Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr

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Demenz in der Lebensmitte - Hanns Sedlmayr


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dass es an mir liegt, dass sie keine Lust empfinden kann und dass ein männlicherer, erfahrenerer Mann, ihr Lust schenken könnte. Die Vorstellung, dass sie bei einem anderen Mann die Lust findet, die ich ihr nicht geben kann, quält mich in vielen Nächten.

      Dass in manchen Ländern die Frauen ganz oder teilweise verschleiert werden, kann ich verstehen. Es nimmt den Männern dort die Angst, ihre Frauen zu verlieren oder sie mit anderen Männern teilen zu müssen. Diese Angst muss unter Männern sehr verbreitet sein. Es ist ihnen gelungen, die Religionen zu benutzen, um sich von ihrer Angst zu befreien. Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und die Erziehung der Frauen zur Scham findet in nahezu allen Religionen statt. Sie ist in den muslimisch geprägten Religionen am krassesten, in den christlichen Religionen etwas weniger augenfällig, aber deshalb nicht weniger barbarisch. Allen Religionen gemeinsam ist, dass sie von Männern erfunden wurden und dazu benutzt werden, Männern die Angst vor der weiblichen Sexualität zunehmen.

      Verstörend ist die Praxis in afrikanischen Ländern die weiblichen Genitalien zu verstümmeln, damit die Frauen keine Lust mehr empfinden können. Eine verstümmelte Frau findet leichter einen Ehemann.

      In der Theorie bin ich natürlich für die freie Liebe. Feste Zweierbeziehungen gelten als zerstörerisch für die wahre Liebe. In Bezug auf meine Freundin habe ich aber das dumpfe „Frau gehört mir Gefühl“. Ich bin sicher, nie eine andere Frau lieben zu können. Ihr Verlust würde mein Leben zerstören.

      Fides ist überzeugt, dass nur eine offene Beziehung, in der es beiden Partnern erlaubt ist, auch mit anderen Partnern zu schlafen, zu einer dauerhaften Liebe führt.

      Ich fürchte, wenn sie mit einem anderen Mann schläft, gibt es nichts, was ich ihr nicht antun könnte. Vielleicht nicht im wirklichen Leben, aber ganz sicher in der Fantasie.

      Ich könnte sie demütigen.

      Ich könnte gegen ihren Willen mit ihr schlafen.

      Ich könnte sie schlagen.

      Nur verlassen könnte ich sie nicht.

      Für einen Liebenden existieren tausend Arten, verletzt und gequält zu sein. Je heftiger und ausschließlicher er seine Geliebte liebt, umso schmerzlicher werden seine Leiden sein, und umso mehr kommt die dunkle Seite der Liebe, die Besitzgier und der Drang, seine untreue Geliebte zu bestrafen, zum Vorschein. Hans und ich kommen zu dem Schluss, dass ein Liebender nahe am Abgrund steht.

      Bei unseren Café-Besuchen und Spaziergängen berichte ich Fides über den jeweiligen Stand der Erkenntnisse zum Thema Liebe und Sexualität. Sie belächelt unsere Gespräche und ich schmolle dann, weil sie unsere Gespräche nicht ernst nimmt. Sie zweifelt, dass aus theoretischen Abhandlungen brauchbare Erkenntnisse für das Verstehen der Liebe ableitbar sind. Dass wir Männer uns vor der Liebe fürchten, amüsiert sie. Sie versichert mir, es wäre sinnlos, Angst vor der Liebe zu haben oder nach Verhaltensweisen zu suchen, die die Liebe weniger schmerzhaft machen.

      Sie sagt: „Wir sind der Liebe ausgeliefert. Sie kommt und geht, wie es ihr passt. Wir können sie nicht herbeireden, und wir können sie nicht aufhalten, wenn sie geht. Sie ist unser Schicksal. Sie ist nicht von Dauer, aber sie ist das Beste, was es gibt. Denk an Steiner.“

      Steiner ist der Held in einem Roman von Remarque, mit dem Titel „Liebe deinen Nächsten“, den wir gemeinsam lesen. Er muss vor den Nazis fliehen und seine Frau in Deutschland zurücklassen. Im Exil erfährt er, dass seine Frau im Sterben liegt. Er kehrt nach Deutschland zurück und verbringt die letzten Tage mit seiner Frau. Er wird am Krankenbett seiner Frau von der Gestapo verhaftet und kann sich durch einen Sprung aus dem Fenster im fünften Stock des Krankenhauses vor den Folterungen durch die Gestapo retten.

      Ein Mann verbringt die letzten Tage mit seiner schon vom Tod gezeichneten Frau und nimmt dafür in Kauf, von der Gestapo gefoltert und getötet zu werden. Wir sind sehr gerührt beim Lesen dieser Stelle. Fides las und muss mehrmals unterbrechen und sich die Tränen abwischen.

      Dass Liebe sich in Hass verwandeln kann. Dass Eifersucht bis zum Mord an der Geliebten oder deren Liebhaber führen kann. Dass es Lust machen kann, die Geliebte zu demütigen und zu verletzen. Dass Liebe die Gier auslöst, die Geliebte alleine zu besitzen. Dass es Neid ist, die Geliebte mit Niemandem teilen zu wollen. All das ist abscheulich, dennoch ist die Liebe das Großartigste, was es im menschlichen Leben gibt.

