Geschichten vom Dachboden 2. Marc Brasil
Читать онлайн книгу.in Luzern, die den Nachlass des Nobelpreisträgers, darunter Fotografien aus verschiedenen Zeitabschnitten, Originalmanuskripte, Briefe, Urkunden und weitere Dokumente aufbewahrt und ausstellt. Leider gab es dort keine Hinweise auf eine Antwort Spittelers auf den mir vorliegenden Brief. Eine Kopie des obigen Briefes habe ich am 11.Februar 2017 der Stiftung zur Verfügung gestellt und diese wurde vom Schweizer Archivar dankend zu den Stiftungsdokumenten hinzugefügt.
Die vielen fruchtbaren Ablagerungen von Mergelboden des Umlandes eignen sich gut für den weit verbreiteten Ackerbau in dieser Gegend. Der leicht gewellte Boden, die sandigen mit Wald bestandenen Höhen und die flachen von Feldern eingenommenen Gebiete laden zum wandern ein. Der Raudnitzer Wald, daran anschließend der Schönberger Forst, der Finckensteiner Wald und viele weitere Forsten bilden einen Komplex von über 25 Tausend Hektar. In den tiefen Stellen des Geländes liegen breite und flache Seen, der größte davon ist der 34 Kilometer lange Geserichsee. Heinrich Schucht genießt mit seiner Frau Wanda die landschaftliche Schönheit, hat aber die Wahl seines Arbeitsplatzes auch davon abhängig gemacht, dass sich an einer kleinen Schule seine weitere Karriere positiv gestalten kann, was sich auch bald bestätigt. So wird er gleich im ersten Jahr zum Oberlehrer befördert und ihm kurz darauf die zweite Oberlehrerstelle am Gymnasium verliehen.
Heinrich Schucht sieht an diesem ersten Schultag des Jahres 1903 aus dem Fenster in den kleinen Schulhof hinunter. Es ist herrliches Wetter und die Schüler spielen während der Pause abwechselnd Cricket, Fußball oder Schleuderball. Das Progymnasium hat sich gut entwickelt. 86 Schüler sind für dieses Schuljahr angemeldet. Oberlehrer Ganske, der Leiter des Königlichen Progymnasiums, hat Heinrich Schucht als Klassenleiter für die Sexta, eine 5.Klasse, vorgesehen. Seine Lehrzeit steigt von wöchentlich 22 auf 26 Unterichtsstunden: In seiner Sexta hält er fünf Stunden Deutsch, acht Stunden Latein und zwei Stunden Erdkunde, in der Quinta, Quarta und der Untertertia, der 6. bis 8.Klasse, ist er noch zusätzlich für vier Stunden Rechnen und sieben Stunden Mathematik eingeteilt. Heinrich Schucht sieht noch einmal in den neuen Lehrplan für das Schuljahr 1903/1904, obwohl er diesen bereits während der Ferien gründlich studiert hat. In Deutsch liegt in diesem Jahr der Schwerpunkt auf Grammatik und Geschichtserzählungen. Zudem müssen den Schülern Deklination und Konjugation, sowie die Lehre vom einfachen Satze und der dafür erforderlichen Zeichensetzung vermittelt werden. Es sollen hierzu Rechtschreibeübungen in wöchentlichen Diktaten durchgeführt werden. Aber auch das Lesen von Gedichten, Fabeln, Erzählungen und vaterländischen Sagen soll einen Schwerpunkt im Deutschunterricht bilden. Darauf freut sich der belesene Heinrich Schucht besonders, liebt er doch das Erklären der Texte und die anschließende Diskussion mit seinen Schülern. Die Lektüre wird für dieses Jahr im Lehrplan vorgegeben: „Barbarossa“ von Rückert, „Die Wacht am Rhein“ von Schneckenburger und „Des Knaben Berglied“ von Uhland sind darunter. In Erdkunde hat Oberlehrer Schucht die Grundbegriffe der allgemeinen Erdkunde zum Verständnis des Globus und von Landkarten zu vermitteln. Dann folgt die Länderkunde, die mit der deutschen Heimat beginnt und dann mit Europa fortgesetzt wird. In Latein ist für dieses Jahr Ostermanns Lateinisches Lese- und Übungsbuch vorgegeben. Die Leseabschnitte sollen im Unterricht unter Anleitung des Lehrers übersetzt und dann zunehmend die Selbstständigkeit der Schüler beim Übersetzen in Anspruch genommen werden. Wöchentlich wird hierfür eine halbstündige Klassenarbeit zum Lesestoff durchgeführt. Insbesondere die alten Sprachen Lateinisch und Griechisch, als auch die modernen Sprachen Englisch und Französisch sind Heinrich Schuchts Leidenschaft. In Latein hat er 1898 zum Doktor der Philosophie promoviert.
