Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold


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die Geschichte ihrer noch nicht begonnenen Ehe zu datieren begann, schien ihr, dass in diesem Augenblick etwas Neues begonnen hatte. Der Trennungsschmerz ritzte das Bewusstsein ihres Ich, es war eine schmerzhafte Wahrnehmung.

      Die letzten Tage vor seiner Abreise sahen sie sich im Lesesaal, gingen zusammen zum Mittagessen. Sie erwartete und fürchtete diese kurzen Begegnungen. Sie war schon allein, sie fühlte es deutlich und wollte sich einrichten darin. Am Freitagabend würde er vom Ostbahnhof losfahren. Zwei Nächte und einen Tag sollte er unterwegs sein, bis er die große Stadt, nach der die ganze Welt schaute, erreicht hatte. Er wollte nicht begleitet werden von ihr, es würde ihm das Herz brechen, wenn er sie allein auf dem Bahnhof zurücklassen musste.

      Sie saß zu Hause bei den Eltern, als sein Zug aus dem Bahnhof rollte.

       Neues Beginnen

      In der Bibliothek fragte sie niemand nach Johannes. Sie tat ihre Arbeit, am Abend stellte sie fest, dass wieder ein Tag vergangen war. Unmerklich gingen die Tage dahin.

      Eine neue Arbeitsaufgabe half ihr, sie zu füllen. „Die Zeit der Schonung ist vorbei“, meinte Herr Kobus, als er ihr erklärte, worum es ging. Sie sah ihn erstaunt an und er lachte ihr ermunternd ins Gesicht, sprach über die verantwortungsvolle Aufgabe, in die sie einbezogen werden sollte. Seit einiger Zeit schon erarbeiteten die Genossinnen und Kolleginnen Bibliothekare des GewiInstituts, wie es kurz unter Eingeweihten genannt wurde, eine Bibliographie zur Geschichte der Kommunistischen und Arbeiter-Parteien. Dieses Verzeichnis sollte in fünf Bänden das einschlägige Schrifttum zwischen den Jahren 1945 und 1959 erfassen und verzeichnen. Der 1. Teil des 2. Bandes, der die Arbeiten zur Geschichte der KPD enthielt, war bereits 1959 erschienen. Gisela hatte erlebt, wie die Bibliographen zum 10. Republikgeburtstag ausgezeichnet wurden. Sie freute sich, dass man sie, die Parteilose jetzt in diese Arbeit einbezog, war gern an solchen auszeichnungsverdächtigen Sachen beteiligt. Es ging ihr nicht unbedingt um die Geldprämie, obwohl sie die natürlich anzulegen wüsste. Vor allem wollte sie dabei sein, wenn gelobt wurde, wollte dazugehören, anerkannt sein. Insgeheim hatte sie schon für die Einrichtung des Lesesaals auf eine Auszeichnung gehofft, aber es war niemand auf die Idee gekommen und sie war zu schüchtern, um auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt kam sie in diese preiswürdige Arbeitsgruppe hinein, war erfreut, dass der Chef ihr derlei zutraute. Der erklärte, dass es um die Fertigstellung des 1. Bandes ging, der alles Geschriebene über die Kommunistische Internationale, über die Internationalen Konferenzen der Parteien und über die KPdSU zusammenfassen sollte. Parallel dazu würde am Teil 2 des 2. Bandes gearbeitet, der die Reden und Schriften der Mitglieder und Kandidaten des Politbüros der SED enthalten würde. Gisela sollte für den ersten Band das bibliographische Material ermitteln. Es fehlten die Nachweise für die Internationalen Konferenzen der letzten Jahre. Der Chef nannte eine Reihe von Zeitungen aus Bulgarien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, die nach solchen Beiträgen durchzusehen seien. Er übertrug ihr für den Anfang die Durchsicht von „Rabotni?esko delo”, dem „Neuen Deutschland” der Bulgarischen Partei. Auf ihren Einwand: „Ich kann doch gar nicht Bulgarisch,” reagierte er besänftigend, meinte: „Sie werden mit ihren Russischkenntnissen schon zurechtkommen.“ Die entsprechenden Verlautbarungen und Beschlüsse würde sie schon an der äußeren Form, an der Art der Druckgestaltung erkennen, sie kenne das doch aus dem ND, meinte er beruhigend. Er ging, überließ sie sich selbst.

      Es bestätigte sich, was er ihr angekündigt hatte. Sie fand mühelos die gesuchten Berichte über Parteitage, Plenartagungen, Parteikonferenzen, obwohl sie in bulgarischer Sprache gedruckt waren. Die Form wiederholte sich, die Zählungen der Konferenzen waren mit römischen Buchstaben angegeben und erleichterten ihr die Entschlüsselung der Zahlen. Sie bekam schnell Routine beim Durchblättern der Zeitungen, weil derlei immer am gleichen Platz zu vermuten war. So kam sie schnell voran, konnte Herrn Kobus die Karteikarten übergeben, auf die sie die notwendigen Angaben notiert hatte. Dann übertrug er ihr die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei mit ihrer Zeitung „Trybuna Ludu“. Die Erfahrung wiederholte sich, obwohl ihr das Polnische noch fremder war als das Bulgarische. Dann stoppte der Chef überraschend die Arbeit. Man müsse abwarten, meinte er. „Es gibt Ärger“, sagte er kurz, ohne weitere Erklärung.

