Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
Читать онлайн книгу.die Tage und Wochen zu kalkulieren, Arbeitsschritte mit ihnen in Zusammenhang zu bringen. Herr Ko-bus kam auf seine Worte nicht wieder zurück. Sein Erscheinen in ihrem Lesesaal unterlag einem Rhythmus, der mit ihrer Arbeit nichts zu tun hatte. Täglich kam er um 12.30 Uhr, gleich nach der Mittagspause. Bis dahin hatte sie ihn nur am Morgen um dreiviertel acht, im Flur vor seinem Zimmer gesehen, wo er kurz guten Morgen! sagte. Wenn sie sich verspätete, Minuten nach Arbeitsbeginn den Flur entlang hastete, deutete er auf seine Taschenuhr, die er in der Hand hielt und sagte streng: „Pünktlich sein!“ Er hob die Augenbrauen, verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln, nur seine hellen Augen blieben ernst. Das fand sie übertrieben, begriff aber, als sie eines Morgens zwanzig Minuten zu spät gekommen war, dass ihr das nicht mehr passieren durfte. Sie hatte die S-Bahn versäumt und lief mit schnellen Schritten an Herrn Kobus´ Tür vorbei. Sie saß schon hinter ihrem Schreibtisch, als der den Kopf zur Tür hineinsteckte. Heute bekam sie eine längere Lektion über die Einhaltung der Arbeitszeit, er lobte Irene, die immer zeitig da war, Gisela hätte vor Peinlichkeit im Boden versinken mögen. Als er nach der Mittagspause im Lesesaal erschien, kam er auf die Sache nicht mehr zurück, sondern erkundigte sich nach dem Fortgang der Arbeit. Er ging an den Regalen entlang, sah sich an, welche Bücher sie ausgewählt hatte, wie sie geordnet waren, kam schließlich an Giselas Schreibtisch. Auch hier schaute er auf die Bücherberge, die vor ihr lagen, fragte nach Dingen, die er sehen konnte, lobte, wenn er in den Katalogkarten blätterte, äußerte sich befriedigt über den Fortgang der Dinge. Bücher lagen zur Seite, bei denen sie ihn fragen wollte, wohin sie gehörten. Sie sammelte solche Fragen, weil sie unsicher war, aber auch, weil sie spürte, dass er Anlässe suchte, ihr etwas zu erklären. Das kannte sie schon von ihrem Vater, den es offensichtlich befriedigte, wenn sie sich gelehrig zeigte. Das war auch hier so. Sie hörte stehend zu, sah zu ihm auf. Er war nicht viel größer als das Mädchen, deshalb spürte sie, wenn er sich in Eifer redete, seinen feuchten Atem auf ihrem Gesicht. Die Schritte, die sie rückwärts ging, folgte er ihr nach. Lieber noch saß sie, dann sprach er über sie hinweg, sie blickte nach unten, übersah so den weißen Schaum, der sich in seinen Mundwinkeln bildete. Es ekelte sie. Er wirkte angespannt, wenn er sprach, zuckte mit Armen und Schultern, manchmal ging das auf sein Gesicht über. Es passierte, dass er beim Sprechen anstieß oder unerwartet in Heiterkeit ausbrach. Das verwirrte sie immer, weil es so unerwartet kam. Er kicherte und feixte, um ebenso plötzlich abzubrechen. Insgesamt fand sie ihn nicht unfreundlich, sah ihn bemüht, es ihr gegenüber auch zu sein. Das rührte sie ein wenig, hinderte aber eine gelöste Atmosphäre im Umgang mit dem Chef. Bei den wöchentlichen Arbeitsbesprechungen erlebte sie, dass er auch den anderen gegenüber befangen war, obwohl sich hier alle mit vertrautem Du anredeten. Die Mädchen wurden bald in dieses brüderliche Du eingeschlossen, nachdem man sie eine Zeitlang Fräulein genannt hatte. Gisela fiel der Gebrauch dieser Anrede den Älteren gegenüber schwer. Auch als man sie mit dem Vornamen ansprach, blieb sie beim Sie oder vermied jede direkte Anrede.
Manchmal brachte Herr Kobus zu seinen Kontrollgängen Frau Pietsch mit, eine Mittdreißigerin, die ihn vertrat und in der Sperrbibliothek ihren Platz hatte. Eher klein und rund, war sie mit hohen Absätzen bemüht, würdevoll zu erscheinen. Sie lief sehr schlecht in ihren Schuhen, beugte sich nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten und drückte dabei den Steiß heraus, was ihren Gang entenhaft machte. Frau Pietsch sprach Gisela nur selten direkt an, unterhielt sich mit dem Chef, wenn sie ihren Rundgang machten. Stand sie Gisela gegenüber, irrten ihre Augen nach kurzer Zeit ab und ihr Blick verlor sich irgendwo. Das junge Mädchen empfand deutlich, dass die andere mit Wichtigerem befasst war, als sie und ihre Arbeit es hier waren. Diesen Ein-druck vermittelte sie auch in Besprechungen, in denen sie über die Belange ihres gesperrten Bestandes sprach. Der bestand aus Zeitungen, Zeitschriften und wenigen Büchern, alles hoch giftig, ideologisch gesehen, wie sie betonte. Sie verteidigte die besonderen Öffnungszeiten ihres Leseraums, meinte, die Genossen Aspiranten - so wurden die Leser hier genannt - könnten zu den angegebenen Zeiten kommen. Sie verteidigte sie gegen die Pläne von Herrn Kobus, der die Sperrbibliothek in den Spätdienst einbeziehen wollte. Aber die Genossin Pietsch war nicht bereit, dem Spätdienst ihr Reich anzuvertrauen. „Die politische Verantwortung trage ich“, sagte sie heftig gestikulierend, mit hochrotem Gesicht. Sie könne nicht fortwährend bis zwanzig Uhr arbeiten, meinte sie abrupt, eine Bemerkung, die Herr Kobus nicht verstand. Zwischen den Frauen wirkte er hilflos, hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Die anderen verstanden, was Helga mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. Anni Metz riss ihre großen braunen Augen auf und fragte, ob Helga befürchte, dass die Westzeitungen ihr, der Anni, schaden könnten. Auch Edith Gütze, eine grauhaarige Frau mit verschiedenfarbigen Augen empörte sich laut und sagte an Helga gewandt: „Wofür hältst du mich, ich bin länger in der Partei als du!“ Die lenkte jetzt ein, wollte die Sache ohne die Parteilosen hier geklärt wissen, womit sie Irene und Gisela und zwei weitere Kollegen meinte. Die anderen stimmten ihr zu, aber es ging zwischen den Frauen trotzdem noch eine Weile hin und her und Gisela spürte, dass es zwischen ihnen etwas feindselig Trennendes gab.
