Geschichten vom Dachboden 2. Marc Brasil
Читать онлайн книгу.danach aus.
Die richtige neutrale Einstellung zu den übrigen Staaten wäre für uns Deutschschweizer eigentlich leicht, da hier die Versuchungen zur Parteilichkeit wegfallen. Ja! Wenn wir nur immer auch als Schweizer fühlten und urteilten! Wenn wir nicht mit fremden Köpfen dächten und mit fremden Zungen sprächen! Wenn wir uns nicht unsere Meinung vom Auslande suggerieren ließen! Die tausend und abertausend geistigen Einflüsse, die tagtäglich von Deutschland her gleich einem segensreichen Nilstrom unsere Gauen befruchtend überschwemmen, sind in Kriegszeiten nur filtriert zu genießen. Eine kriegerische Presse ist überhaupt keine erhebende Literatur. Wie Großes auch sonst der patriotische Rausch zeitigen möge, auf das Sprachzentrum wirkt er entschieden ungünstig. Ist es überhaupt unumgänglich nötig, die blutigen Wunden, die ein Krieg schlägt, noch mit Tinte zu vergiften? Jedenfalls hat, wer für sein Vaterland stirbt, die edlere Rolle als wer für sein Vaterland schimpft. Ich sage das nicht im Sinne eines Urteils und meine es durchaus nicht überlegen. Wir würden es ja im Kriegsfall nicht anders machen. Ich sage es bloß als Warnung. Die Feinde des Deutschen Reiches sind nicht zugleich unsere Feinde. Wir dürfen uns daher von dem gleichsprachigen Nachbarn, weil wir seine Zeitungen lesen, nicht seine kriegerischen Schlagworte und Tagesbefehle, seine patriotischen Sophismen, Urteilskunststücke und Begriffsverrenkungen in unser Heft diktieren lassen. Und wir haben die Feinde des Deutschen Reiches, die nicht unsere Feinde sind, nicht nach der Maske zu beurteilen, die ihnen der Hass und der Zorn aufgesetzt, sondern nach ihrem wirklichen Gesicht. Mit andern Worten: Wir sind als Neutrale den übrigen Völkern die nämliche Gerechtigkeit des Urteils schuldig, die wir den Deutschen gewähren, deren Bild wir uns ja auch nicht in der französischen Verzerrung aufnötigen lassen.
Werfen wir doch einmal auf die Feinde des Deutschen Reiches einen flüchtigen Blick aus dem eigenen Gesichtswinkel, ohne Brille.
Gegen die Engländer richten, wie Sie wissen, die Deutschen gegenwärtig einen ganz besondern Hass. Zu diesem ganz besondern Hass haben sie ganz besondere Gründe, die wir nicht haben. Im Gegenteil. Wir sind den Engländern zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Denn mehr als einmal ist uns England in großer Gefahr schützend beigestanden. England ist zwar nicht der einzige, aber der zuverlässigste Freund der Schweiz. Und wenn man mir entgegenhält: „Eitel Egoismus!“, so bitte ich um mehr solcher Egoisten, die uns in der Not beistehen. Da täte verstärkter Geschichtsunterricht gut. Es muss ja nicht immer nur Sempach oder Morgarten sein, der Sonderbundskrieg und der Neuenburgerhandel gehören ebenfalls zur Schweizer Geschichte. Einstweilen erachte ich es für eine der nächsten Aufgaben der Schweizer Presse, mit dem aufgelesenen Gerede von Englands Hinterlist, das unser Volk durchseucht, endlich aufzuräumen. Für Italien im Gegenteil fließt drüben vorderhand lauter Milch und Honig. Falls etwa eines Frühlingstages die Milch plötzlich sauer werden sollte, brauchen wir dann nicht mitzugären. Wir führen mit Italien ein eigenes Konto. Bis dato lautet die Bilanz erfreulich. Von Frankreich haben wir bereits gesprochen. Kann ein westeuropäischer Christenmensch seiner Bildung nicht froh werden, ohne vor Russland einen Kulturschauder zu bekunden? Ich will mich nicht auf meine eigenen Beobachtungen berufen, der ich doch acht Jahre lang in Russland gelebt habe. Ich verweise auf das Zeugnis der Deutschen. Mit denselben Russen, die uns heute so asiatisch geschildert werden, die teuflischen Kosaken inbegriffen, hat ja Preußen nahezu ein Jahrhundert lang in minniglichem Ehebunde geschwelgt. Und wenn das Bündnis morgen wieder erhältlich wäre … Und dann verglichen mit den Türken und Bulgaren, den Kroaten, Slowaken und so weiter!
Von dem Wert und von der Lebensberechtigung kleiner Nationen und Staaten haben wir Schweizer bekanntlich andere Begriffe. Für uns sind die Serben keine „Bande“, sondern ein Volk. Und zwar ein so lebensberechtigtes und achtungswürdiges Volk wie irgendein anderes. Die Serben haben eine ruhmvolle, heroische Vergangenheit. Ihre Volkspoesie ist an Schönheit jeder andern ebenbürtig, ihre Heldenpoesie sogar überbürtig. Denn so herrliche epische Gesänge wie die serbischen hat seit Homers Zeiten keine andere Nation hervorgebracht. Unsere Schweizer Ärzte und Krankenwärter, die aus dem Balkankriege zurückkehrten, haben uns von den Serben im Tone der Sympathie und des Lobes erzählt. Aus solchen Zeugnissen haben wir uns unsere Meinung zu bilden, nicht aus der in Leidenschaft befangenen Kriegspresse.