      Der Chef war jetzt oft nicht in seinem Zimmer, wurde zu Aussprachen gerufen, wie sie aus den maliziösen Kommentaren von Edith erfuhr. Er lief aufgeregt herum, schien Gisela verwirrter als sonst. Sie hätte gern erfahren, was ihn quälte, sie war ihm in den letzten Monaten etwas näher gekommen.

      Vor einiger Zeit fragte er sie: „Hast du Ärger mit deinen Eltern?“ Überrascht sah sie ihn an, fragte: „Wieso?“ Es war das erste Mal, dass er ihr eine so persönliche Frage stellte. Sie schüttelte den Kopf und er meinte einlenkend „Es hätte doch sein können.“ Da begriff sie, dass er ihren Zustand meinte, der jetzt nicht mehr zu übersehen war. Er wollte auf diese umständliche Weise ein Gespräch mit ihr beginnen. Als sie nicht antwortete, schwieg er eine Weile und schaute auf sie mit eng zusammengekniffenen Augen. Das tat er immer, wenn er verlegen war. Schließlich fragte er sie ganz direkt, ob Johannes und sie die Absicht hätten zu heiraten. „Hat er darüber gesprochen, mein Genosse Johannes Selber?“, fragte er mit gepresster Stimme. Man merkte ihm die Überwindung an, die ihn eine solche Nachfrage kostete. Auf seine teilnehmende Frage antwortete sie schnippisch: „Johannes und ich, wir sind uns einig. Außerdem gehen unsere Angelegenheiten niemanden etwas an.“ Verlegen beschwichtigte er sie, betonte, leicht stotternd, er wolle ihr nur seine Hilfe anbieten, wenn nötig. Seine Reaktion ließ sie beschämt verstummen, gern hätte sie von ihrer brüsken Reaktion etwas zurückgenommen. Aber sie vermochte es nicht. Sie konnte nicht reden über das, was sie im Innersten quälte. Aus dem Himmel erfüllten Glücks, in dem es keine Gespräche über so profane Dinge wie Wohnung oder Heirat gegeben hatte, war sie urplötzlich auf die Erde ihrer Verlassenheit gestürzt. Hier fand sie sich jetzt erst langsam zurecht, registrierte die Veränderungen ihres Körpers, lauschte nach innen, hörte die Klopfzeichen, nahm die Bewegungen des werdenden Lebens wahr.

      Nein, vor solchen Kobus-Fragen, so gut sie gemeint waren, wollte sie gefeit sein. Sie hatte es mit sich auszumachen.

      Als sie ihren Chef nun so aufgeregt und verwirrt herumlaufen sah, hätte sie ihm gerne beigestanden. Aber sie wusste nicht, wobei. Sie erhoffte von der nächsten Dienstbesprechung Aufschluss. Tatsächlich kam er hier auf die Sache zu sprechen. Er verkündete, dass der neue Direktor die Einstellung der Arbeit an der gesamten Bibliographie verfügt habe. Sofort fuhren Edith und Anni aufgebracht dazwischen, fragten, ob man beabsichtige, das ganze Mate-rial, die Arbeit von Jahren, in den Papierkorb zu werfen. Nun bemühte sich der Chef, eine beruhigende Tonart anzuschlagen, bat, ihn nicht zu unterbrechen, damit er die ganze Angelegenheit in Ruhe darlegen könne. Der 2. Teil des 2. Bandes, der die Geschichte der SED, einschließlich ihrer Vorgeschichte, der Vereinigung von KPD und SPD enthielt, stehe kurz vor seinem Erscheinen. Er hätte das Manuskript ins große Haus getragen, zum Absegnen, wie er sich ausdrückte. Von dort war nach einigen Wochen, vorgestern, ein Anruf gekommen. Man rief Herrn Kobus in die Abteilung, in der auch der Mann von Helga Pietsch arbeitete. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass das Manuskript keinesfalls so gedruckt werden könne. Parteifeinde hätten sich dort eingeschlichen. Herr Kobus räumte ein, dass ihn diese Mitteilung bestürzt und er um nähere Erläuterungen nachgesucht habe. Bei den Namen, die man ihm nannte, handelte es sich zum Teil um bekannte Männer, die die Partei zu bestimmten Zeiten repräsentiert hatten. Herr Kobus verstand nicht, warum die nicht in die Parteigeschichte gehörten, aber er wurde, wie er nun zu erkennen gab, eines anderen belehrt. Mangelnde Wachsamkeit warf man ihm dagegen in Fällen vor, in denen Leute, die längst im Westen waren, mit ihren Namen das Manuskript verunzierten. Sie beeinträchtigten die Weihe solcher Dokumentation zur Parteigeschichte, hatte man Herrn Kobus wissen lassen. Man hatte sich nun den ersten, prämiierten Teil der Bibliographie noch einmal vorgenommen und auch hier Namen von Parteischädlingen gefunden, niemand hatte aufgepasst. Die Sache ging nun voll auf Herrn Kobus, weil die Abteilungsgenossen von damals nicht mehr die Abteilungsgenossen von heute waren und man nur noch ihn verantwortlich vorladen konnte. Auch hier machte man die zwei Kategorien schädlicher Namen aus. Bei den einen wiegte der Chef den Kopf hin und her und räumte ein: „Hätte uns nicht passieren dürfen.“ Bei den anderen blieb er hartnäckig bei seiner Meinung, dass sie hinein gehörten in unsere Bibliographie.

      Wenn


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