Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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von Belgerns bei ihrer Flucht aus dem Baltikum mitgebracht hatten, führte das Regiment. Tante Leonie nannte sie nie anders als den Zerberus. Anna hatte den Zerberus kennengelernt und war gut mit ihm ausgekommen bei späteren Besuchen. Doch was wusste sie schon von stiller Tyrannei. Ohnehin waren die von Belgerns von sehr sanfter Natur und verführten dazu, über sie zu regieren. Doch hatten sie trotz ihrer Arglosigkeit Würde. Es war nicht von Belang, dass Bruder von Belgern, statt wie seine Vorfahren eigene Ländereien zu verwalten, eine untergeordnete Arbeit im Davidshof verrichtete, dass die Familie nur noch als Mieter in dem Haus wohnte, das einmal 'ihr Besitz war, dass sie nun auch den Garten abgegeben hatten.

      Anna hatte die Eltern von Belgern nie anders als heiter gesehen. Er: selbstvergessen, als sei er ständig mit erfreulichen Gedanken beschäftigt, und die Anstrengung, die hinter dieser Gelassenheit steckte, ahnte wohl niemand. Sie: lebhaft wie viele Gottshuterinnen. Beide von zierlicher Statur, sodass das elefantenhafte Wachstum der Töchter um so mehr erstaunte. Sie waren aus einer alten Familie. Doch als sie Anna einmal ihren Stammbaum zeigten, da schien ihr, sie taten es nur, um auf den Schnittpunkt hinzuweisen, wo sich seine und ihre Linie trafen. Ihre Verwandtschaft sollte, so verstand Anna, den Beweis für ihr tiefes Füreinander-bestimmt-sein liefern.

      Auf sie trifft das Wort Demut zu, dachte Anna. Demut? Wie mir die alten Begriffe noch geläufig sind. Es tut nichts, dass ich nicht an Gott glaube, ich lebe noch mit Begriffen, Werten aus der Welt, aus der ich gekommen bin. Meine ewige Inkonsequenz. Ich kann keine Brücken abbrechen. Wenn sie hinter mir von selbst morsch werden, zusammenfallen, ist es was anderes.

      Sie sind bescheiden, korrigierte sich Anna. Hintergrundpersonen. Sie machen nichts von sich her, obwohl sie es könnten. Sie sind durch Natur und Erziehung als Gottshuter begabt, wie die Gründer sie einmal wollten: jeder des anderen Bruder, des anderen Schwester, jeder versieht Dienst in der Gemeinschaft nach seinen Gaben, seinen Fähigkeiten entsprechend. Sie wären imstande, mit aller Hingabe Arbeiter im Weinberg des Herrn zu sein, sogar dem Rigorismus der Bruder- und Schwesternschaft gewachsen, der jemanden wie mich abschreckt.

      Anna glaubte, dass Bruder von Belgern aus dem Haus käme. Der Blick seiner hellen Augen wie durch einen Schleier. Er war so leicht, dass Anna ihn kaum spürte. Unnatürlich schmal, auf ein ebenmäßiges Profil zugearbeitet das Gesicht. Die Haltung kontrolliert wie die eines Militärs. Es schien, er sei in all den Jahren um keinen Tag älter geworden. Seine Familie hatte ihn vielleicht anders im Gedächtnis. Es gab ihn nicht mehr, den stillen Baron.

      Anna ging durch eine Gasse am Grundstück entlang hinab ins Tal.

      3

      In der Nacht stand Anna in einem großen, sehr dunklen Zimmer. Schwere Vorhänge hingen seitlich zusammengebunden über den Fenstern. Draußen war es finsterer noch als drinnen. Nur vom Kopfende eines riesigen, auf einem hölzernen Podest befindlichen Himmelbetts kam schwaches Licht. Anna ahnte, sie war im Sterbezimmer der alten Dame Buddenbrook. Aber in dem Bett würde wohl Tante Leonie liegen. Langsam ging sie auf das Podest zu. Der Lichtschein wurde stärker. Schon sah Anna das zerwühlte Lager.

      Nein, nicht du! schrie Anna. Du nicht.

      O doch, mein Kind, sagte die Mutter ruhig. Wusstest du es nicht? Ich habe diese Krankheit.

      Tante Leonie hat diese Krankheit, schrie Anna und krallte sich an der Bettdecke fest.

      Die Mutter rührte sich nicht. Ihr Gesicht war abwesend. Ihr schien es nichts zu bedeuten, nicht mit Anna geredet zu haben, nicht das Wichtige erfahren zu haben, das Anna ihr sagen musste. Im Glauben an die Unsterblichkeit der Mutter hatte Anna es versäumt, der Mutter das Wichtige zu sagen. Nun würde die Mutter ohne dieses Wissen von ihr gehen. Für sie hatte dieses Geständnis ohnehin keinen Wert mehr. Doch ungesagt würde es auf Anna zurückfallen und eine Last sein, die mit den Jahren so schwer würde, dass sie daran zugrunde ginge.

