Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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Gott von anderen wenig, von sich selbst aber alles verlangten.

      Zwischen den Bäumen der Alleen sah Anna einzelne ältere Gottshuter, die sich bald im Spiel zwischen Licht und Schatten der Bäume verloren. Hier waren die Toten lebendiger als die Lebenden. Die Toten flüchteten nicht. Sie warteten geduldig darauf, dass man ihre Namen läse. Wo Witterung und Pflanzenwuchs die Namen ausgelöscht hatten, waren sie als Namenlose anwesend und redeten mit in dem vielstimmigen Chor, der das Zwiegespräch mit den Irdischen forderte, die diesen Ort aufsuchten.

      Am Ende des Gottesackers, mitten auf einer der Alleen, lagen auf Steinsockeln sieben Grabplatten. Ursprünglich hatten sie sich auf ebener Erde befunden, waren aber bei einer Erweiterung des Gottesackers auf den Weg geraten und auf Steinsockel gelegt worden. Der Graf, weltlicher Schutzherr und Mitbegründer des Gottshuter Bruderbundes, sein Jugendfreund, mit dem er schon während seines Hallenser Aufenthaltes im Pädagogium des Pietisten August Hermann Francke einen besonderen Bund zur Bekehrung der Heiden geschlossen hatte, und Mitglieder beider Familien waren hier in außerordentlicher, dennoch für damalige Zeiten bescheidener Weise beigesetzt. Jedem der Gräber war eine Inschrift beigegeben. Auf dem des Grafen las Anna: Er war gesetzt, Frucht zu bringen, und eine Frucht, die da bleibet. Zu seiner Linken ruhte seine erste Frau Erdmuthe Mechthild. Eine Fürstin Gottes unter uns, besagte die Inschrift. Zur rechten Seite des Grafen seine zweite Frau Anna, eine Bürgerliche, die ihren Ehemann nur um zwölf Tage überlebte. Ihr Dienst im Haus des Herrn bleibt ein Segen, wurde über sie gesagt. Anna gefiel, dass sie nach ihr und nicht nach der Fürstin Gottes benannt war. Über Generationen hin hatten sich die Vornamen der beiden Frauen im Bruderbund behauptet. Immer noch erhielten Neugeborene diese Namen, die Anna schon so alt schienen wie die Berge um Gottshut.

      Anna warf noch einen letzten Blick auf die Ovale der Inschriften und das sie umgebende Blattwerk. Von dem Jugendfreund des Grafen bezeugten die Brüder: Er half die Gemeinde von Anfang an bauen, sah sie blühen und grünen, freute sich und legte sich schlafen mit Lob und Dank. Sollte dieser Mann, seines liebsten Bruders treues Herz, wie er sich in einem Brief an seinen Freund bezeichnete, ruhig schlafen. Das weitere Schicksal des Bruderbundes brauchte ihn nicht zu bekümmern. Auch Anna bekümmerte es nicht. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit, endete ein Lied, das sie in ihrer Kindheit oft gesungen hatte. Auf diesem befriedeten Stück Land konnte sie sogar diese Liebe wünschen und Hoffnung schöpfen, dass es den Menschen gelang, Frieden mit sich selbst und der Erde zu schließen. In diesem Augenblick leugnete sie nicht, dass der Gottesglauben ihr in der Kindheit nicht nur Angst vor dem Tod, vor ewiger Strafe eingeflößt hatte, sondern auch Zuversicht in die Zukunft mitgegeben hatte.

      Langsam lief sie die Sandwege hinunter zum Ausgang. Der Eingangsspruch am Torbogen hatte mit Auferstehung und ewigem Leben getröstet. Der Weg über den Acker Gottes bereitete die Menschen auf das vor, was der Wahrheit wohl näherkam: ER IST DER ERSTLING GEWORDEN UNTER DENEN DIE DA SCHLAFEN. Mit diesem Spruch auf dem Inneren des Torbogens entließ der Park der Seligen die Besucher in die Welt.

      Anna sitzt in Gottshut hinter dem Haus auf der Steintreppe.

      Die dunklen rohen Hölzer der Galerie sind von der Sonne warm und duften. Anna streckt die Beine aus. Noch eine Weile, dann werden die Steinstufen so heiß sein, dass sie sich ihre Fußsohlen verbrennt. Sie überlegt, zum wievielten Mal schon, warum sich die Steinstufen so erhitzen, aber sie selbst, die in derselben Sonne sitzt, niemals einen so heißen Körper bekommt. Sie sieht zum Bahndamm hinüber, und die Sonne macht ihren Kopf leer. Da ist nichts mehr drin außer dem Duft des Holzes und dem Himmel. Dann erinnert sie sich an die Großmutter oben in der Wohnküche. Sonst ist niemand da. Als sie an die Großmutter denkt, kommt ihr eine dunkelblaue Glasschüssel in den Sinn, mit dicker, weißlich blauer Milch darin. Molkenrinnsale. Eine Zuckerschicht über der sauren Milch sinkt langsam ein. Jeden Tag macht die Großmutter ihre saure Milch und teilt sie abends aus der blauen Glasschüssel aus. Das Glas ist so herrlich dunkelblau. Darüber vergisst Anna beinahe, dass das Weiße dicke Milch ist. Sie schaut durch das blaue Glas und denkt an Winter im Missions-Eskimo-Land. Jetzt hilft der Gedanke an eine blaue Schüssel mit saurer Milch nicht mehr. Es wird zu heiß in der Sonne. Sie fasst an die eiserne Haltestange. Einmal möchte sie erleben, dass die sich so erhitzt wie eine Ofentür. Sie springt die Stufen hinunter und geht unter die Galerie, die Annas Haus mit dem Nachbarhaus verbindet. Dort im Schatten kann sie spielen und weiter warmes Holz riechen, weil auch die Galerie aus Holz gemacht ist. In der Erde sind kleine Kuhlen vom Murmelspiel. Sie hockt sich nieder, holt ihr Säckchen Murmeln aus der Tasche und lässt eine nach der anderen in die Kuhle laufen. Glasmurmeln sind dabei und auch eine schönste. Jedes Kind hat Glasmurmeln und eine schönste. Abends kommen die Mädchen aus dem Kindergarten, und sie werden zusammenspielen. Die Friseurtochter, deren Freundin und Anna. Dann ist der ganze Hof voller Kinder. Mit ihren eigenen Schwestern, die auch aus dem Kindergarten kommen, hat Anna lieber wenig zu tun. Sie ist froh, wenn sie verschwinden kann, während die Schwestern, die Mutter und die Großmutter durch die Wohnung wirbeln. Am Anfang haben auch die Hofkinder Anna geärgert und sie wegen ihrer Sprache aufgezogen. Anna sagte immer gelt, gelt. Die Hofkinder lachten und sagten: Geld, Geld, dafür kannst du dir was kaufen. Sie kannten nicht das Schwabenland.

