Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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die Glasscheiben. Es riecht frisch und säuerlich. Die weiße Magermilch und die etwas gelblichere Vollmilch wird aus silbernen Blechkannen mit silbernen Messkellen geschöpft. In großen Schüsseln liegt locker der Quark. Er wird von zwei Frauen in weißen Gummischürzen in kleine Behälter geschaufelt, die ihnen die Leute geben und auf der großen Waage abgemessen. Hinter der Glasscheibe, die zwischen den Leuten und den Verkäuferinnen ist, sind auf der Marmorplatte Butter und Käse aufgebaut. Nie wird es Anna langweilig beim Warten in der Molkerei. Sie schnuppert und guckt.

      Schon ein paar Mal ist Anna auf der Straße angesprochen worden. Bist du eine kleine Herrlich? fragen die älteren Schwestern. Anna schwillt vor Stolz und sagt: Ja. Die Schwestern nicken zufrieden und sagen: Das sieht man. Anna ahnt nicht, woran man das sehen kann. Aber sie findet es sehr gut, dass man sie erkennt und nun nicht mehr zwei, sondern drei kleine Herrlichs durch die Gegend laufen und jeder Anna den Namen Herrlich an der Nasenspitze ansieht. Dadurch ist sie nämlich eine richtige Gottshuterin. Erst wissen es die Erwachsenen und nachher auch alle Kinder.

      Die Mutter sagt, die Kinder werden schön lachen, wenn du in die Schule kommst und noch wie ein Baby am Daumen lutschst. Das musst du dir schon abgewöhnen. Sie klebt Anna Heftpflaster um ihren Lieblingsdaumen, damit er 'nicht so gut schmeckt und Anna keine Lust zum Nuckeln hat. Immer, wenn sie sich das Pflaster abreißen will, stellt sie sich vor, dass sie bald in die Schule kommt. Da soll niemand über sie lachen. Anna arbeitet schwer mit sich. So eine schwere Aufgabe hat sie noch nie gehabt. Tatsächlich schafft sie es in zwei Wochen, den Daumen nicht mehr in den Mund zu stecken außer ausnahmsweise mal im Bett.

      Die Mutter sagt, das Schütteln abends im Bett ist auch sehr albern. Wie sieht denn das aus. Anna versucht, den Kopf vor dem Einschlafen stillzuhalten. Vielleicht eine halbe Stunde. Sie probiert es mehrere Tage. So schnell gibt sie nicht auf. Aber wenn sie den Kopf stillhält, kann sie nicht einschlafen. Da ist ihr das Einschlafen schließlich doch lieber. Und wer sieht sie schon. Gerade die Schwestern und der liebe Gott. Schade, sie hätte sich gern bewiesen, dass sie ganz und gar über ihren Körper bestimmen kann und alles mit ihm schafft, was sie ernstlich will. Nun ist sie doch keine so große Bestimmerin, wie sie nach dem Abgewöhnen des Daumenlutschens glaubte. Anna bekommt eine erste unklare Vorstellung von dem Begriff sich bezwingen, sich beherrschen, Herr über sich sein.

      Abends schläft Anna zweimal ein. Einmal mit den Schwestern im Schlafzimmer. Einmal in der Nacht im Wohnzimmer auf dem Klappbett. Der Vater nimmt sie aus dem Ehebett und trägt sie, so groß, wie sie ist, rüber ins Wohnzimmer, wenn die Erwachsenen ins Bett gehen wollen. Manchmal wacht Anna gar nicht richtig auf. Sie legt ihre Arme um den Hals des Vaters und träumt von den Erwachsenen und dem Licht im Wohnzimmer. Der Traum endet mit einer Enttäuschung. Der Vater nimmt Annas Hände von seinem Hals und legt sie im kalten, harten Klappbett ab. Da friert sie und ist böse.

      An ihren vierten Geburtstag kann sich Anna erinnern, weil sie da ihre ersten beiden Bücher geschenkt bekam. Grimms Märchen. Die Eltern sagten ihr ein paar Mal: Das sind nun deine ersten beiden Bücher, und sie sollte sich wer weiß wie über ihre ersten beiden Bücher freuen. Aber sie ärgerte sich nur über die sehr kleine, vertrackte Schrift und darüber, dass sie keine Bilder hatten. Sollten die rosa Bändchen verschimmeln. Auch jetzt hatte sie überhaupt keine Lust auf sie. Die Mutter kann zehnmal auf das Bücherbord zeigen. Die kleine Schrift wird sie nie lesen lernen. Sie will es gar nicht. Und auf die Schule freut sie sich auch nicht. Sie will im Herbst hauptsächlich in den Kindergarten. Vormittags geht sie in die Schule, aber nachmittags, denkt Anna, geht sie dann endlich wieder in den Kindergarten.