      Unsere Treffen laufen nach einem fast unveränderten Schema ab. Zu Beginn berichte ich, emotional bewegt, von literarischen und philosophischen Erfahrungen, die ich seit unserem letzten Treffen machte. Fides hört eher uninteressiert zu. Mein Elan stirbt ab. Ich beginne zu schmollen. Sie lenkt unser Gespräch auf praktische Dinge, die für das Abitur hilfreich sein könnten. Etwas widerwillig folge ich ihr. An den Abenden schmusen wir zum Abschluss an den leeren Ständen des Viktualienmarkts oder gehen in die Friedrich-Herschel-Straße.

      Es gibt nur ein philosophisches Thema, das ihr ungeteiltes Interesse findet und über das wir immer wieder kontrovers diskutieren: das ist das Scheitern der Liebe.

      Ich bin hinsichtlich der Liebe Optimist, ich glaube daran, dass es die Liebe gibt und dass sie auch von Dauer sein kann. Meine Freundin ist eher skeptisch und hält die Liebe für ein flüchtiges Ding. Sie zitiert gerne einen Ausspruch von La Rochefoucauld: „Mit der Liebe ist es wie mit den Gespenstern. Alle reden davon, aber keiner hat sie je gesehen.“

      Dass sie so skeptisch über die Liebe denkt, macht mir Angst. Die Vorstellung, dass unsere Liebe flüchtig sein könnte, quält mich.

      Es ist jetzt nicht mehr nur ihre Schönheit und ihre Zärtlichkeit, die mich berührt. Es ist auch die Lust, die sie mir im Liebesakt schenkt. Diese Lust umhüllt mich noch Tage lang. Ich lebe dann auf einer rosigen Wolke und finde das Leben herrlich. Sie ist zärtlich in der Liebe, aber sie bleibt immer am Boden. Meine Höhenflüge beobachtet sie wohlwollend, schreibt sie aber meinem Temperament und meiner Unerfahrenheit zu. Manchmal macht sie sich auch lustig über meinen Überschwang an Gefühlen.

      Hinsichtlich der Liebe war eine der Lieblingsthesen meines Vaters ein Zitat von Schopenhauer: „Liebe ist der Lebenswille des zukünftigen Geschlechts.“ Seit Fides mit mir schläft, zweifle ich, dass mein Vater recht hatte. Zu großartig ist das Gefühl, das ich dabei empfinde. Es kann nicht nur zum Zwecke der Fortpflanzung entstanden sein.

      Aus unseren Diskussionen zum Thema Liebe geht sie immer als Sieger hervor. Meine Argumentation steht auf schwachen Beinen. Ich plädiere für die dauerhafte Liebe, weil ich fühle, dass meine Liebe zu ihr von Dauer ist. Sie argumentiert immer mit praktischen Beispielen. Sie fragt: „Wie war das bei Deinen Eltern? War das eine dauerhafte Liebe?“

      Im Fall meiner Eltern muss ich klein beigeben. Das war keine dauerhafte Liebe. Mein Vater war ein gutaussehender, sportlicher Mann. Lange Zeit hatte er eine Freundin, mit der er nahezu jedes Wochenende zum Bergsteigen ins Gebirge fuhr. Die Freundin war Buchhändlerin in der Kleinstadt, in der wir lebten. Ihr Laden und die Kanzlei meines Vaters waren am Marktplatz. Meine Großeltern hatten am selben Marktplatz eine Bäckerei mit einem Café. Meine Großmutter war eine große stattliche Frau. Sie lauerte die eher zierlichen Buchhändlerin auf und ohrfeigte sie. Mein Vater tobte daraufhin und verlangte von meiner Großmutter, dass sie sich entschuldigt. Ich glaube nicht, dass meine Großmutter das getan hat.

      Mein Vater hatte nie versucht, seine Liaison geheim zu halten. Er forderte meine Mutter auf, sich auch einen Liebhaber zu nehmen.

      Mein Vater schlief auch mit unserem Dienstmädchen. Meine Mutter hatte das entdeckt, weil sie in der Unterhose meines Vaters Blutspuren fand und wusste, dass das Dienstmädchen ihre Periode hatte. Der Beischlaf mit dem Dienstmädchen fand im Keller statt. Mein Vater pflegte am Morgen zum Schuheputzen den Keller aufzusuchen.

      Als ich zwölf Jahre alt war, durfte ich an einem Wochenende mit ins Gebirge. Mein Vater nahm auch seine Freundin mit. Es war nicht mehr die Buchhändlerin, die hatte sich von ihm getrennt und war weggezogen, nachdem er sich nicht scheiden lassen wollte. Ganz selbstverständlich musste ich auf der Hütte im Lager schlafen, während mein Vater und seine Freundin ein Doppelzimmer bezogen.

      Meine Mutter rächte sich für seine Seitensprünge, indem sie ihm ihre Liebe dauerhaft entzog.

      Meine Mutter


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