Alles in Blut. Ole R. Börgdahl

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Alles in Blut - Ole R. Börgdahl


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Todesfälle mit Fremdverschulden, davon neunundfünfzig Morde. Bruckner scrollte durch die Liste.

      »Ist unser Mann auch dabei?«, fragte ich, während wir die Zeilen durchgingen.

      »Ja, seit gestern. Ich habe ihn gestern aufgenommen hat mich drei Stunden gekostet, es waren hundertsiebzig Fragen zu beantworten, hundertsiebzig Merkmale zur Fallbeschreibung. Die meisten konnte ich natürlich nicht konkretisieren.«

      »Seit gestern, gut, dann machen wir einen Quercheck, aber ich will diese Liste trotzdem noch einmal durchgehen, also praktisch unabhängig von unserem Fall. Was wir da jetzt sehen, was sind das für Daten, also welches Format?«

      »Das ist was Spezielles.« Bruckner überlegte. »Aber ich kann es in ein PDF-Dokument formatieren ...«

      »Das ist gut, ich brauche etwas, wo ich immer mal wieder hineinschauen kann, man kann nicht immer sofort alles sehen. Sie können mir die Liste schicken«, schlug ich vor. »Ich habe eine separate E-Mail-Adresse für mein Smartphone.«

      »Das kann ich natürlich machen«, sagte Bruckner. »Warten Sie.«

      Er klickte ein paar Mal mit der Maus über den Monitor, verschob einen Ordner und öffnete sein Mailprogramm.

      »Und, Ihre Adresse?«

      »Ganz einfach: [email protected]

      »Abgeschickt!«, kommentierte Bruckner seinen letzten Klick, bevor er das Mailprogramm wieder schloss. »Und jetzt zum Quervergleich.«

      »Haben Sie das noch nicht gemacht?«

      Bruckner zögerte. »Doch habe ich, aber es gibt noch ein paar Varianten, die ich mit Ihnen durchsprechen wollte. Mein erster Versuch ist mir gewissermaßen misslungen.«

      *

      Die alten Herrschaften konnten nicht verstehen, dass ich ihren Namen nicht kannte. Ich hätte nur sagen können, dass er wohl holländisch klang, van Veen, Klaus und Ingrid van Veen. Es sollte einen Musiker geben, der ebenfalls van Veen hieß. Bei van Gogh hätte ich eher gewusst, worum es ging. Die beiden alten Leute verziehen es mir. Ich hatte mir alles angesehen, Notizen gemacht und in meinen Unterlagen die Grundstück- und Immobilienpreise der Gegend nachgesehen. Ein Reihenendhaus aus den Sechzigerjahren. Der Garten recht groß, was wohl auch das Problem darstellte. Klaus van Veen ging am Stock, ließ einen Nachbarjungen den Rasen mähen. Die Treppen im Haus waren auch nicht einfach, für beide nicht, wie mir Ingrid van Veen erklärte. Sie hatten den Dachboden ausgebaut, einen Hobbyraum eingerichtet, der aber lange nicht mehr genutzt worden war. Es war einfacher, wenn sich alles auf einer Wohnebene abspielte. Sie wollten ein Apartment, nicht größer als siebzig Quadratmeter, mit Balkon und einer Aussicht. Ich hatte noch keine richtigen Angebote für sie dabei. Aber wir konnten anhand ihres wahrscheinlichen Budgets schon einmal klären, wie nah wir mit der neuen Wohnung ans Zentrum kamen. Ein-, zweimal fiel die Vorstellung von einem Alsterblick, aber ich gab zu bedenken, dass solche Objekte in fester Hand waren und höchstens zu mieten seien und nur sehr selten zum Kauf angeboten wurden. Ich versicherte den beiden, dass wir etwas Anständiges finden würden und dass wir auch das Reihenhaus gut unterbringen könnten. Es war kurz nach drei, als ich wieder in meinen Century stieg. Ich stellte den Klingelton meines Smartphones laut und prüfte die eingegangenen Nachrichten. Es war tatsächlich schon etwas von Bruckner dabei. Nachdem wir fast drei Stunden zusammen über ViCLAS gesessen hatten, war Bruckner noch in der Wohnung geblieben, um eine Zusammenfassung der Ergebnisse zu erstellen. Es waren einfach zu viele Informationen über jeden Tatsachverhalt, aber ViCLAS ermöglichte eine Auswertung nach vorgegebenen Kriterien, wie dem Tatvorgehen, der Tatzeit, der Art der Gewaltanwendung und bei den gelösten Fällen, die Beziehung der Täter zum Tatmotiv oder direkt zum Opfer. Die Todesfälle im Stadtteil Bramfeld hatten wir uns natürlich sofort angesehen. Es waren weniger als ein Dutzend und das in den letzten fünfzehn Jahren. Mithilfe einer weiteren Datenbank hatten wir die Suche auf die letzten fünfzehn Jahre ausgedehnt. Zwei Jahre vor dem Tod unseres Opfers gab es einen Mord vor einer Kneipe. Ein dreiundvierzigjähriger Mann wurde mit einem Pflasterstein erschlagen. Laut der ViCLAS-Recherche lag die Übereinstimmung mit unserem Fall beim Alter der Opfer und bei der Geographie. Die Kneipe lag nur ein paar Querstraßen von der Barkstraße entfernt, ein Fußweg von etwa zweihundert Metern. Ein weiteres angebliches Übereinstimmungsmuster lieferte ViCLAS mit einem Todesfall aus Rahlstedt im Osten von Wandsbek. Also, Punkt eins: im selben Bezirk. Punkt zwei: artverwandte Todesart. Punkt drei: Opfer männlich. Und Punkt vier: in der gleichen Lebensaltersspanne. Der Tote aus Duvenstedt war vor vier Jahren verstorben. Zunächst wurde trotz Erstickungstod vermutet, dass kein Fremdverschulden vorlag. Der Mann wurde mit dem Gesicht nach unten in einer Matschkuhle gefunden. Ein Betrunkener, der unglücklich gestürzt und in einer anschließenden Bewusstlosigkeit im Dreck erstickt war. Das Opfer hatte aber nicht getrunken, wie die Blutwerte später ergaben. Zudem konnte der Pathologe eine Quetschung des Kehlkopfes feststellen. Es war also doch Mord. Der Mörder wurde ein Jahr später gefasst, was nicht ganz richtig war, denn der Bruder des Opfers hatte sich selbst gestellt. Es war wieder diese typische Beziehungstat. Wenn wir in diesem Fall ViCLAS etwas genauer gefüttert hätten, wären die beiden Tathergänge nicht als ähnlich eingestuft worden.

