Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr
Читать онлайн книгу.engagierte Verkäuferin bringt uns T-Shirts in der Größe von Fides. Als ich eines für sie auswähle, ist Rodika begeistert von diesem Shirt. Sie bekommt es und ich suche für Fides ein anderes aus.
Zurück auf der Leopoldstraße sage ich: „Wir gehen aber noch lange nicht nach Hause.“ Überraschend kann sie den ganzen Satz nachsprechen, wenn auch ein wenig mit Nuscheln. Ich stelle mich vor ihren Rollstuhl und bitte sie, den Satz noch einmal zu sprechen. Sie tut es, aber jetzt ist es nur noch ein Nuscheln.
Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt angeregt, nicht melancholisch, sondern ein wenig erwartungsvoll und sogar fröhlich.
Wir wandern die Leopoldstraße hinauf bis zum Siegestor und dann in den Englischen Garten zum Chinesischen Turm. Unterwegs besuchen wir noch meinen Freund, den Obsthändler Didi, der seinen Stand direkt an der Uni hat. Er begrüßt Fides mit einem fröhlichen Lachen, sie antwortet mit einem zurückhaltenden, aber dennoch bewegten Lächeln.
Unterwegs kommen wir noch an dem Gebäude des ehemaligen Lehrstuhls für Statistik vorbei. Wir halten an und ich frage sie, ob sie sich an die mündliche Prüfung erinnern kann, in der sie so kläglich versagt, aber dennoch eine passable Note bekam.
Ich schaue in ihr Gesicht. Sie erinnert sich lächelnd und ein bisschen geschmeichelt. Ich glaube, sie erinnert sich, dass sie einmal eine schöne Frau war.
Im Biergarten stellen wir Fides an einem Tisch ab und gehen, um Essen und Getränke zu holen. Als wir zurückkommen ist ihrem Gesicht anzusehen, dass sie jetzt nicht weiß, wo sie sich befindet. Inmitten der Menge hat sie den Kopf angehoben und starrt mit nach innen gewandten Augen ins Leere. Es ist laut im Biergarten, man unterhält sich, die Musik spielt. Sie bemerkt nichts davon.
Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist wie ein Vorhang, der meist zugezogen ist, sich aber unter günstigen Umständen kurzzeitig öffnet und dann ein Gesicht zeigt, in dem sich Empfindungen widerspiegeln.
Am Morgen, wenn ich ihre Wohnung betrete, erhalte ich fast immer ein Lächeln. Meist erwartet sie mich. Die Pflegerin sagte mir, sie würde immer auf das Geräusch warten, wenn ich die Wohnungstür aufsperre und sie wäre an den Wochenenden immer traurig, wenn niemand aufsperrt.
Wenn ich ihr Zimmer betrete, sitzt sie mit der Pflegerin beim Frühstück. Ich begrüße die beiden Damen immer mit dem rumänischen Morgengruß “Buona Dominiaza“. Ich darf immer mit meiner Frau alleine frühstücken, die Pflegerin steht auf und geht, wenn ich komme. Ich beuge mich zu meiner Frau und lege meinen Kopf kurz auf ihren. Wenn ich mich hinsetze, kann ich sehen, dass sie lächelt. Sie schaut mich dabei nicht an. Sie lächelt nur so vor sich hin. Es ist ein zufriedenes Lächeln.
Die Wochenenden verbringe ich im Gebirge oder auf Radtouren, immer öfter auch schreibend.
Nach einem Wochenende freue ich mich immer auf ein Lächeln meiner Frau.
