Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr

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Demenz in der Lebensmitte - Hanns Sedlmayr


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Priester.

      Fides findet im Verhalten meines Vaters nur die Dienstmädchen-Geschichte abstoßend. Seine Ehrlichkeit hinsichtlich seiner Freundinnen und seine Bereitschaft meiner Mutter das gleiche Recht auf eine Affäre einzuräumen, findet sie in Ordnung. Nicht in Ordnung findet sie das Verhalten meiner Mutter. Über meine Mutter sagt sie: „Deine Mutter trägt die Schuld, dass die Liebe in der Ehe Deiner Eltern dauerhaft verloren ging. Sie hat nicht um die Liebe Deines Vaters gekämpft. Sie hat ihn nicht geliebt, sie bestrafte ihn, weil er ihren Besitzansprüchen nicht entsprach.“

      Ich sehe das anders. Mein Vater hatte meine Mutter durch seine Untreue so sehr verletzt, dass sie den Glauben an seine Liebe verlor. Gerade ihre tiefe Liebe zu ihm war die Ursache, dass sie so sehr verletzt war. Sie wollte keine Affäre mit einem anderen Mann, sie wollte seine Liebe. Ihre Liebe verwandelte sich aus Enttäuschung in Kälte.

      „Genau diese Kälte trieb Deinen Vater in immer neue Affären“, kontert Fides. Sie ist aufgebracht und hat rote Backen, als sie das sagt.

      Ich verteidige, ebenfalls aufgeregt, meine Mutter als große Liebende und bezichtige meinen Vater der Leichtlebigkeit.

      Fides tritt weiter für meinen Vater ein.

      „In der wahren Liebe geht es nicht um Besitz, sondern um Zuwendung und Ehrlichkeit. Dein Vater empfand so, als er Deine Mutter aufforderte, sich auch einen Liebhaber zu nehmen. Deine Mutter verstand das nicht. Sie wollte Deinen Vater besitzen. Seine Gefühle waren ihr gleichgültig.“

      Wir waren jetzt beide wütend und starrten uns über den Café-Tisch hinweg böse an.

      Für mich war immer klar, dass mein Vater mit seinen ständigen Frauengeschichten Schuld hatte, dass die Ehe meiner Eltern so kalt und lieblos geworden war.

      Ich erinnere mich an eine Szene aus meiner Kindheit.

      Meine Mutter überhäufte beim Essen meinen Vater mit Vorwürfen. Mein Vater hörte ruhig zu und aß weiter. Dieses Verhalten provozierte meine Mutter. Sie sprang auf, schlug die Tür zum Esszimmer zu und rannte in die Küche. Mein Vater aß ruhig zu Ende. Er sprach kein Wort zu uns Kindern. Wir waren vor Angst erstarrt. Er stand auf und ging zu meiner Mutter in die Küche. Zwischen Küche und Esszimmer ist eine Durchreiche. Sie stand offen. Wir konnten die Worte unseres Vaters deutlich verstehen.

      „Führ Dich nie mehr vor den Kindern so auf!“ Nach diesen Worten verließ mein Vater das Haus. Meine Mutter schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein und wir hörten sie schluchzen. Zuerst war es ein wütendes Schluchzen, dann ging es in ein Wimmern über. Ich erzähle Fides diese Szene.

      „Vielleicht ist Deine Mutter nur eine ungebildete Frau“, sagte sie mit einem bösen Glitzern in ihren Augen. Ich bin nahe daran, den Café-Tisch umzuwerfen. Statt das zu tun, springe ich auf und renne aus dem Café. Auf der Straße setze ich mich an den Rand des Gehsteigs zur Straße zwischen zwei Autos. Nach einiger Zeit kommt Fides, sie hat bezahlt. Sie hält mir ihre Hand hin. Ich nehme sie nicht, stehe aber auf und gehe mit ihr. Noch einmal reicht sie mir ihre Hand. Diesmal nehme ich sie. Wir sprechen nicht mehr über meine Eltern.

      Auch die Ehe der Eltern von Fides ist kalt und lieblos. Kurz nach Kriegsende eröffnet die Mutter eine Praxis für Allgemeinmedizin in der Sendlinger Straße in München. Sie hat zu diesem Zeitpunkt zwei Kleinkinder und einen studierenden Mann.

      Sie ist die dominierende Person in der Familie. Sie regiert die Familie mit harter Hand. Sie ist ehrgeizig und gefühllos. Mann und Töchter müssen so funktionieren, wie sie es sich vorstellt. Bei Abweichung reagiert sie kalt und gnadenlos. Als ich den Vater kennenlerne, ist er durch jahrelange Unterdrückung seiner Gefühle mürrisch und verschlossen geworden. Mitunter bricht aber sein Jähzorn durch und richtet sich dann auch gegen seine Töchter.

