Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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und würde sie an die Wand drücken. Sie kann nur eins tun: rennen, rennen, immer neue Auswege suchen. Einmal entkommt sie dem Monster für kurze Zeit in ihren Hof. Die enge Toreinfahrt versperrt ihm den Weg. Anna hört das Blubbern des Motors. Das Monster hat Zeit. Es wartet auf Anna. Sie sieht voraus, dass die Wände der Einfahrt dieses Geräusch und das Strahlen der runden Augen nicht aushalten und nachgeben werden. Schon erweitert sich die Einfahrt. Langsam fährt das Monster auf den Zaun zu, zu dem Anna flüchtet. Anna klettert über den Zaun, verhakt sich, zerreißt ihre Sachen, rennt. Das Monster walzt den Zaun nieder und streift Anna, ehe sie den Bahndamm, ihre Rettung, erreicht hat. Anna erwacht schreiend. Allmählich beruhigt sie sich mit dem Gedanken, dass in Wirklichkeit kein Auto über die Bordsteinkanten fahren kann.

      Anna läuft neben ihrem Vater her. Ihre Hand liegt in seiner. Wenn sie so miteinander gehen, ist Anna immer feierlich zumute. Manchmal nimmt der Vater Anna in die große Kirche mit. Zu Weihnachten. Oder zum Liebesmahl, wo Schwestern in weißen Umhängen große Rosinenbrötchen austeilen und man in der Kirche Tee trinkt und Rosinenbrötchen isst und zuhört und singt. Aber jetzt ist kein Liebesmahl. Der junge Bruder Borchert und seine Verlobte möchten Anna kennenlernen, denn sie sollen zusammen eine große Reise machen. Lang ist die Hauptstraße bis zum Davidshof. Auf dem Gras des kleinen Parks liegt etwas Schnee. Die großen Kugelbüsche und die langen, spitzen Bäume und das gelbe Schloss, in dem der Bischof mit seiner Familie wohnt, machen Eindruck auf Anna, aber sie wird auch ängstlich. Sie geht mit dem Vater in einen der Hauseingänge. Das Licht ist schon eingeschaltet.

      In der großen Wohnung sind einige Erwachsene. Eine junge Frau sitzt auf dem Sofa und lächelt Anna zu. Das ist die Verlobte, der Mann mit den blonden Haaren ist Bruder Borchert. Zwei blonde schöne Mädchen führen Anna in ihr Zimmer und zeigen ihr ein großes Puppenhaus. Die eine Schwester schaltet das große Licht aus. Mit einem Mal erstrahlt das Puppenhaus im Dunkel. In jedem der kleinen Zimmer brennt eine Lampe. Im Wohnzimmer eine Stehlampe. Die Eltern sitzen und unterhalten sich. Im Kinderzimmer die Deckenlampe. Die beiden Kinder liegen unter kleinen Deckbetten. Kupferne Wärmflaschen wärmen ihre kalten Füße. In der Küche blitzen kleine Töpfe auf dem Herd. Die Schwestern erklären Anna, dass ihr großer Bruder das Licht als Weihnachtsgeschenk in das Puppenhaus gelegt hat. Anna erkundigt sich, ob es auch geht, nur eine Lampe einzuschalten. Das geht nicht. Aber vielleicht baut ihnen der Bruder zum nächsten Weihnachten etwas, damit man in jedem Zimmer das Licht extra ein- und ausknipsen kann. Anna hat auch ein Puppenhaus, mit dem sie gern spielt. Jetzt weiß sie, was sie sich wünscht: Einmal sollen auch in ihrem Puppenhaus die Lampen brennen. Dann kann sie noch lange nach Weihnachten so tun, als wäre das Fest eben vergangen, genau wie die beiden großen Mädchen.

      Anna bekommt von der Mutter einen weißen Muff umgehängt. Sie kann die bloßen Hände hineinstecken, und drinnen begegnen sie sich und sagen sich guten Tag. Das dicke Baby steht in seinem Kinderbett und guckt mit seinen blauen Kulleraugen. Es kapiert gar nicht, dass Anna wegfahren soll. Anna kann sich kaum von dem dicken Baby trennen. Nicht einmal der weiße Muff tröstet sie. Die Erwachsenen reden und tun mit Anna. Sie merkt, dass sie sich über ein fröhliches Gesicht freuen würden.

      Sie fahren die ganze Nacht über. Anna sitzt neben der Verlobten, der junge Bruder Borchert gegenüber in der Ecke. Dass sie Anna an der Grenze als ihr Kind angeben werden, weiß Anna nicht. Sie weiß auch nicht, dass sie eine noch viel längere Fahrt als Anna vorhaben, eine Reise nach Übersee zu einer Missionsstation. Eine Deckenlampe verbreitet ein düster-gelbliches Licht. Anna schläft manchmal. Wenn sie aufwacht, ist immer noch alles genauso. Vielleicht reisen sie schon mehrere Nächte. Manchmal spricht die Verlobte mit Anna, manchmal auch Bruder Borchert. An der Zonengrenze wird Anna geweckt. Die Leute reden laut miteinander. Sie freuen sich und sagen, nun seien sie im Westen. Jemand gibt Anna Schokolade. Sie steckt die Schokolade in ihren weißen Muff und freut sich nun auch, dass sie im Westen sind. Jemand sagt, jetzt kriegst du eine Banane. Alle lachen, weil Anna nicht weiß, was eine Banane ist. Man zeigt ihr eine gebogene gelbe Frucht und schält eine Spitze heraus. Anna soll kosten. Die Banane schmeckt widerlich süß und breiig. Die Leute lachen wieder und sagen: Na, du kriegst noch Geschmack daran. Man stopft ihr noch mehrere Bananen in den Muff. Die Leute denken wirklich, Anna würde sie noch essen. Dann schlafen alle wieder ein. Auch Anna. Sie hört dabei das Geräusch, das die Räder machen, wenn sie an die Schienen stoßen. Tata-tata-tata-tata. Wie Musik ohne Töne. Sie streichelt das Fell vom weißen Muffhasen. Nachher kann man schon Bahnhöfe und Städte vom freien Feld draußen unterscheiden. Vor allem sieht Anna viele Strommasten. Bruder Borchert nimmt Anna mit auf den Gang und sagt ihr die Namen von Bahnhöfen. Es ist nur ein Spiel. Denn wie kann Anna so viele Namen behalten. Anna rechnet es Bruder Borchert hoch an, dass er sich mit ihr beschäftigt. Er ist ein ernsthafter Mann, vor dem Anna großen Respekt hat. Einmal geht die Verlobte mit Anna auf die Toilette. Das Geruckel ist vielleicht komisch. Man fällt beinahe um.