      Zu Mittag ruft die Großmutter aus dem Küchenfenster: Anna, Anna. Das ist nicht das Annaha-Gerufe von der dicken Frau aus Rosenstetten, das schöne Gesinge. Dafür ist aber die Großmutter Annas eigene Großmutter, und da kann das Rufen wie böse klingen. Es ist ja nicht böse gemeint. Anders als so streng bringt die Großmutter kein Rufen zustande.

      In der Wohnküche riecht es komisch. Süß und als wäre man zu schnell gelaufen und schmecke Blut im Mund. Das ist Stadtgas, hat die Großmutter erklärt.

      Anna wäscht sich die Hände und deckt den Tisch: Flache-Teller-und-Gabeln heißt das Kommando der Großmutter. Die Großmutter gießt dünnen Eierkuchenteig in die Pfanne. Dabei tütert sie. Sie tütert immer, wenn sie aufgeregt ist. Sie stößt mit der Zunge gegen die Zähne und macht in einem fort: Th-th-th-th. Th-th-th-th. Man bekommt selbst Angst, dass der Großmutter ein Fehler passiert, die Eierkuchen zu schwarz werden oder beim Umdrehen zerreißen.

      Außer dem Tütern hat Annas Großmutter noch andere Gewohnheiten. Die Eltern lachen ein bisschen, aber das nimmt die Großmutter nicht übel. Beispielsweise macht die Großmutter in ihrer Kammer früh am Morgen Gymnastik am offenen Fenster. Wahrscheinlich in ihrer Hemdhose, die hinten einen Schlitz hat fürs Klo. Großmutters Hemdhosen hängen immer neben den kleinen Hemdhosen der Kinder auf der Leine. Dann trägt sie auch Leibchen wie kleine Mädchen um die Brust herum. Die Großmutter isst auch Heilerde innerlich. Richtige Erde, gesiebt und gereinigt. Die isst sie morgens, mittags, abends. Außerdem trinkt sie Molke die Menge, isst Quark und viel Schnittlauch. Alles ist sehr gesund und Reform. Vor allem aber ist die Großmutter leicht aufgeregt zu machen. Wenn sie am Tisch mit den Eltern redet, fegt sie Krümel vom Wachstuch, obwohl da schon längst keine mehr liegen. Manchmal scharrt sie sogar mit den Füßen auf dem Boden. Sie regt sich beim Reden, beim Arbeiten, sogar beim Singen und Beten so auf, dass man schon selber aufgeregt wird. Was besonders gut ist an Großmutter: Sie hat gar nicht gemerkt, dass Anna eine Zeit lang von zu Hause fort war, und behandelt sie genauso wie früher. Die anderen haben sich verändert. Bei Mechthild geht's noch. Am meisten hat Anna enttäuscht, dass das dicke Baby nun Erdmuthe ist. Wenn sie schon das dicke Baby war, müsste sie doch wissen, wie lieb Anna sie damals gehabt hat. Jetzt aber will sie gar nichts mehr von ihr wissen. Die Großmutter kommt mit der Pfanne an, schüttet den Eierkuchen auf Annas Teller und stellt das Gas kleiner, das beim Brennen fast wie Wasser rauscht. Sie beten: Komm Herr Jesus, sei unser Gast. Das ist das Gebet für alle Tage. Der Herr Jesus kennt es schon. Er kommt schnell, er labt sich an dem Duft des Eierkuchens, den er Anna beschert hat, mehr braucht er nicht.

      Die Eltern machen mit Anna und den Schwestern einen Kretzschmar-Ausflug. Der Vater bringt süßes, dunkles Malzbier aus der Kretzschmarschenke. Er stellt die schweren Gläser auf den Klapptisch im Gartenlokal. Die Beine ruhen sich aus, und der Mund schluckt das süße, teure Malzbier. Er schluckt so viele Schlucke, bis der Magen ganz voll davon ist. Keiner sagt: Aufhören! Zuviel! Die Eltern sind sehr gut zu den Kindern.

      Am liebsten lässt sich Anna in die Molkerei schicken. Nirgends ist es sauberer


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