      Anna wälzte sich in ihrem Bett und wachte auf. Es ist noch nicht zu spät, wiederholte sie mehrere Male und zwang sich, nicht aufzustehen und die Mutter in ihrem Schlaf zu stören. Sie könnte am Morgen mit der Mutter reden. Gewiss würde sie das tun.

      Ich habe schon an deiner Tür gehorcht, sagte die Mutter.

      Anna strich sich über die Stirn. Bin wohl noch mal eingeschlafen.

      Du siehst schon viel frischer aus. Die Mutter nickte befriedigt.

      Die viele Luft, sagte Anna. Nun hast du wohl schon gefrühstückt?

      Nur ein Schnittchen. So spät ist es ja nun auch wieder nicht. Übrigens hab ich ihn heute Morgen gefunden. Mit klarem Verstand geht's eben doch besser.

      Den Lebenslauf? Siehst du, ich wusste, er muss da sein.

      Ich wusste es ja auch.

      Und wo ist er?

      Hier. Griffbereit! Die Mutter nahm ein großes Heft aus dem Regal und hielt es, den kleinen Sieg über ihre Unordnung auskostend, triumphierend vor das Gesicht.

      Anna schaute kurz in das Heft. Die Großmutter hatte den Lebenslauf noch in gotischer Schrift abgefasst. Ach schade, sagte sie. Kann ich nicht gut lesen.

      Es gibt noch Schreibmaschinendurchschläge. Aber wo unsrer abgeblieben ist ...

      Eigentlich könntest du mir vorlesen. Dann haben wir beide was davon.

      Aber jetzt nicht. Ich hab keine Zeit.

      Am Abend natürlich. Früher hast du uns auch vorgelesen, fällt mir ein.

      Hattest du das vergessen? Ich hab euch viel vorgelesen.

      Besser war Großmutter, dachte Anna. Deshalb hab ich's vergessen. Und Mutter hat uns nur die in vielen Pfarrhäusern gängige Unterhaltungsliteratur vorgelesen. Damit gab sich Großmutter nicht ab. Vorlesen konnte Großmutter. Das war ihre Leidenschaft. Sie hat uns Kindern vorgelesen, ihren Enkeln drüben, später anderen Kindern. Damit konnte sie sich nützlich machen, was sie so brauchte. Wie dramatisch sie die Auftritte von Personen der dörflichen Welt Fritz Reuters gestaltete. Weder sie noch wir waren des Plattdeutschen mächtig. Aber das machte überhaupt nichts. Wenn sie von Onkel Bräsig sprach, krächzte sie wie eine Krähe. Was für eine Krankheit die Podagra war, die Onkel Bräsig quälte, wir verlangten keine Aufklärung. Es genügte uns zu wissen, wie stark ihn die Schmerzen plagten. Großmutter las uns Dickens vor und selbstverständlich Onkel Toms Hütte.

      Noch vom Schlaf benommen, versuchte sich Anna zu erinnern, wie die Stimme der Großmutter beim Vorlesen geklungen hatte. Anders als sonst: metallen, näselnd oder etwas schnarrend und tief wie ein sehr altes Volksinstrument.

      Mutter hat eine helle Stimme, dachte Anna. Ich glaube, sie war recht stolz auf ihren Sopran.

      Während des Frühstücks im Garten schwand Annas Benommenheit, und sie überlegte, weshalb sie in der Nacht eine so panische Angst gehabt hatte, die Mutter könne sterben. Worin das Wichtige bestand, das sie der Mutter zu sagen hatte, war ihr schon klar: sie mochte die Mutter, sie hing an ihr, hatte sich immer nach ihrer Zuneigung gesehnt und als Kind darunter gelitten, dass sie anders war, als die Mutter es wollte, ihre täglichen Beschuldigungen, Anna denke nur an sich, zu ernst genommen, sich von ihr zurückgesetzt, ja ungeliebt gefühlt. Dass der Vater Anna bevorzugte, hatte sie nicht trösten können. Sie hatte Groll gegen die Mutter empfunden, auch als Erwachsene. Doch da war dieser Groll eigentlich schon unwesentlich geworden. Denn als sich Anna im Alter von nicht ganz vierzehn Jahren tatsächlich tief in Schuld glaubte, war es die Mutter gewesen, die sie annahm, während der Vater Anna von sich stieß. Da hatte die Mutter für alle Zeit bestanden. Ein Wort, eine Geste der Mutter, und Anna war ihr nach einer Kränkung wieder gut. Vielleicht sind die weniger geliebten Kinder die dankbareren, dachte Anna. Sie haben immer einen Mangel wettzumachen.

      Wenn mal was sein sollte, begann Anna ihre Ansprache an die Mutter. Ich meine, könnte ja mal was sein. Ganz plötzlich. Man weiß ja nie. Also, ich wüsste schon gern Bescheid. Nicht, dass ihr denkt, ich hätte so viel zu tun, und ihr wollt mich nicht belästigen … An mir soll's nicht liegen. Ich komme auch mal schnell runter.

      Was soll denn


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