Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold


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Meinung teilten. Aber das war nicht so, wie die Arbeitsbesprechung erkennen ließ. Irene saß schweigend, erklärte das Ganze Gisela gegenüber zum „fürchterlichen Theater“. Auch hatte sie nur wenig mitgearbeitet bei der Sache. Ihre Katalogarbeit füllte sie aus. Gisela hörte neugierig und erstaunt zu, fühlte sich aber wenig betroffen, richtete die Gedanken bald auf anderes. Edith Gütze diskutierte mit, ließ aber erkennen, dass sie sich in das Wir des Chefs überhaupt nicht eingeschlossen fühlen wollte. Ihr Anteil an der Arbeit war gering und sie gönnte dem Chef offen-sichtlich eine solche Schlappe, weil der sonst immer alles richtig machte. Sie gab ihm zu verstehen, dass er auch jetzt der Chef sein musste, den er ihr gegenüber herauskehrte. So sah sie es, wenn er an ihrer Arbeit etwas auszusetzen hatte. Einmal hörte Gisela zwischen ihnen einen heftigen Wortwechsel, bei dem Edith das letzte Wort behielt. Sie beharrte darauf, dass sie die Buch-ausleihe betreue auch wenn er der Chef sei.

      Eine Partei mit ihm war nur Traude Heim, seine neue Stellvertreterin. Sie wolle ihre Verantwortung mit ihm zusammen übernehmen, sagte sie nachdrücklich. So entschiedene Worte hätte Gisela von der abgehärmten und gehetzten Frau nicht erwartet. Gisela erlebte sie immer nur in Eile, kaum, dass sie sich Zeit nahm, ein Wort an die junge Mitarbeiterin zu richten. Mit Brille und herausstehenden Zähnen hinterließ ihr Äußeres keinen gewinnenden Eindruck. Kam sie morgens in die Bibliothek, schleppte sie schwere Taschen, hatte schon eingekauft. Gisela machte darüber eine Bemerkung zu Anni, die darauf sehr ernst reagierte. „Traude schindet sich zu Tode. Aber der Mann erwartet es so und sie tut alles für ihn“, meinte sie. Fremd war Gisela diese Frau geblieben, überrascht war sie über deren Haltung. Die sprach ruhiger jetzt als sonst, schien weniger verwirrt als Herr Kobus. Auch bei der Diskussion, die durch Helga Pietsch ausgelöst worden war, blieb sie sachlich, während der Chef, am ganzen Körper zitternd, mit schriller, sich überstürzender Stimme sprach, fast schrie. Helga vertrat hier die Meinung von höheren Orts, die in diesem Fall die ihres Mannes war, wie Gisela mitbekam. „Ja, Genosse Kobus“, sagte sie mit Nachdruck in der Stimme, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Ihre Worte schienen eher an die ganze Tischrunde gerichtet, „Es ist so: die Partei hat Recht und du hast Unrecht. Das musst du einsehen.” Darauf wurde Herrn Kobus´ Stimme noch schriller. Er begründete zum wiederholten Male seine Meinung, dass alle hinein gehörten, die die Parteigeschichte mitbestimmt hatten. Seine Augen wurden ganz schmal, seine Lippen versprühten Feuchtes, wenn er so erregt sprach. Niemand erwiderte noch etwas. Auch seine Widersacherin entgegnete nichts auf seine Argumente. Gegen Schluss meinte Anni in ihrer freundlich vermittelnden Art, es würde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde.

      Aber damit hatte sie sich getäuscht. Nicht nur die Arbeit wurde eingestellt. Aus dem schon publizierten Band mussten die Parteifeinde getilgt werden. Ihre Namen und das, was sie geschrieben oder gesagt hatten, sollte zum Verschwinden gebracht werden. Wie nur, fragte Herr Kobus, vielleicht hilft uns der Teufel, meinte er mit Galgenhumor. In den folgenden Tagen schafften alle Mitarbeiter mehrere hundert Exemplare des Buches aus dem Magazin her-auf, stapelten sie auf und neben einem Tisch in Giselas Lesesaal. Herr Kobus hatte in einem Buch probiert, wie die verpönten Namen am wirkungsvollsten zum Verschwinden gebracht werden konnten. Er zeigte ihnen ein Exemplar, in dem er die bezeichneten Titel mit weißen Papierstreifen überklebt hatte. Hielt man die Seite gegen das Licht, war zu lesen, was unter der Klebestelle stand. „Das darf nicht sein“, meinte Frau Pietsch kategorisch und Herr Ko-bus schlug ein anderes Verfahren vor. Er schwärzte die bezeichneten Stellen mit Tinte. Das sah nicht gut aus, verunzierte das ganze bibliographische Werk. Aber diese Art erwies sich als wirksam. Es war unmöglich zu lesen, was unter der Schwärze stand.