      An dem Tag, an dem Anna in die Schule kommt, ist der Vater schon wieder abgereist. Die Mutter geht mit Anna über den Kirchplatz. Das Wetter und Anna haben schlechte Laune. Der Himmel ist zu, nur grau, und der Wind bläst den Staub vom Erdboden in die Luft und in die Augen. Das soll nun ein Festtag sein. Nur Sonntage sind Festtage. Und Geburtstag vielleicht. Aber nie ein gewöhnlicher Werktag. In der Schule bekommt Anna eine lila Zuckertüte. Groß ist sie nicht. Andere haben größere. Und später wird sie jede Zuckertüte der Geschwister an dieser Zuckertüte messen und immer wieder finden, dass sie eine sehr, sehr kleine Zuckertüte bekommen hat. Doch jetzt freut sie sich einigermaßen und verliebt sich in den jungen Schulleiter. Auf dem Heimweg kramt sie in der Tüte herum. Unten ist sie mit Zeitungspapier ausgestopft. Was glaubst du denn, sagt die Mutter. Wir konnten doch nicht die ganze Zuckertüte füllen. Das ist klar. Anna war eben mal wieder dumm. Zu Hause erwartet Anna ein ganz anderer Reichtum: Sie hat Post bekommen. Viele Karten von den Familien in Gottshut. Sogar Onkel Renzoni, der gegenüber auf dem Flur wohnt, hat über die Post an sie geschrieben. Zählen kann Anna noch nicht. Doch sie ist überzeugt, dass jede Familie aus dem Bruderbund ihr geschrieben hat. Alle Leute denken heute an sie. So eine wichtige Person ist sie. Lange wird Anna die Karten zusammen mit den Sanella- und Knorr-Bildern aufheben. Dann gibt es auch ein Festessen, das die Großmutter gekocht hat, und einen Extragast für Anna: Tante Leonie Fendel. So beliebt hat sich Anna noch nie gefühlt wie an ihrem ersten Schultag.

      Am ersten Unterrichtstag wandern Anna und Paulchen nach der Schule in den Kindergarten zur Tante mit den Silberfäden in den Haaren. Was wollt ihr denn hier? sagt die Tante und tut ganz fremd. Anna und Paulchen erklären ihr, dass sie am Nachmittag noch Zeit haben für den Kindergarten. Nein, nein, was ihr euch denkt, sagt die Tante. Jetzt geht ihr in die Schule. Der Kindergarten ist nicht mehr für euch. Sie hat ganz schwarze Augen, keine Sonnenstrahlen mehr darin. Die sind für Schulkinder auch abgeschafft. Anna begreift nicht, warum die Tante so böse ist.

      In der Schule quält sich Anna. Sie fühlt sich in dem dunklen Unterrichtsraum zwischen zu vielen und fremden Kindern eingesperrt. Eine Dreiviertelstunde hintereinander sitzen alle still und hören auf ein Kommando. Annas Griffel brechen durch, weil sie zu fest auf die Schiefertafel aufdrückt. Die umgekehrten Zuckertüten, die ein A sein sollen, werden zu Himpelchen- und Pimpelchen-Zwergenmützen. Immer hatte Anna eine gute Meinung über ihren Kopf gehabt. Nun sind die Kinder des Bruderbundes besser als sie. Sogar die Friseurtochter.

      Zu Hause plagt sich Anna weiter auf der Schiefertafel. Die Großmutter teilt Kopfnüsse aus und wischt die Tafel ab. Nachher sieht sie von dem vielen Griffelstaub ganz verschmiert aus, und die Buchstaben und Zahlen sind immer noch Krakel. Die Großmutter könnte sagen: Deine drei Onkel waren auch schlechte Schüler, und später haben sie studiert. Und ich habe deinen drei Onkeln und deiner Mutter auch Kopfnüsse gegeben, weil sie die Schiefertafel verschmierten. Aber sie sagt es nicht. Sie denkt, Trost verweichlicht, und Härte bildet den Charakter.

      Wenn Anna mit Paulchen zusammen ist, vergisst sie die Schule. Jeden Nachmittag treffen sie sich. Sie sind unzertrennlich wie in ihrer Kindergartenzeit. Bei Sonnenschein stromern sie mit den anderen beiden Freunden aus dem Kindergarten durch Gottshut. Regnet es, bleiben sie beide in Paulchens Wohnung. Tagsüber hat Paulchen die Wohnung ganz für sich allein, weil Schwester Weinreich in der Erwerbshilfe arbeitet. Schwester Weinreich. Tante Fendel und Annas Mutter sind Freundinnen von der Erwerbshilfe. Am liebsten zeichnet Paulchen mit seinen Wachsbuntstiften. Er zeichnet immer Dampfer. Erst das Schiff mit seinen Deckaufbauten, dann den großen Schornstein, von dem Strippen abgehen. An die Strippen werden bunte Fähnchen gehängt. Die Kajüten bekommen Fenster. Der Teil, der ins Meer hineingeht, runde Kreise. Bullaugen. Das Meer glänzt von dem vielen blauen Wachs. Selbstverständlich fahren die Schiffe nur bei Sonnenschein. Anna denkt an ihren Vater, der früher Matrose war. Woran Paulchen denkt, weiß sie nicht. Sie reden hauptsächlich über technische Einzelheiten und Verbesserungen an ihren Schiffen.

      Die Erwerbshilfefrauen machen auf geschmückten Leiterwagen einen Herbstausflug. Sie sind sehr vergnügt. Anna, Mechthild und Erdmuthe sehen am Straßenrand zu, wie die Frauen in die Wagen einsteigen. Die Frauen singen: Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus, Städele hinaus. Anna sieht das Städele. Rosenstetten. Fachwerkhäuser, enge Straßen. Über das Kopfsteinpflaster rumpeln Fuhrwerke. Spitzige Schatten laufen von der Sonnenseite der Straße die Wände der gegenüberliegenden Fachwerkhäuser hinauf. Anna versteht nicht, warum die Frauen so gern aus dem Städele hinaus wollen. Sie kann Abschied nicht mehr aushalten.

      Der Bruderbund hat sich Gedanken über die Kinder der Erwerbshilfe-Mütter gemacht. Die frühere Lehrerin, Schwester Leonie Fendel, erhält die Erlaubnis, nachmittags im Haslinger-Saal


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