1963 Über die Liebe Teil 1
Mit meinem Freund Hans Schuster, er ist ein paar Jahre älter und studiert Germanistik und Englisch, diskutiere ich nächtelang über das Rätsel Weib. Wir machen nur sehr geringe Fortschritte in der Erkenntnis über dieses Phänomen. Hans hat noch weniger praktische Erfahrung hinsichtlich unseres Untersuchungsgegenstandes als ich, hat aber ein breites literarisches und philosophisches Wissen zu diesem Thema. Neben dem Rätsel Weib diskutieren wir auch über das Rätsel Liebe. Hier eine Auswahl der Zitate die Hans gerne anführt:
Schopenhauer:
„Liebe ist Objektwahl, wobei nicht das Individuum im Vordergrund steht, sondern die Spezies. Also eine übergeordnete, über den individuellen Rahmen hinausgreifende Instanz. Es geht um die Zusammensetzung der neuen Generation.“
Ortega y Gasset:
„Liebe ist eine Form des Strebens, eine Begierde, sie ist eine ewige Unbefriedigtheit, ein Strömen aus Seelenmaterie, ein Fluss, der ohne Unterbrechung wie aus einer Quelle hervorsprudelt, erotisches Gefühl regt sich in uns nur beim Anblick von etwas, was uns als Vollkommenheit gilt. Individualität zu zweit. Liebe ist ihrem eigenen Wesen nach Wahl. Und da sie aus dem Kern der Person, aus der Seelentiefe aufsteigt, sind die Auswahlprinzipien, die über sie entscheiden, zugleich die innersten und geheimsten Wertungen, die unseren individuellen Charakter formen.“
In einem Aufsatz von Keyserling mit dem Titel „Über die Liebe“, den Hans mir zum Lesen gibt, steht:
„Wie wir nichts sehen können, das einem Menschenantlitz im Entferntesten ähnlich ist, ohne auch einen Ausdruck zu sehen, so können wir nicht den Körper begehren, ohne auch das Seelische, von dem er durchtränkt ist, dessen Regungen er in jedem Augenblick ausdrückt, zu begehren.“
Ein Autor, der Hans und mich sehr aufwühlt, ist Jerzy Andrzejewski mit seinem Buch „Die Pforten des Paradieses“. Er schreibt:
„Wenn der andere Mensch nur ein Geheimnis ist, ist es schwer, ihn lieb zu gewinnen, aber wenn nichts Geheimnisvolles in ihm ist, kann man ihn ebenfalls nicht lieben, denn die Liebe ist ein Suchen und Entdecken, sehnsuchtsvolles Streben und Unruhe, Eile und Warten.“
Solche Texte öffnen mir das Verständnis für die Wechselwirkung von Körper und Geist in der Liebe. Ich bin bewegt von der körperlichen Schönheit von Fides. Gleichzeitig bin ich auch berührt von der Skepsis, der Klarheit und Ehrlichkeit ihrer Gefühle. Sie wird nie ihre Gefühle verdrängen oder mich über ihre Gefühle täuschen, sondern immer zu ihren Gefühlen stehen. Und da ist noch etwas. Es wird mir nie gelingen, sie vollständig zu erobern. Sie wird immer ihre Unabhängigkeit wahren.
Weiter schreibt Andrzejewski:
„Du kannst mit mir tun, was du willst, wiederholte ich, was immer du tust, es wird mir lieb sein, und es geschah, und als es schon geschehen war, war ich nicht glücklich, sondern nur von einer mir bisher unbekannten Lust gesättigt und voll Sehnen, sie wieder zu empfinden, aber ich fühlte mich nicht glücklich, denn schon damals verstand ich, dass er mich nicht liebte, sondern nur meinen Körper begehrte. Die Liebe ist nur ein Knäuel unerfüllbarer Wünsche, die Liebe gibt nur Leiden, die dunkle Lust dagegen entsteht und dauert inmitten Verachtung und Hass. Sie ist jener seltsame und einzigartige Zustand von Wunsch und Begehren, von reinem und finsterem Begehren. Die Liebe ist Anruf und Suche, sie ist eroberungssüchtig, aber jegliche Befriedigung ihres Verlangens tötet sie.“
Mir wird schmerzlich bewusst, dass es die eine wahre Liebe nicht gibt. Die Liebe hat tausend Schattierungen und es gibt auch die dunkle Seite: die Lust einen anderen Menschen zu besitzen, ohne ihn zu lieben.
Die Liebe macht Hans und mir Angst, und wir überlegen, ob es einen Weg gibt, der Liebe aus dem Weg zu gehen und nur die Befriedigung bei Frauen zu suchen, die wir nicht lieben. Für Hans scheint das ein gangbarer Weg. Mir scheint eine Lust an einem Körper nicht möglich, ohne die Person, die in dem Körper steckt, zu lieben.
An einer anderen Stelle bei Andrzejewski, sagt ein Mädchen zu einem jungen Hirten: „Wenn Du es einmal mit mir machst, willst Du es jede Nacht haben.“
Bei mir ist genau dieser Zustand eingetreten. Ich sehne mich nach dem Körper von Fides und der Lust, die er mir gibt. Wir besitzen keine gemeinsame Wohnung, wohnen an verschiedenen Orten. Es gibt ein Liebesnest, das ist aber kein sicherer Ort.
Diese Sehnsucht quält mich nicht nur nachts, sondern auch tagsüber, besonders häufig während der Schulstunden. Wenn es mir gelingt, Fides in unser Liebesnest zu lotsen, hält die Befriedigung nur kurz an. Meist ist die Sehnsucht zurück, bevor wir uns trennen müssen.
Dazu kommt, dass ich ihr keine Lust schenken kann. Sie gab meinem Drängen mit mir zu schlafen nach, weil sie wissen wollte, was es mit der körperlichen Lust auf sich hat.
Das Ergebnis muss für sie enttäuschend sein. Sie kann Lust schenken, aber sie kann keine Lust empfangen. Sie schläft mit mir, weil sie meine Liebesqual spürt und mich von dieser Qual befreien will. Sie ist in ihrer lustlosen Hingabe sehr zärtlich. Ich denke, sie genießt es, Lust zu schenken. Das steht aber in keinem Verhältnis zu der Wonne, die ich beim Eindringen in ihren Körper empfinde. Es ist eine Welle, die mich in ein Gefilde schleudert, von dessen Existenz ich