Nest im Kopf. Beate Morgenstern
Читать онлайн книгу.es eine Besonderheit mit ihm hat. Darüber vergisst sie beinahe ihren Auftrag. Tante Ines setzt sich neben Anna und erklärt ihr, was sie sich ausgedacht hat. Anna soll zwölf Kärtchen malen, für jeden Monat eins. Und immer, was sie sich zu dem Monat vorstellt. Dann sieht die Mutter einen ganzen Monat auf das kleine Bild von Anna, bis der nächste Monat kommt und sie das Blättchen umwendet. Der Januar ist ein kalter Monat. Was wird Anna malen? Einen Schneemann mit Rute. Wenn ein Kärtchen fertig ist, nimmt Tante Ines Annas Hand und schreibt ihr den Monat darunter und erzählt, was im nächsten Monat los ist. Anna zeichnet lauter Vogelmenschen. Sie haben lange Möhrennasen, vielleicht einen Strich als Mund oder überhaupt keinen Mund.
Seitdem Anna an Tante Ines' Sekretär sitzen durfte, ist sie ganz von der Tante eingenommen. Die Tante setzt das Datum, als endlich das Eis zwischen Anna und ihr bricht, etwa zur gleichen Zeit an. Doch bei ihrer Erzählung spielt eine Schokolade eine Rolle, die sie Anna bei einem Einkauf schenkte. Von da an ging es gut mit dir, wird sie sagen. Wahrscheinlich haben dir deine Eltern versprochen, dass du zu einer Tante in den Westen kommst und die dir Schokolade schenkt. Und dann war ich nicht so eine Tante und hab in deinen Augen auch das Versprechen mit der Schokolade nicht gehalten. Ritter Sport Schokolade wird Anna sofort denken und sich erinnern, wie sie eingepackt war, wie sie schmeckte und dass vier Kinderhände, die von Anna und Fritzchen, sich vergeblich mühten, sie kaputt zu kriegen.
Sonst ruft Tante Ines Anna nur in ihre Stube, wenn sie einen Brief an die Mutter unterschreiben soll. Die Tante führt Annas Hand. Was im Brief steht, weiß Anna 'nicht. Von den Briefen der Mutter behält sie, dass sie Geduld haben soll.
Einmal soll Anna ihren rechten nackten Fuß auf ein Blatt Papier stellen. Die Tante malt um ihren Fuß herum und schneidet das Papier aus. So weiß die Mutter, welche Schuhgröße Anna braucht. Es tut Anna sehr leid, dass die Mutter ihr neue Schuhe kaufen muss. Annas Familie ist doch arm. Und Anna mag nicht, wenn für sie Pakete aus dem armen Osten in den reichen Westen kommen, wo es Ritter Sport Schokolade, Mandarinen und alles mögliche gibt. Aber sie ist nun mal ein Halb-und-halb-Kind. Schuhe, Kleider und Eltern hat sie im Osten, Essen, Wohnen und Schlafen im Westen.
Vor dem Weihnachtsfest wird Anna zur Schwester von Tante Ines nach Stuttgart gebracht. Heiligabend schlachtet der Onkel eine Kokosnuss. Etwas Weißes, Hartes ist darin, es soll das Fleisch sein. Anna kaut auf dem angeblichen Fleisch herum. Vielleicht sollte es ein Kokosnussfest werden. Aber die Kokosnuss ist ausgetrocknet und hat keine Milch mehr. Nun sind alle enttäuscht und haben Langeweile. Anna sieht auf den schönen Weihnachtsbaum und wartet auf ihre Freude. Sie weiß noch, in Gottshut haben sich alle am Heiligabend sehr gefreut. Warum bloß? Wegen der Geschenke? Anna hat schon viel vergessen, seitdem sie von Gottshut weg ist.
In Rosenstetten ist der Winter gekommen. Tiefe Gänge müssen geschaufelt werden, damit die Leute zueinanderkommen. Nun ist alles ganz still geworden draußen. Der Schnee liegt wie Watte auf den Ohren. Er ist auch leicht wie Watte. Und doch ist es mühevoll, die Gänge zu graben. Wenn Anna durch die schmalen Gänge geht und die Schneemauern weit über sie hinwegreichen, wünscht sie sich nichts mehr. Sie hat auch keine Angst mehr. Sie läuft nur und läuft und wird irgendwann einen einzigen Menschen treffen. Den wird sie grüßen, und der wird sie grüßen. Manchmal denkt sie beim Laufen durch die Schneemauern an das dicke Baby in Gottshut. Niemand kann so viele Gänge schaufeln bis dahin. Anna macht es glücklich, dass nun alle Menschen vom Schnee eingeschlossen sind in ihren Häusern und Dörfern und nur noch zum nächsten Nachbarn gehen.
Anna lernt fliegen. Es gelingt ihr schlecht. Sie hebt sich vom Boden ab. Schon fällt sie wieder herunter. Wenn sie in die Ebene kommt, jagt sie das Unsichtbare immer noch und treibt sie vor sich her. Deshalb will Anna über die Dächer und Gehöfte in der Ebene fliegen, weil das Unsichtbare mit seinen schweren Füßen auf der Erde trampeln muss und nicht hinauf kann. Aber es ist, als ob die Erde Hände bekäme und mit ihnen nach Anna griffe. Oder der Boden unter Annas Füßen wird zäh wie warmer Teer und klebt an ihren Fußsohlen fest, sodass sie gar nicht erst in die Luft kommt. Doch sie muss fliegen, sonst ist sie verloren. Denn ihre Beine sind vom Teer so schwer, dass sie nicht mehr laufen können. Anna rudert mit den Armen. Auch in der Luft hindern Anna die Beine, weil sie schwer herunterhängen.