Sie zog Irene auf dem Nachhauseweg in ein Gespräch über diese Beobachtung. Die winkte ab, es interessiere sie nicht, meinte sie abrupt, sie bliebe hier ohnehin nicht lange. Ihr Freund habe jetzt von Sekura zu Siemens rüber gewechselt. Es würde nicht lange geheim bleiben, vermutete Irene. Gisela begriff, dass die andere ihre eigene Welt hatte, die ihr ganzes Interesse band. Gern hätte sie ihr von Anni Metz erzählt, dass die 18 Jahre lang bei dem Dichter Gerhart Hauptmann Sekretärin gewesen war. Bis zu dessen Tod . Es imponierte Gisela ungemein, sie wollte wissen, wie so ein Leben verlief. „Kein Privatleben, aber interessant“, sagte Anni nur knapp, fragte nach dem Buch, das Gisela mit nach Hause nahm. „Oskar Wilde liest du“, sagte sie gedehnt. Seitdem sprachen sie öfter über Bücher. Anni kam in den Nachmittagsstunden in den Lesesaal, wenn Herr Kobus nicht zu erwarten war. Sie plauderte mit Gisela, fragte nach den Eltern, erzählte von ihrem Mann, der bei dem Dichter in den letzten Jahren Masseur gewesen war. Er sei Kommunist, durch ihn habe sie begonnen, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. Politik war ihr im jährlichen Rhythmus zwischen Agnetendorf, italienischer Riviera und Hiddensee kaum begegnet. Aber dafür glanzvolles Theater in Berlin, Dresden und Mailand. Große Gäste, die das Haus empfing. Thomas Mann las. Dann Begegnungen mit einem jüdischen Emigranten in der Schweiz, der dem Dichter heftige Vorwürfe machte wegen seines Bleibens in Deutschland. „Er verstand nicht mehr, was vor sich ging“, fasste Anni solche Erzählungen zusammen. Dann der Krieg und das Erlebnis, wie Dresden in Schutt und Asche sank. Die so geliebte Stadt.
Obwohl sie eigentlich für die fast blinde Gattin Hauptmanns als Reisebegleiterin engagiert worden war, wurde sie die immer verfügbare Privatsekretärin bei ihm. Sie musste auch nachts da sein, wenn er diktieren wollte. Sie ertrug seinen Jähzorn. Sie schilderte immer neue Episoden aus dieser Zeit. Erst nach dem Tode Hauptmanns habe sie begonnen, ein eigenes Leben zu führen. Dem Dichter Johannes R. Becher und Oberst Tulpanow verdanke sie, dass sie eine Arbeitsstelle im Archiv der „Täglichen Rundschau“ bekam, einer Zeitung, die Gisela auch von zu Hause kannte. „Für mich begann wirklich ein neues Leben“, meinte Anni, und Gisela hörte ihr gern zu, fragte und wollte alles immer noch genauer wissen. Sie mochte Frau Metz, Anni nannte sie sie nur bei sich.
Ihr fiel auf, dass die Frau bei Differenzen immer schnell klein beigab. Besonders gegenüber Edith, die stets betonte, dass sie eine alte Genossin sei. Gegen deren starrköpfige Streitlust kam niemand auf und Anni räumte schnell das Feld, wenn es um die Rituale der Buchausleihe ging, deren Einhaltung von Edith mit Nachdruck überwacht wurde. Sie thronte hinter ihrer Theke, sortierte die verschiedenen Abschnitte der Leihscheine in die entsprechenden Karteien und wachte darüber, dass der Drei-Stunden-Rhythmus der Leerung eingehalten wurde. Sie nahm die Zettel aus dem Kasten, rief im Magazin an, wo Franz die angegebenen Signaturen und die Bände aus den Regalen nahm. Der fuhr im Fahrstuhl mit seinem Karren hoch, brachte die bestellten Bücher und nahm die neuen Zettel an sich. Ganz selten, dass sie selbst die Treppe hinunterging. „Das ist nicht meine Arbeit“, sagte sie aufgebracht zu Anni, die sie in ihrer Abwesenheit vertrat und die für ein freundliches Wort sofort bereit war, die Treppe hinunterzusteigen und ein Buch zu holen, auf das jemand wartete. Edith Gütze schien die Macht zu genießen, die sie hier über Bücher und deren Leser hatte und auch ihre Freundlichkeit verteilte sie sehr ungleich. Sie unterschied strikt zwischen Aspiranten, Assistenten, Dozenten und Professoren, von denen ließ sie sich schon mal zu Ausnahmeregelungen verleiten. Unter ihnen hatte sie ganz spezielle