      Auf einem Bahnhof steigen sie aus. Bruder Borchert und seine Verlobte bringen Anna in eine Villa zu Verwandten. Sie verabschieden sich von Anna. Nun ist sie ganz allein. Sie fragt einen dicken kleinen Jungen, der ihr Vetter ist, ob er vielleicht die Bananen haben will. Er isst gleich alle auf.

      Wieder ist Anna unterwegs, steht auf Bahnhöfen. Sie hat keine Angst. Wenn die Frau, die auf sie aufpasst, auch nicht mehr da wäre, irgendwelche Leute geben ihr schon zu essen und nehmen sie zum Schlafen mit. Dann laufen auch überall Schwestern von der Bahnhofsmission herum. Die Mutter hat gesagt, sie soll zu den Schwestern gehen, die helfen immer. Anna hat sich auf Abenteuer eingerichtet. Sie möchte gar nicht mehr so gern ankommen.

      Anna sieht die Villa an einer Bergwiese. Da soll sie nun wohnen. Das ist das Kinderheim.

      Nun lebt Anna im Kinderheim.

      Anna trägt ein Püppchen vor sich her. Sie umgreift es mit beiden Händen und schaut es immerzu an. Sie selbst weiß später nichts mehr davon, man erzählt es ihr. Das Püppchen hat sie aus Gottshut mitgebracht. Es ist das einzige bekannte Gesicht. Sie muss sich in der fremden Welt zurechtfinden. Deshalb sieht sie es wohl so oft an und hält Zwiesprache mit ihm. So kann sie sich selbst nicht verloren gehen.

      In der Nacht schlafen die Kinder, und sie träumen und nässen ein, auch die größeren Mädchen. Anna vergisst, dass die Tante das Laken unter ihr wegzieht, und schläft gleich weiter.

      In der Nacht geht die Tante in die Waschküche und wäscht das Bettzeug der Kinder, damit es schnell wieder trocknet, denn viel besitzt sie nicht. Die Laken hat sie von schmalen Stoffballen genommen und zusammengenäht. Die Stoffballen stammen von einem Verwandten aus Amerika.

      Frühmorgens streiten sich die älteren Mädchen, wer Anna die Haare kämmen darf, sie sind ganz verliebt in Annas Haare. Deswegen ist Anna auch in ihre Haare verliebt. Sie hält ganz still, wenn die Mädchen sie kämmen. Die Sonne scheint durch die Fenster. Im Schlafraum und überall in der Villa ist es sehr hell. Zu Hause in Gottshut war es im Wohnzimmer und im Schlafzimmer dunkel. Aber hier wandert die Sonne den ganzen Tag durch die Villa. Anna weiß nicht, ob sie das mag.

      Zum Frühstück sind alle Mädchen da. Sie streuen Zucker auf das Brot, aber nicht zu dick. Das letzte ist das Butterränftle. Die Butter wird auch nur dünn gestrichen, aber sie hält gut den Zucker.

      Auf einmal sind alle Mädchen weg. Niemand sagt Anna, dass sie zur Schule gehen. Manchmal fährt auch noch die Tante nach Rosenstetten hinunter, und der einzige kleine Junge steckt sonst wo. Dann ist niemand mehr in der Villa. Nur Anna.

      Anna hat sich ein Spiel ausgedacht für wenn sie allein ist. Es ist ein unheimliches Spiel. Sie reißt Papier in kleine Schnipsel und häuft sie zu einem Berg. Auf ein Schnipsel malt sie den Teufel. Schon beim Malen bekommt sie eine Gänsehaut. Sie mischt den Teufel unter die anderen Schnipsel und wartet eine Weile, bis sie genug Mut hat. Dann breitet sie die Schnipsel wieder auseinander. Sie entdeckt den Teufel und kann sich nicht mehr rühren. Schließlich steht sie auf, das Gesicht immer zum Teufel hin, damit er sie nicht hinterrücks überfallen kann. Sie geht zur Tür und wartet, was sich aus dem Erscheinen des Teufels ergeben wird. Er lauert auf dem Tisch und kann jeden Augenblick aus seinem Schnipsel herausspringen. Eine Weile später rennt Anna schnell zum Tisch zurück und versteckt das Schnipsel unter die anderen. Wenn das Teufelsbild zugedeckt ist, kann nichts mehr passieren.

      Anna versucht den Teufel immer wieder.


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