Belgien geht uns Schweizer an sich nichts, dagegen durch sein Schicksal außerordentlich viel an. Dass Belgien Unrecht widerfahren ist, hat der Täter ursprünglich freimütig zugestanden. Nachträglich, um weißer auszusehen, schwärzte Kain den Abel. Ich halte den Dokumentenfischzug in den Taschen des zuckenden Opfers für einen seelischen Stilfehler. Das Opfer erwürgen war reichlich genug. Es noch verlästern ist zu viel. Ein Schweizer aber, der die Verlästerung der unglücklichen Belgier mitmachte, würde neben einer Schamlosigkeit eine Gedankenlosigkeit begehen. Denn genauso werden auch gegen uns Schuldbeweislein zum Vorschein kriechen, wenn man uns einmal ans Leben will. Zur Kriegsmunition zählt eben leider auch der Geifer.
Was endlich die Mitentrüstung über die düstern Hilfsvölker betrifft: Im Duell allerdings unterscheiden wir fair und unfair. Allein ein Krieg ist nicht eine militärische Mensur, wie etwa höhere Berufsoffiziere geneigt sind zu glauben, sondern ein bitterer Kampf um das Leben einer Nation. Wo es sich aber um Tod und Leben handelt, wird von jedermann jeder Helfer willkommen geheißen, ohne Ansehen der Person und der Haut. Wenn ein Einbrecher Sie mit dem Messer bedroht, so rufen Sie unbedenklich Ihren Haushund zu Hilfe. Und wenn Ihnen der Einbrecher adelig kommen wollte: „Schämen Sie sich nicht, ein unvernünftiges, vierfüßiges Tier gegen einen Mitmenschen zu benützen?“, so würden Sie ihm wahrscheinlich antworten: „Dein Messer hindert mich am Schämen“.
Und jetzt die Hauptsache: unser Verhältnis zur französischen Schweiz. Ich wiederhole: Wir hoffen und erwarten, dass dort zum Frommen der Eintracht und zur Wahrung der Gerechtigkeit und der Neutralität eine ähnliche eidgenössische Kopfklärung geschehe, wie wir sie bei uns anstreben. Eins ist sicher. Wir müssen uns enger zusammenschließen. Dafür müssen wir uns besser verstehen. Um uns aber besser verstehen zu können, müssen wir einander vor allem näher kennenlernen. Wie steht es mit unserer Kenntnis der französischen Schweiz? Und ihrer Literatur und Presse? Die Antwort darauf möge sich jeder selbst geben. Man hat immer von neuem das Heil in dreisprachigen Zeitschriften gesucht. Einverstanden. Nur kommt es nicht bloß darauf an, was geschrieben, sondern auch was gelesen wird. Ich möchte etwas anderes befürworten: unsere deutschschweizerischen Zeitungen sollten, meine ich, ab und zu ihren Lesern ausgewählte Aufsätze aus französisch-schweizerischen Zeitungen in der Übersetzung mitteilen. Sie wären es wohl wert. Der andersartige Gedankeninhalt kann uns etwa zur Ergänzung und Erfrischung dienen. Wir waren gar zu ängstlich vorsichtig, nach der einen Richtung. Ein Aufsatz wie „Le sort de la Belgique“ von Wagnière hätte auch uns angestanden. Der Stil, ich wage es auszusprechen, ist oft geradezu vorbildlich. Ich habe in den letzten Wochen zufällig ein paarmal das „Journal de Genève“ zu Gesicht bekommen, das ich vorher kaum dem Namen nach kannte, alles in allem nicht mehr als sechs Nummern. In diesen sechs Nummern nun traf ich viermal je einen Leitartikel, dessen literarische Eigenschaften mir bewunderndes Staunen abnötigten. Artikel von Wagnière, von Seippel, von Bonnard. Kurz, von Zeit zu Zeit ein Tropflein Welsch in unsere ernste Sachlichkeit könnte nichts schaden.
Zum Schluss eine Verhaltungsregel, die gegenüber sämtlichen fremden Mächten gleichmäßig Anwendung findet: die Bescheidenheit. Mit der Bescheidenheit statten wir den Großmächten den Höflichkeitsdank dafür ab, dass sie uns von ihren blutigen Händeln dispensieren. Mit der Bescheidenheit zollen wir dem todwunden Europa den Tribut, der dem Schmerz gebührt: die Ehrerbietung. Mit der Bescheidenheit endlich entschuldigen wir uns. „Entschuldigung? Wofür?“ Wer jemals an einem Krankenbett gestanden, weiß wofür. Für einen fühlenden Menschen bedarf es der Entschuldigung, dass er sich des Wohlbefindens erfreut, während andere leiden. Vor allem nur ja keine Überlegenheitstöne! Keine Abkanzeleien! Dass wir als Unbeteiligte manches klarer sehen, richtiger beurteilen als die in Kampfleidenschaft Befangenen, versteht sich von selber. Das ist ein Vorteil der Stellung, nicht ein geistiger Vorzug. Ernste Behandlung erschütternder Ereignisse sollte sich eigentlich von selber einstellen, eine leidenschaftlich heftige, wüste Sprache sich von selber verbieten. Es hört sich nicht schön an, wenn irgendein Winkelblättchen aus der Sicherheit unserer Unverletzlichkeit heraus einen europäischen Großstaat im Wirtshausstil anpöbelt, als handelte es sich