Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold


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Als wichtigster Stimmungseindruck blieb ihr der überraschende Frühling, den sie nach dem eher kalten, grauen Moskau so nicht erwartet hatte. Zwar hatte Johannes davon gesprochen und sie hatte mit ihrer Garderobe diesen Fall bedacht, aber sie stand ihm dann vollkommen ungewappnet, fassungslos gegenüber. Ein ungeheures Himmelblau, die Pracht von ihr nicht bekannten Blüten, ungewohnten Düften und Farben machte sie benommen. Sie erlebte das erst Mal eine solch tiefe Berührung durch Schönheit. Dabei steigerten sich die Eindrücke von der trockenen Klimazone des Kaspisees bis zu der subtropischen Vegetation von Suchumi. Ähnlich waren sich dagegen die Empfänge, die man in den Parteikomitees verschiedener Städte für sie, die Zugreisenden von der Universität „Völkerfreundschaft“, gab. Man war hier waggonweise gemischt: Chinesen und Vietnamesen, Inder und Afrikaner. Gisela und Johannes gehörten zum europäischen Waggon, in dem Tschechen, Bulgaren, Polen und Rumänen untergebracht waren. Sie bewohnten ein Abteil zusammen mit einem bulgarischen Ehepaar, das die Betten an der gegenüberliegenden Seite bezog. Nur wenig konnten sie sich mit denen verständigen, selbst die gewohnten Kopfbewegungen für ja und nein klappten nicht immer, weil sie bei den Bulgaren eine entgegensetzte Bedeutung hatten. Mit den osteuropäischen Gruppen wurden sie einem Reiseleiter zugeordnet, der die ortsüblichen Empfänge organisierte. Nachdem Gisela mehrmals erlebt hatte, wie das ablief, hätte sie sich am liebsten gedrückt, aber Johannes meinte, das ginge nicht. Man schlüge damit Freundschaftsgesten aus. Es gab viel zu essen und noch mehr zu trinken. Nach einem Ausflug durch das glühend heiße Tbilissi hatten sie sich verspätet und mussten sogleich Sto Gramm auf die Freundschaft und auf den leeren Magen trinken. Es reichte, um Gisela regelrecht umzuwerfen. Es brachte ihr für die restlichen Tage einen Darmkatarrh ein. Der beschäftigte sie anhaltend, zwang sie ständig, nach öffentlichen Toiletten zu suchen. Das war ein lästiges, ekliges Abenteuer, von dem sie zu Hause berichtete. Erstaunen hinterließen ihr auch Erlebnisse auf mehreren Basaren. Man wollte ihr Sachen, die sie am Leibe trug, auf der Stelle abkaufen. In Gudauta, an der Schwarzmeerküste, erbosten sich Frauen über ihre dreiviertel langen Hosen, ein Milizionär musste ihr beistehen. Überrascht war sie auch, dass sie mit ihren Russischkenntnissen hier so gar nichts anfangen konnte. Ein Markthändler gab ihr zu verstehen, sie seien hier keine Russen und wollten auch keinen Gebrauch von deren Sprache machen. Ihre spärlichen Kenntnisse reichten, um das Verächtliche seiner Rede mitzubekommen. Johannes erzählte ihr von den Widerständen, mit denen die Sowjetmacht hier unten fertig zu werden hatte. Durch Religion und Gewohnheiten hätte sich Rückständiges erhalten und diese Marktleute, Kleinhändler, wären ohnehin Träger reaktionärer Ideologien, das kenne man von uns auch. Die hier hätten eben noch gar nicht begriffen, welche Errungenschaft es war, zu einer Großmacht zu gehören, die gerade Lunik III in den Weltraum entsandt hatte. Im Übrigen dürfe sie solche Einzelheiten nicht verallgemeinern, der Fortschritt setze sich auf höchst widersprüchliche Weise durch, sie sehe es.

      Auch über solche Beobachtungen sprach sie zu Hause. Denn über Dinge, die Johannes und sie betrafen, wollte sie nicht reden. Johannes erregte sich, dass es in diesem Freundschaftszug für ihr eheliches Zusammensein schwierig war. Drang darauf, dass sie in der Mittagshitze in den Zug zurückkehrten, um zusammen sein zu können. Denn die Nächte verbrachten sie zusammen mit dem bulgarischen Ehepaar. Wie die das hielten, fragte er sich. Gisela wäre gern in der heißen Mittagsstunde im Schatten eines Baumes liegengeblieben, noch dazu sie sich durch den Darmkatarrh schwach fühlte. Aber sie gab seinem Drängen nach, in absichtsvoller Eile suchten sie das Abteil auf und la-gen dann schweißgebadet nebeneinander.

      Nur dass sie immerfort mit Hammelfleisch und Reis beköstigt wurden, am Morgen schon, nach russischer Art, auch am Mittag und am Abend, wohl weil sich die Köche auf die unterschiedlichen Essgewohnheiten der verschiedenen Religionen nicht anders einzustellen wussten, davon sprach sie gegenüber den Kolleginnen. Sie erzählte in belustigter Tonart davon, sprach über ihren Appetit auf Kartoffelbrei, den die Mutter bei Durchfall immer anbot.