Manchmal ist sie schon mit Leichtigkeit über das Gebirge geflogen und brauchte die Arme kaum zu bewegen. Sie segelte einfach so dahin. Die Luft trug sie. Doch mit einem Mal hörte sie das Unsichtbare, die Ebene öffnete sich vor ihr, und sie begann zu sinken, ihre Angst zog sie herunter auf die Erde.
So lustig hat Anna die Mädchen noch nie gesehen. Sie haben sich bemalt, toben durch das Haus und ziehen Anna mit. Eigentlich weiß Anna nicht, warum das geschieht und was das für ein Fest ist, das Fasenacht heißt. Auch zu essen gibt es reichlich. Es steht alles auf einem Tisch. Man kann sich nehmen, soviel man will. Ein schwarzes, süßes Brot heißt Pumpernickel. Davon isst Anna am meisten.
In der Nacht wacht Anna plötzlich auf, weil der Teufel ihr das Essen aus dem Magen herauszieht. Er will Anna inwendig aushöhlen. Erst holt er nur das Essen heraus, dann den Magen, dann kommt alles andere aus Annas Mund heraus, bis nur noch Annas Hülle übrig bleibt. Die wird dann zusammenfallen wie ein leerer Ballon, und Anna ist tot. Anna schreit. Die Mädchen haben Licht angemacht und rufen Tante Ines. Die sieht, was Anna schon aus sich herausgebracht hat, und macht sich trotzdem keine Sorgen. Anna wird nicht sterben. Nur verträgt ihr Magen nicht den schwarzen Pumpernickel. So einfach ist das. Und sie hat an den Teufel geglaubt.
Zu Mittag taut der Schnee. Am Nachmittag friert er schon wieder. Und davon wachsen Eiszapfen von den Dächern. Manche reichen bis zur Erde hinunter und sind dick wie Baumstämme. In der Sonne glänzen sie feucht. Neben ihnen tropft es. Neue Zäpfchen wachsen, ein ganzer Eiszapfenvorhang. Die Kinder schlagen gegen die Eiszapfen, die kleineren klirren und fallen in den Schnee, von den größeren bricht nur ein Stück ab. Man müsste schon die Axt nehmen, um sie ganz herunterzuhauen.
Der Schnee ist weg. Anna hat nur noch Bauchschmerzen und schlechte Laune. Die Tante redet noch mehr als sonst davon, dass die Mutter Anna abholen wird. Sie sagt, glaub nur, ganz bestimmt kommt sie bald. Bald, bald. Immer bald. Das gemeine Fritzchen sagt: Glaub nur nicht. Die kommt nicht. Die besucht dich nicht mal. Die wäre schon längst gekommen, wenn sie gewollt hätte. Und schön ist deine Mutter auch nicht. Das erzählst du nur. Deswegen ist Anna wütend auf Fritzchen, denn das weiß sie ja nun ganz gewiss: Ihre Mutter ist schön. Anna denkt, seine Gemeinheit steckt sie an. Sie kann sich selber schon nicht mehr leiden deswegen. Wie sie ihre Gemeinheit merkt? Sie kann sich nicht mehr freuen. Über gar nichts mehr. Sie hat Bauchschmerzen und will nur noch eins, dass das bald, bald zu Ende ist. Sie hat schon vergessen, wie sie sich früher mal ihre Heimkehr nach Gottshut ausgemalt hat. Damals wollte sie an einem Sonnensonntag unter Schall des Posaunenchors in Gottshut einziehen. Die Leute würden aus den Fenstern schauen und sich wundern und freuen, dass Anna wieder da wäre. Und alle Kinder würden in ihren Sonntagskleidern auf die Straße kommen und Anna begrüßen. Solche Gedanken hat Anna schon lange nicht mehr.
Nun soll Annas Mutter wirklich kommen. Das gemeine Fritzchen ärgert sich. Anna freut sich über seine Wut.
Anna weiß selbst nicht, warum sie sich im Haus versteckt und die Mutter lieber noch nicht sehen will und kein bisschen neugierig ist. Tante Ines muss sie erst suchen und sie bei der Hand nehmen und nach draußen bringen, wo viele Verwandte sind. Eine Frau mit einem spitzen, nackten Gesicht und langen, gekrausten Haaren ist Annas Mutter. Sie läuft auf Anna zu und ruft sie. Anna mag nicht weitergehen. Ja, das ist schon ihre Mutter. Aber wie hässlich sie geworden ist. Sie hat ein spitzes Mausgesicht.
Du hast gelogen, sagt Fritzchen. Deine Mutter ist hässlich. Hässlich, ganz hässlich.
Wie sich Fritzchen freut, weil er nun scheinbar doch recht behalten hat.
Ja, jetzt ist sie hässlich, sagt Anna. Aber früher war sie schön. Das glaubt ihr das gemeine Fritzchen natürlich nicht. Jetzt steht sie vor dem Lügner selbst wie eine Lügnerin da. Und das kränkt Anna sehr. Sie nimmt es der Mutter übel, dass ausgerechnet sie Anna zum Schluss doch noch dem Anschein nach zu einer gemeinen Lügnerin gemacht hat.
Die Mutter sagt zu Anna: Jetzt haben sie mich endlich über die Grenze gelassen. Weißt du warum? Ich habe ihnen einfach gesagt, wenn ich meine Tochter jetzt