      Von Liebe ist zwischen Pélagia und Theo nichts zu spüren. Die Ehe ihrer Eltern ist für sie ein Schreckgespenst. Nach ihrer Vorstellung ist die Liebe bei der Mutter bald in Besitzdenken umgeschlagen. Sie hat nicht das Bedürfnis, geliebt zu werden. Sie will ihre Herrschsucht ausleben. Sie machte ihren Mann, unter Ausnutzung ihrer Schläue und Skrupellosigkeit und seiner Naivität, zu einem Vasallen, der zu gehorchen hat. Alles natürlich unter dem Anspruch, das Beste für die Familie zu wollen. Sie macht für die lieblose Ehe ihrer Eltern allein ihre Mutter verantwortlich. Sie lehnt ihre Mutter ab und leidet mit ihrem Vater. Als Kind kämpfte sie um die Zuneigung des spröden Theo. Ohne Erfolg. Theo kann seine Gefühle nicht zeigen. Bei Tisch hatte Theo immer eine Rute in einer Tischspalte liegen. Wenn eines der Kinder nicht ordentlich aß, schlug er dem Kind mit der Rute auf die Hand. Er schlug an Tagen, an denen er schlecht gelaunt war, auch fest zu. Meine Großmutter mütterlicherseits war ein Beispiel für eine große und lebenslange Liebe. Sie war 21 Jahre alt, als sie von meinem 17-jährigen Großvater geschwängert wurde. Fides ließ aber diese Liebe nicht gelten, weil es eine einseitige Liebe war. Mein Großvater war ein Frauenheld und betrog die Großmutter, auch noch im fortgeschrittenen Alter. Das bekam ich sogar als sein Enkel noch mit. Er fuhr regelmäßig von unserer Kleinstadt ins Inntal nach Brannenburg. Dort baute er als Alterssitz ein Geschäftshaus. Auf diese Fahrten nahm er mich öfter mit. Unterwegs hielten wir immer bei einer Käserei. Dort gab es ein Käsefräulein. Ich bekam von ihr ein Stück Käse und wurde dann losgeschickt, mich im Dorf umzusehen. Dass die beiden ein Liebespaar waren, verstand ich erst viel später. Als meine andere Großmutter, die Mutter meines Vaters, heiratete, kam sie in die wohlhabende Familie eines Pferdehändlers. Mein Urgroßvater hatte für den Krieg gegen Frankreich 70/71 Pferde für die bayrische Armee geliefert und war dadurch reich geworden. In der Währungsreform verlor mein Großvater, bis auf einen kleinen Rest, das Familienvermögen. Meine Großmutter bestrafte ihn dafür für den Rest seines Lebens. Einige Jahre hatte er eine Liebesbeziehung zur Tochter seines Geschäftspartners. Als Großmutter das herausfand, ging sie zu seinem Geschäftspartner und berichtete ihm von der Beziehung. Großvater beendete daraufhin seine Affäre. Als er wegen einer Krebserkrankung Selbstmord beging, sagt sie: „Jetzt hat er mir das auch noch angetan.“ Auch in der Literatur finden sich keine Fundstellen für eine lebenslange Liebe. Anders ist es mit der vergänglichen Liebe. Dafür gibt es großartige Beispiele. Wir sind beide sehr berührt von den Romanen von Erich Maria Remarque. Den Roman „Arc de Triomphe“, lesen wir uns gegenseitig vor, auf Parkbänken oder in der Friedrich-Herschel-Straße. In dem Roman rettet der staatenlose Arzt Ravic die verzweifelte Joan, in einer kalten Nacht, vor dem Sprung in die Seine. Im Folgenden verliebt sich Ravic, der von einem Mord der Gestapo an seiner Frau, bei dem er zuschauen musste, traumatisiert ist, in die labile Joan. Als Ravic ausgewiesen wird und nach zwei Monaten zurückkommt, lebt Joan mit einem anderen Mann zusammen. Eines Nachts besucht sie ihn. Er ist abweisend, aber sie verführt ihn. Sie geht noch in der gleichen Nacht, ohne sich zu erklären und lässt Ravic im Ungewissen. Später ruft sie an und lädt Ravic in ihre Wohnung ein. Sie empfängt ihn stolz. Es ist offensichtlich, dass sie mit einem Mann zusammenlebt. Sie erzählt, dass ihr Freund öfter verreisen müsse, und bittet darum, dass Ravic versteht, dass sie möchte, dass er an diesen Tagen zu ihr kommt. Es kommt zu folgendem Dialog zwischen den beiden: Ravic: „Alles was ich verstehe, ist, dass Du mit zwei Männern schlafen willst.“ Joan: „Es ist nicht so. Aber selbst, wenn es so wäre, was geht es Dich an?“ Und noch einmal Joan, nachdem Ravic sie angestarrt hat: „Was geht es Dich wirklich an? Ich liebe Dich. Ist das nicht genug?“ Dieser Dialog wühlt uns beide auf. Wir identifizieren uns mit den unterschiedlichen Protagonisten. Es entsteht eine Spannung zwischen uns, die so heftig ist, dass wir nur sehr langsam weiterlesen können und immer wieder unterbrechen müssen, weil wir zu bewegt sind, um weiterzulesen. Die Polygamie von Joan führt in dem Roman in die Katastrophe. Ein eifersüchtiger Liebhaber - er ist nicht eifersüchtig auf Ravic, denn Joan hatte noch einen weiteren Liebhaber - verletzt Joan so schwer, dass Ravic seine Liebe nur mehr zeigen kann, indem er ihr hilft zu sterben. Mich berührt die Verzweiflung und die Reue, in die Ravic fällt, als Joan stirbt. Joan bat Ravic, kurz vor ihrem Tod, um Schutz vor ihrem eifersüchtigen Liebhaber. Ravic verweigert ihr diesen Schutz, als er herausfindet, dass es noch einen weiteren Liebhaber gibt. Die Gewalt, die überall auf der Welt, von Männern gegen Frauen, aus Eifersucht und Besitzdenken ausgeübt wird und in manchen Ländern sogar durch Gesetz und Religion ausdrücklich erlaubt wird, erfüllt Fides mit Zorn gegen uns Männer. Sie findet es unter diesen Umständen schwer verständlich, dass Frauen immer noch


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