      Gemeinschaftlich gingen sie ans Werk. Edith hielt die Liste der beanstandeten Namen in der Hand und las sie vor. Irene und Gisela nahmen je ein Buch in die Hand, bezeichneten die gelesenen Namen mit einem Bleistift und legten Papierstreifen in die Seiten. Dann gingen Anni und Traude ans Werk, schwärzten die Buchstaben mit Hilfe einer Schablone. Das war schwierig, die Schwärze musste präzise auf die entsprechende Stelle begrenzt werden. Es war zu verhindern, dass sie noch andere einbezog, die keine Parteifeinde waren. Man arbeitete Hand in Hand, jeden Tag mehrere Stunden, brauchte mehrere Wochen, um mit dem Bücherberg fertig zu werden. In jedem Buch waren es 30 Stellen. Da es immer die gleichen Namen waren, konnten sie sich schließlich die Namen der Parteifeinde zurufen. Gisela und Irene alberten herum, waren froh, dass es etwas zum Lachen gab, weil es eine langweilige Arbeit war. Anni lachte nicht mit. Sie war traurig, dass sie hier den Namen von Rudolf Herrnstadt tilgen musste, der jetzt immer zusammen mit Wilhelm Zaisser genannt wurde, mit dem er gar nichts zu tun hatte, wie sie betonte. Über die anderen wusste sie wenig, aber Herrnstadt kannte sie aus ihrer Tätigkeit in der Bibliothek des „Neuen Deutschland“. Seine Artikel hatte sie immer mit Interesse und Nutzen gelesen. Er ist einer, der mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg hält. Auch Unbequemes ausspricht. Ulbricht könne ihn nicht leiden, fürchte ihn. Sie schloss mit einem geflügelten Wort, das sie auch bei anderen Fällen parat hatte: „Wer die Wahrheit geigt, ist selten gern gesehen“, verkündete die sonst zurückhaltende Frau mit Nachdruck. Traude schwieg zu den Reden von Anni, zuckte die Achseln, hoffte, dass sich alles als Irrtum herausstellen würde. „Wir haben nach unserem bibliographischen Gewissen gehandelt“, meinte sie, „und das gebietet uns Vollständigkeit“. Helga Pietsch war nur selten bei dieser Arbeit, sie war in ihrer Sperrbibliothek unabkömmlich. Wenn sie half, unterließ Anni ihre Reden. Sie schwieg, nachdem Helga sie gefragt hatte, ob sie sich schlauer dünke als die Partei. Nur Irene und Gisela kicherten, wo es sich anbot und die anderen schienen froh, dass es etwas zum Lachen gab.

      Noch während sie mit dem Schwärzen beschäftigt waren, führte sich der neue Institutsdirektor bei einer Versammlung im Großen Hörsaal gegenüber den Genossen Professoren, Dozenten, Aspiranten ein. Gisela konnte als Parteilose nicht mit dabei sein, aber auch von den anderen Bibliotheksmitarbeitern waren nur Herr Kobus und Helga Pietsch, die Parteiverantwortliche zu-gelassen. Gisela wäre gern dabei gewesen, schon weil sie den Neuen hören wollte. Der kleine, runde Mann war vor ihr die Treppe hochgestiegen, schien dabei nicht unbehände. Sie wusste nicht, wen sie vor sich hatte, erfuhr erst später, dass er der neue Direktor war. Von Johannes hatte sie immer erfahren, worum es bei solchen Veranstaltungen ging. Herr Kobus berichtete nur, dass es wiederum um ihn gegangen war und die mangelnde Wachsamkeit, die er hatte walten lassen. Aber immerhin habe der Neue in einem anschließenden Gespräch mit dem Chef gebilligt, dass die Arbeit am 1. Band wieder aufgenommen und beendet werden sollte. Vor der Publikation sollte Herr Kobus gründlich die zuständigen Genossen konsultieren, damit nicht wieder solche politischen Pannen passierten.

      Für Gisela bedeutete das, die Durchsicht der großformatigen Zentralorgane wieder aufzunehmen. Ihr wurde jetzt die „Rudé právo” zugeteilt. Auch das Tschechische war ihr fremd wie die anderen Sprachen, aber sie verfuhr nach der nun schon gewohnten Routine. Sie wunderte sich, dass es so einfach war, an einer so wichtigen Sache mitzuarbeiten. Aber sie hatte auch mitbekommen, wie leicht man hineinfallen und anecken konnte. Allerdings sah sie das nicht als ihre Sache an, beruhigte sich bei dem Gedanken, dass dafür Herr Kobus zuständig war. Der ging nun mit neuem Elan an die Fertigstellung des 1. Bandes, um dann den 3. und 4. Band zu beenden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er nicht, dass sein Werk unvollendet bleiben würde.

       Niederkommen

      Als Gisela 12 Wochen nach der Geburt ihres Sohnes an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war Herr Kobus dabei, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er würde gehen, hieß es. „Er muss“, erklärte Anni an Gisela gewandt. Nähere Erklärungen gab sie nicht, bestätigte nur, dass es mit den geschwärzten Stellen zu tun habe. Auch um den neuen Band hatte es Kontroversen gegeben. Trotz eingehender Kontrolle durch obere Stellen enthielt er Namen, die wiederum bei leitenden Genossen Anstoß erregten. Es hatte während Giselas Abwesenheit noch eine zweite Schwärzung gegeben, dennoch musste sich Herr Kobus erneut rechtfertigen. Die Arbeit an den noch ausstehenden Bänden war nun endgültig eingestellt worden. In den wenigen Wochen, in denen der Chef noch in der Bibliothek war, richtete er nur selten das Wort an Gisela, er war schweigsam und in sich gekehrt. Sie wagte von sich aus nicht, ihn zu fragen, wo er hingehen würde.

      Später erinnerte sie sich manchmal seiner ungeschickten Art, ihr seinen Beistand anzubieten. Aber damals war sie ganz und gar auf ihren neuen Alltag konzentriert.

      Die Erlebnisse der


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