leben, doch ein, zwei Anschaffungen machen.
Einen Tag war´s so warm, dass sie ohne Cape aus dem Haus wollte, nur im Flanell-Jackett, von einer Schneiderin angefertigt wie einiges mehr, das sie vor der Reise in Läden nicht wunschgemäß oder zu teuer zu kaufen bekam. (Die Schneiderei recht preiswert.)
Wart mal, sagte Hertha, brachte einen meterlangen Schal an, gestreift, aus feinster Wolle, schlauchförmig gestrickt. Wie sie ihn um sich schlang, sah sie aus wie eine ganz andere. Den ganzen Tag ging sie als Reiche verkleidet. Sie sah, wie die Menschen immer erst auf den fünfhundert-Mark-Schal blickten und ihr dann in´s Gesicht. Die Verkleidung tat ihr so gut, nachdem sie sich ja einen anderen Tag wie eine Nichtsesshafte gefühlt hatte. Die Nichtsesshaften von ihr weiter wahrgenommen. Und was noch an Menschen waren, die auf der Straße ihr Leben fristeten. Auf dem Steinfußboden in der Einkaufspassage sitzend eine junge schwarzhaarige Frau, neben ihr ein in Tüchern gewickeltes Kleinkind. Junge Leute spielten auf Originalinstrumenten irische Folklore. Die Menschen umringten sie. Immer wieder ging einer in den Kreis, gab Geld in eine Büchse, nahm eine bereitliegende Kassette. Weithin zu hören das Spiel eines Akkordeons. Fröhliche, wilde Melodien. Wie sie näher kam, sah sie das Gesicht des Spielers: kalt, unbewegt. Seine Finger glitten mechanisch über die Knöpfe, die Tasten. Einer saß auf dem Boden, setzte die Flöte nie ab. Eine Melodie reihte sich an die andere. Das Instrument heiser. Der Spieler achtete nicht darauf, schaukelte rhythmisch nach vorn, nach vorn. Unaufhörlich. Niemand herrschte ihn an, man wolle ihn nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Geld gab man ihm auch keines. Sie versuchte, das alles nur so nebenher zu sehen wie die Einheimischen und nicht zu werten. Sie war doch Gast in dem Land.
Hertha fragte sie ab und schickte sie ins Naturkundemuseum. Nun musste sie doch fahren, ließ sich von Hertha sagen, zu welcher Station und wurde von den Fahrgästen darauf hingewiesen, den Sammelfahrschein zu entwerten, den sie in der Hand hielt. Wenn die Kontrolle käme! Das war eine solche Fürsorge! (Den Sammelfahrschein hatte sie von der Stadt zum Begrüßungsgeld hinzugeschenkt bekommen.)
Indem sie die Funde aus früheren Erdzeitaltern besichtigte, bekam sie eine ungefähre Vorstellung, wie die Gegend Millionen Jahre, bevor die Menschen kamen, ausgesehen hatte. Schon in der Altsteinzeit war sie bewohnt gewesen, Kelten kamen. Römer. Einzig irritierten sie die vor Sauriern und Riesenhirschen sitzenden Kunststudenten. Ihr erschien deren Aufgabe sehr akademisch und wenig erfreulich.
Am Abend übergab Heinrich ihr einen Brief von Götz. Sie las den Brief und sagte zu Heinrich, der sicher wissen wollte, was der Sohn geschrieben hatte: Der Götz hat mich eingeladen. Auf der Rückreise könne sie doch bei ihm vorbeischauen, hat Götz geschrieben. Platz sei in der Wohngemeinschaft genug.
Heinrich teilte die Nachricht Hertha mit. Der Götz hat sie eingelade, so, sagte Hertha. Warum weiß i nix davon! Muss man solche Sache hinter meinem Rücke mache.
Es war nicht hinter deinem Rücken, sagte sie. Er hat mir geschrieben. Heinrich hat mir den Brief gegeben!
Ja, ihr erzählet!, sagte Hertha. Aber lassen wir das. Hertha nicht mehr zu bewegen, ein weiteres Wort der Erklärung anzuhören.
Du musst den Götz anrufen, sagte Heinrich. Sie wählte die Nummer, die Heinrich ihr gab, erreichte Götz, sagte, wie sehr sie die Einladung freue und auch, dass seine Mutter irritiert sei.
Da gib mir die Hertha doch mal!, meinte Götz, schien entschlossen, die angebliche Kränkung zu tilgen. Mutter und Sohn redeten lange. Danach war Hertha bester Laune.
Kannsch der Beate mal zeigen, was dir am Herzen liegt, sagte Hertha zu Heinrich an einem anderen Tag und beauftragte ihn zu einem Spaziergang in die Staatsgalerie, was immerhin ein ganzes Stück Weg für Heinrich war. Sie schritten dann die lange Glasfront der Galerie ab. Heinrich zunächst auf ein anderes Ziel aus: In einem der Räume im Erdgeschoss tagten Hertha und ihre Mitstreiter wegen der Asylanten-Hilfe. Sie saßen hinter der Glasfront wie öffentlich ausgestellt. Als Hertha redete, erkannte auch Heinrich seine Frau an den Gesten. So eine kindliche Freude hatte er, Hertha heimlich zu beobachten, dass sie davon angesteckt wurde. In der Galerie lief sie bald herum wie betrunken. Wann je hatte sie in einer ständigen Ausstellung so viel an Originalen gesehen, die sie zuvor schon von Abbildungen kannte, Klee und Nolde und Picasso und Schlemmer und und! Heinrich erklärte den Reichtum: Die Mittel für den Ankauf der Bilder kämen aus dem Reinerlös der Klassenlotterie. Wir können sicher auf dem internationalen Kunstmarkt nicht mithalten, sagte sie und meinte mit wir den Staat, aus dem sie kam. Aber ihr habt Dresden! , tröstete Heinrich, führte sie zu der Vitrine, in der sich Arbeiten des Bildhauers befanden, von denen Hertha und Heinrich auch Stücke besaßen.
Der Rückweg zu Fuß dann doch zu anstrengend für Heinrich, so dass sie die S-Bahn nahmen. Gern hätte sie von Heinrich erfahren, wie der Fahrkartenautomaten zu bedienen wäre. Doch der in Erklärungen über Alltagsdinge so unwillig wie Hertha.
Einen Abend besuchten sie zu dritt eine Aufführung der anthroposophischen Bühne. Wenige, offenbar kundige Zuschauer hatten sich eingefunden. Damen neben ihr redeten von der Inszenierung einer anderen Bühne in so hohen Worten, die hätte sie nie in den Mund genommen. Hertha wies auf die gedeckt-rosa Farbe des Saals hin und die besondere Form der Säulen. Alles hatte seine tiefe Bedeutung.
Nach der ersten Szene war ihr unklar, wie sie den Abend mit Anstand überstehen sollte. Vorsichtige Kritik hörte sie in der Pause selbst von ihren beiden Nachbarinnen: Im Grunde hätte man es ja hier mit Laien zu tun.
Ich hätt nicht gedacht, dass so was geht, realistisches Theater, sagte Hertha nach der Vorstellung. Aber in sich issesch stimmig. Hertha hatte offenbar die Fähigkeit, sich Dinge zurechtzusehen.