      Bruckner hatte sich daraufhin vorgenommen, die Parameter zu überprüfen und besser einzustellen. Der Begriff Parameter zeigte auch, worum es bei Verwendung von ViCLAS oder CRIME ging, es wurden Daten verglichen, emotionslos, denn die Bits und Bytes kennen keine Emotion, keine Intuition und auch keinen Spürsinn. Aber diese drei Dinge können für einen Ermittler auch zum Fluch werden, wenn er die Objektivität zu verlieren droht. So hatte es Bruckner formuliert und ich stimmte ihm zu. Es musste also noch an den Daten gearbeitet werden und das hatte der Herr Kriminaloberkommissar übernommen. Das Ergebnis lag jetzt in meinen Händen und sollte gesichtet werden. Mit der Anzeige des Smartphones komme ich sonst hervorragend zu recht, bei kurzen Texten, bei Nachrichten. Für längere Beiträge muss man zu viel scrollen und schieben, was sehr unpraktisch ist. Ich hatte mich jetzt den ganzen Tag nicht in meinem Büro blicken lassen und so startete ich meinen Century und fuhr los. Ich dachte noch einmal darüber nach, wie ich Bruckner helfen konnte, welche Bedeutung dieser Cold Case überhaupt hatte. Natürlich muss ein Täter bestraft werden, wenn es einen Täter gibt, ansonsten muss man beweisen, dass es eben keinen Täter gab und dass die Gesellschaft beruhigt sein kann. Wenn man aber die Geständnisse der Mörder hört, dann ist es erschreckend, wie schnell sie getötet haben. Es geschieht in einer einzigen Bewegung, sekundenschnell, ein Schlag, ein Stich. Vielleicht dauert es auch Minuten, wenn das Opfer erwürgt, stranguliert wird. Minuten für die Tat, das zehntausend-, ja hunderttausendfache, um den Täter zu überführen. Ich habe das bei einigen Fällen ausgerechnet und es dann bleiben lassen, weil es wenig motivierend ist, bei den meisten Taten zumindest. Ein Cold Case führt eine solche Liste natürlich ganz oben an.

      Ich blinkte und fuhr auf unseren kleinen Parkplatz. Frau Sievers hatte bereits Feierabend gemacht, ihr Civic stand nicht mehr da oder sie war heute mit dem Taxi gekommen. Kein Taxi, ich musste zweimal schließen, um ins Foyer zu kommen. Frau Sievers hatte es mir bestimmt gesagt, dass sie früher gehen wollte und Gustav nahm sich seit zwei Jahren den Montag frei, arbeitete nur noch von Dienstag 7:00 Uhr bis Freitag 12:00 Uhr.

      Ich schaltete meinen Desktoprechner an und stöpselte den Bluetooth-Stick ein. Zwei Minuten später übertrug ich Bruckners Dokument vom Smartphone auf meinen Rechner. Die Thermoskanne auf meinem Schreibtisch war voll. Frau Sievers hatte wenigstens an meine Rückkehr gedacht. Der Kaffee dampfte noch. Ich gönnte mir eine Tasse und machte mich dann an die Arbeit.

      PDF-Dateien haben den großen Vorteil, dass man sie nicht ohne Weiteres ändern kann, aber dennoch eine Volltextsuche über den Inhalt möglich ist. Ich hatte mir einige Stichworte notiert, als Bruckner und ich die ViCLAS-Auswertung heute Vormittag laufen ließen. Ich brauchte jetzt gar nicht nachzusehen, denn der wichtigste Begriff war das Wort tot, so makaber es auch klang. In jedem Dokument, das über ein Tötungsdelikt berichtet, kommt irgendwo der Begriff tot vor. Dabei ist es unwichtig, ob dieses Tötungsdelikt nun mit oder ohne Fremdverschulden vonstattengegangen ist. Ich beschrieb das Suchfeld und ließ den Begriff tot über das PDF-Dokument laufen. Die große Anzahl der Treffer störte mich nicht. Ich sprang von einem Treffer zum nächsten, brauchte immer nur ein paar Zeilen zu lesen, um einen interessanten von einem uninteressanten


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