Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold


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halten. Daher ließ sie das Selbstmitleid, das sie manchmal spürte, nicht aus sich heraus.

      Die Mutter gab ihr mit wenigen Worten die Gewissheit, dass sie ein normales Leben führen, ihr Kind in aller Ruhe zur Welt bringen konnte.

      So verging die Zeit. Im August kam Johannes für drei Wochen, sie stand auf dem Bahnsteig, als er aus dem Zug stieg. Er ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Glücklich lehnte sie sich an ihn.

      Für einige Tage fuhren sie mit dem Zelt an einen See. Es erinnerte sie an vergangene Tage, deren Stimmung sich allerdings nicht mehr herstellte. Das Schlafen auf dem flachen Boden bereitete ihr jetzt Beschwerden. Die Augustnächte waren kühl, aber Johannes bestand darauf, ihre Nacktheit zu spüren. Sie verhüllte sich, kroch in sich hinein, nahm seine Hand, damit er die Bewegungen in ihr spüren konnte. So ruhig nebeneinander lagen sie nicht lange, weil Johannes zu ihr drängte, er wolle die sehnsüchtig leeren Moskauer Nächte nachholen, sagte er ihr.

      Tagsüber rang er schwer mit der Aufgabe, einen Artikel für die „Zeitschrift für Philosophie” über die philosophischen Grundlagen der friedlichen Koexistenz zu schreiben. Den wollte er dem Redakteur am Ende seines Urlaubs übergeben. Er saß vor einer Kiste, auf der sein Schreibpapier lag und notierte Gedanken, die er Gisela zuvor referiert hatte. Kurze Zeit saß er so, dann sprang er auf, lief über die Wiese bis zum Waldsaum, kam zurück, lief wieder dorthin. Sie durfte ihn nicht ansprechen, wenn er so mit Gedanken rang. Sie ging in den Wald, suchte Pilze, säuberte sie, bereitete das Mittagessen. Hatte er eine neue Nuance in seine Gedanken gebracht, teilte er ihr die mit. Sie hörte ihm zu. Einmal widersprach sie, da gab er lange und wortreiche Erklärungen ab. Daraufhin wurde sie vorsichtiger, hielt sich zurück, denn sie wollte zu ihrer Lektüre kommen, die sie mit sich selbst verband. Sie las Rollands „Verzauberte Seele”. Dann ging sie ins Wasser, schwamm weit in den See hinaus, trotz ihres dicken Bauches. Diesen Urlaub hatte sie sich anders vorgestellt.

      Nach zwei völlig verregneten Tagen brachen sie ihr Zeltleben ab. Johannes beschuldigte die Kiste, dass er nicht das aufs Papier bringen konnte, was er dachte. Er verbrachte die restlichen Tage des Urlaubs in ihrem Lesesaal, schrieb dort an seinem Artikel. Es erleichterte sie, in ihrem bequemen Bett zu liegen, in der Nähe der Babysachen zu sein. Kurz bevor er wieder abfuhr, kauften sie noch das Kinderbett, vervollständigten die Babyausstattung, für die sie auf einen Stempel hin 500 Mark bekam.

      Als die Wehen begannen, saß sie beim Friseur. Sie wollte sich ihre blonden Haare noch einmal kurz schneiden lassen, um längere Zeit Ruhe zu haben. Plötzlich spürte sie ein Ziehen im Unterleib, es erinnerte an die Schmerzen, mit denen sich die Mensis ankündigte. Es hielt einige Zeit an, kam nach einer Pause wieder. Da saß sie schon unter der Trockenhaube, konnte gleich nach Hause gehen. Den Abend und die Nacht hindurch verbrachte sie mit diesem halbstündigen Rhythmus. Zwischendurch schlief sie ein, bis gegen Morgen das Ziehen kräftiger wurde, der Abstand hatte sich auf zwanzig Minuten verkürzt. Jetzt sagte sie der Mutter Bescheid, die Gisela nicht zu früh beunruhigen wollte. Als sie in den Vormittagsstunden in den roten Backsteinbau des Oskar-Ziethen-Krankenhauses kam, gab es viertelstündige Intervalle. Bei der Untersuchung stellte die Hebamme eine markstückgroße Öffnung der Gebärmutter fest, bereitete sie auf eine lange Wartezeit vor. Sie äußerte sich skeptisch über die schmerzarme Geburt, von der Gisela ihr erzählte, aber lobte die Technik der Bauchatmung, mit der die junge Frau der nächsten Wehe standhielt. Dabei ging Gisela auf dem Flur hin und her, hielt sich die Hüften und ließ die Luft in den Bauch. Die Schmerzen wurden heftiger, die Abstände der Attacken kürzer. Sie hatte das Gefühl, es würde ihr den Unterleib auseinandertreiben. Am späten Abend ergab die Untersuchung eine handtellergroße Öffnung, man rasierte ihr die Schamhaare. Zwischen den Schmerzattacken spürte sie eine unendliche Müdigkeit. So lange wie es gedauert habe, würde es nun nicht mehr dauern, verkündete ihr die neue Schwester, die nun ihren Dienst angetreten hatte. Endlich begann das Pressen, sie durfte jetzt in den Kreißsaal, auf ein hochgelegenes Bett. Auch jetzt vergaß sie nicht, was sie in den letzten Monaten gelernt hatte, hechelte, hielt den Pressdrang so stark wie möglich zurück. Endlich gab die Hebamme das Zeichen, dem, was mit ungeheurer Intensität aus ihrem Körper drängte, nachzugeben. „Pressen, pressen”, hießen jetzt die Kommandos. Giselas gesamte Existenz konzentrierte sich in ihrem Schoß, von dem sie annahm, dass er zerreißen würde. Dann kam Erleichterung, ein den ganzen Körper durchflutendes Glücksgefühl. Sie hörte ein Quäken, dachte, da ist es nun! Nach wenigen Augenblicken legte man ihr ein schleimiges, zerknautschtes Wesen auf die Brust. Später zeigte man ihr ihren Jungen noch einmal. Nun schon eingebündelt. Alle diese Augenblicke flossen später in ihrem Gefühlsgedächtnis mit dem erleichternden Glücksgefühl zusammen, das sie unter der Geburt erlebt hatte.