30 Schüler zählt seine Sexta heuer, deutlich mehr als die 17 Schüler, die er im letzten Jahr unterrichtete. Die kleine Schule hat sich in diesem Jahr viel vorgenommen. Im Kollegium wurde die Einrichtung eines Schwimmkurses für den Sommer beantragt und duch das Ministerium für den Monat August genehmigt. Heinrich Schuchts Kollege, Zeichenlehrer Köller, soll dann den Schwimmunterricht leiten. An besonders heißen Tagen kann dann statt Turnuntericht auch mit den Schülern gebadet werden und im Winter bietet der nahe See Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen. Weiterhin hat die städtische Behörde in Aussicht gestellt einen Bootssteg am Geserichsee zu errichten, um den Schülern Rudersport zu ermöglichen. Die vielen neu gegründeten Rudervereinen zeigen, dass diese Sportart in den letzten Jahren zunehmend an Beliebtheit gewinnt und die Seenlandschaft der Umgegend von Deutsch-Eylau ist wie geschaffen zum Rudern.
Heinrich Schucht wird das prächtige Wetter in dieser Woche nutzen, um mit seiner Klasse gleich morgen Nachmittag für Turnspiele in die umliegenden Wälder zu gehen. Einmal in der Woche, wenn es das Wetter erlaubt, legen die Klassenleiter großen Wert auf das Spielen im Freien. Die Gräfliche Forstverwaltung hat das Gesuch von Schulleiter Ganske wohlwollend gestattet und lässt unter Aufsicht eines Lehrers den Klassen Zutritt zu den Waldungen und an den Geserichsee.
Heinrich Schucht geht aus dem Konferenzzimmer in die benachbarte Lehrerbibliothek hinüber. Diese konnte durch Eigenmittel und Schenkungen deutlich erweitert werden. Er blättert interessiert in einigen Neuerwerbungen: „Menschenart und Jugendbilder“ von Grube, „Ein griechisches Lesebuch“ von Palleske, „Turnspiele“ von Eitner, „Das Rudern an den höheren Schulen Preußens“ von Schulze und „Die antiken Schlachtfelder“ von Wickenhagen müssen unter anderem noch einsortiert werden. Eine Besonderheit stellt als Neuzugang ein Exemplar von „Deutschlands Seemacht“ dar, die die Schule im Januar des Jahres im Auftrag Seiner Majestät des Kaisers als Prämie für die besonderen schulischen Leistungen eines Schülers erhalten hat. Aber auch die Schülerbibliothek ist auf einen beachtlichen Bestand von fast 300 Büchern angewachsen. Im größten Maße wurde aber die naturwissenschaftliche Sammlung erweitert. Der örtliche Hotelbesitzer Thielemann allein hat einen präparierten Fischreiher, einen Turmfalken, eine Krähe und ein Wiesel übergeben. Weitere Deutsch-Eylauer Bürger und Schülereltern haben einen Seekrebs, eine Seespinne, eine Kreuzotter und viele weitere Tiere gespendet. Die botanische Sammlung, die im Regal steht, stammt vorallem von Heinrich Schucht selbst. Er hat seiner Schule eine große Anzahl von Bildern zur Verfügung gestellt, um für eine Belebung des Unterrichts und die Förderung der Anschauung zu sorgen. Zufrieden kehrt Heinrich zurück ins Konferenzzimmer, um vor Ende der Pause noch ein wenig auszuruhen. Mit den Vorbereitungen für den großen Schulausflug am 27.Mai will Heinrich Schucht gleich morgen Abend beginnen. Er möchte mit seinen Schülern gerne durch den Kiefernwald des Schöneberger Forstes wandern, den Silmsee besuchen und anschließend am Waldschlößchen rasten. An den Ufern des Sees brüten viele verschieden Vogelarten, Kraniche und abertausende von Wildenten sind hier zu Hause. Vielleicht können sie auch einige Hirsche und Rehe an dem stillen Waldsee entdecken. Heinrich freut sich schon auf das Naturerlebnis und während er in Gedanken ist, betritt Schulleiter Ganske das Konferenzzimmer. „Herr Dr. Schucht, ich möchte Sie bitten für dieses Schuljahr die Festrede zum Kaiser-Geburtstag zu halten. Es ist eine Veranstaltung im großen Saal des evangelischen Gemeindehauses geplant. Herr Oberpräsident Delbrück und einige weitere wichtige Herren werden uns besuchen.“ Heinrich Schucht willigt ein und beide Lehrer kehren in ihre Klassenräume zurück, um den Unterricht für die aus der Pause zurückkehrenden Schüler fortzuführen.