      Auf der Rückreise nach Moskau machten sie Station in Kislowodsk, dem Kurort, in dem der russische Dichter Lermontow einst im Duell seinen Tod gefunden hatte. Man führte sie vor das Denkmal und Gisela dachte an ihre noch nicht lange zurückliegende Lektüre von „Ein Held unserer Zeit“. Sie las gern von geschlagenen Helden, gab ihnen ihr Mitgefühl und verachtete sie zugleich auch etwas, war angezogen und abgestoßen zugleich. Der Reisebegleiter schilderte, wie der Dichter an seiner Zeit zugrunde gegangen war. Johannes folgte ihm darin, gab für Gisela eine griffige Zusammenfassung ihrer Leseeindrücke, betonte, dass in der heutigen Zeit niemand zugrunde gehen müsse. Helden könnten sich entfalten, flögen in den Kosmos, begingen ungeahnte Arbeitstaten, wüchsen über sich hinaus. Gisela war befriedigt über die Fähigkeit ihres Johannes, ihr solche Zusammenfassungen an die Hand zu geben. An solche Sätze hielt sie sich wie an eine neu gefundene Wahrheit.

      Sie war übervoll von Eindrücken, als sie im Zug nach Berlin saß. Sie ging die Stationen der Reise in Gedanken durch, versuchte die Bilder den Orten zuzuordnen, deren Namen sie vor sich hin sagte. Der Kopf schwirrte ihr, sie würde alles auf morgen vertagen. Erleichtert auch war sie, als der Zug in den Ostbahnhof einfuhr. Sie freute sich auf ihren Jungen, dem sie ein großes rosafarbenes Stehaufmännchen mitgebracht hatte. Wie würde er damit umgehen? Und wie würde sie die Eltern vorfinden, was die Mutter zu dem kleinen braunen Keramikkrug sagen, den sie auf dem Basar in Machatschkala gekauft hatte? Auch den Kolleginnen würde sie viel zu erzählen haben.

      Jetzt kam erst der Sommer, an dessen Ende Johannes für drei Wochen in Berlin sein wird. Im September wollte sie mit den Studien beginnen, für die der oberste Ethik-Genosse ihr eine Literaturliste versprochen hatte. Dann würde sie schon die ersten Konsultationen bei ihm haben. „Da möchte ich schon einiges hören von dir“, hatte er ihr angekündigt und sie bekam einen Schreck, wie immer, wenn sie nicht wusste, was auf sie zukam.

      Bis dahin hatte sie aber erst die Folgen dieses Frühlings auszubaden. Davon ahnte sie noch nichts, als sie am Wochenanfang, neugierig und gut ausgeschlafen die Taubenstraße ansteuerte. Sie begrüßte die Kolleginnen, die sich mit beiläufigen Bemerkungen nach ihrer großen Reise erkundigten. Das Interesse erschien nicht dringend. Lediglich Anni erkundigte sich, wie Johannes in Moskau lebe, wie es im Touristenzug gewesen sei und welche Orte sie gesehen hatten. Gisela erzählte stückweise von ihren Eindrücken, beim Mittagessen und anderswo. Einen lückenlosen Bericht gab sie nicht.

      Vierzehn Tage später rief Genosse Wirker sie in sein Zimmer. Schon an seiner Miene war klar, dass er zu einer größeren Rede ausholen würde. Wahrscheinlich würde es mit ihrer zukünftigen Tätigkeit und den geplanten Studien zusammenhängen, vermutete sie. Er begann damit, dass man große Er-wartungen in sie, Gisela, setze. Sie erschrak, es irritierte sie, dass sie Gegen-stand besonderer Erwartungen sein sollte. Dann wechselte er abrupt den Blickpunkt, sprach mit ausladenden Gesten über die Möglichkeiten von In-formation und Dokumentation als Voraussetzung erhöhter Qualität gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. Deshalb sind wir jetzt ein eigener Direktionsbereich, der mir als Leiter unterstellt ist, vergaß er nicht zu erwähnen. Das hörte Gisela nicht zum ersten Mal, sie fragte sich, wo es mit dieser Rede enden sollte. Dann sprach er über die Verantwortung der Parteigruppe unter der bewährten Führung von Genossin Pietsch, die sie ja kenne. Sie brauchten Nachwuchs, um zukünftige Aufgaben lösen zu können. Sie hätten Hoffnungen in sie gesetzt und erwarteten, dass sie sich würdig erweise. Jetzt stieg Giselas Aufmerksamkeit, sie ahnte worum es gehen sollte. Aber sie täuschte sich, sie sollte nicht als Kandidatin der Partei geworben werden. Man wollte eine Aussprache über ihre Perspektive führen und dabei politische Unklarheiten besprechen, die bei ihr zutage getreten waren. Ihre Arbeit schätze man, meinte der Chef, der allerdings erst seit Kurzem Einblicke hatte, aber es gebe Dinge, die dringend zu klären seien. „Morgen früh um 9 Uhr in der Kaderabteilung, im Zimmer von Genossin Geffke erwarten wir dich.“ Mit dieser Mitteilung beschloss er abrupt das Gespräch, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit.

      Noch mehrmals rekapitulierte sie in Gedanken dieses Gespräch, fand nichts, worauf sich seine Andeutungen beziehen konnten. Sie ging ihre kleinen Verfehlungen durch, zu denen sie leicht zu verführen war. Erschrak, beim Gedanken an ihren Besuch in Neukölln, bei dem Anni sie gesehen hatte. Damit hatte sie gegen eine ihre auferlegte Beschränkung verstoßen, zu der sie sich bereitwillig durch Unterschrift verpflichtet hatte. Aber es lag jetzt schon über ein Jahr zurück, dass Anni sie deshalb angesprochen hatte. Seitdem war sie nicht mehr dort gewesen. Die


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