      Das Kindbett verlief ohne besondere Vorkommnisse. Damals achtete man auf einen strikten zeitlichen Rhythmus, in dem die Mütter mit ihren Sprösslingen zusammenkamen. Gisela machte sich darüber keine Gedanken, nahm es, wie es war, hatte keine Sorgen mit ihrem Sohn, den sie Ingolf nannte. Er trank, schlief nach wenigen Minuten an ihrer Brust ein, hatte zu sich genommen, was er brauchte.

      Beklommen wurde ihr, wenn die drei Frauen in ihrem Zimmer Besuch von ihren Männern bekamen. Obwohl die Eltern sie besuchten, wartete sie auf Johannes. Sie wollte zeigen, dass auch sie einen Vater zu ihrem Kind hatte. Ihr entgingen nicht die misstrauischen Blicke der Frauen, als sie von ihrem Mann in Moskau sprach. So nannte sie Johannes jetzt. Die Mutter meinte in ihrer lakonischen Art: „Es gibt dir sowieso niemand was dazu.” Gisela nickte, aber die innere Spannung wich nicht.

      Einen Tag vor ihrer Entlassung erschien er. Sie sah ihn erst kaum hinter dem riesigen Strauß von Chrysanthemen, den er vor sich hielt. Ein solches Bukett, das war echt ihr Johannes! Sicherlich hatte er manches in Bewegung gesetzt dafür. Wahrscheinlich hatte er die Erlaubnis eingeholt, im Blumenladen der Regierung in der Kronenstraße seine Bestellung aufzugeben. Möglicherweise hatte er daran schon im Sommer gedacht. Er legte die Blumen aufs Bett, kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, die sich aufgerichtet hatte und schloss ihren Oberkörper völlig ein. Am nächsten Tag schon holte er sie mit dem Baby aus der Klinik.

      In ihrem kleinen Zimmer wurde es jetzt eng für sie drei. Dem Kinderbett musste der kleine Tisch weichen. Die Anrichte musste nun auch die Babysachen aufnehmen. Gewickelt wurde auf dem Kinderbett, an dem sich das vordere Gitter herunterklappen ließ. Johannes ließ seine Sachen im Koffer, der im Schlafzimmer der Eltern stand. Er schlief neben Gisela auf der Liege, sprach über die Qual, die es ihm bereitete, sie so dicht zu spüren und den-noch nicht berühren zu dürfen. Sie war stets schläfrig, wurde nur munter, wenn Ingolf sich meldete, wartete auf die Stunde, ihn an die Brust zu legen.

      Johannes wollte, dass sie heirateten. Davon war zwischen ihnen vorher nicht die Rede. Deshalb überraschte sie sein Vorschlag, aber er leuchtete ihr ein. Sie bekamen dann Geld für die Familientrennung, konnten sich für eine gemeinsame Wohnung anmelden, die sie in zwei Jahren vielleicht bekämen, wenn er zurückkam. Er drang jetzt auf einen möglichst schnellen Termin. Die Mutter wunderte sich über die plötzliche Eile, der Vater meinte Gisela gegenüber, ob es die richtigen Gründe für eine Ehe seien, die Gisela ins Feld geführt hatte. „Dass wir uns lieben, ist sowieso klar“, trumpfte sie dem Vater gegenüber auf, der erwiderte nichts mehr. Die Mutter sah mit dem frühen Termin vor allem praktische Probleme. Sie wollte der einzigen Tochter eine richtige Feier ausstatten, aber das ginge nicht, solange Gisela in den Wochen sei, noch stillte, gab sie zu bedenken.

      Johannes setzte sich durch, erwirkte auf dem Standesamt einen Termin, kurz vor seiner Rückkehr nach Moskau. Gisela war es recht so. Sie wollte verheiratet sein, es gehörte in ihrer Vorstellung zu einem wirklichen Erwachsenenleben.

      Sie feierten drei Tage lang. „Fast wie eine Bauernhochzeit“, meinte die Mutter ironisch. Denn die drei Tage waren mehr Last als Lust. Man hatte die Gäste aufgeteilt in der engen Wohnung, ihre Verwandten und Freundinnen, seine Genossen, Eltern und Geschwister, es kamen viele Menschen zusammen und man musste sie auf mehrere Tage verteilen. Die Mutter hatte deren Bewirtung allein in der Hand, Gisela nahm Glückwünsche und Geschenke entgegen, stillte ihr Baby, das sie in diesen Tagen schon am Morgen badete. Sie ging dann ins kleine Zimmer, zog sich ihr cremefarbenes Kleid über den Kopf und legte das Kind an die Brust. Danach lag sie einige Augenblicke neben ihm auf der Liege, fühlte sich erschöpft, hätte am liebsten geschlafen. Johannes unterhielt


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