Die blaue Barriere. Helmut H. Schulz

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Die blaue Barriere - Helmut H. Schulz


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oft dachte ich aber an etwas Unerledigtes, was in der Schwebe hing, und ich wünschte, diese offene Frage wäre entschieden. Kurz vor dem Auslaufen hatte ich dieses Gefühl der Verlassenheit nicht gehabt. Es wuchs erst mit der Entfernung von der Heimat und der Dauer der Fangzeit.

      Mein Unbehagen hatte also mit der Reise selbst gar nichts zu tun. Der Fang hätte besser sein können, das Wetter freundlicher und die Arbeit leichter, aber das alles war es nicht, was mich quälte, sondern meine ungelösten persönlichen Probleme ...

      Ich sah zu, wie Clemens Gib den Klunker auf seiner roten Wollmütze festnähte. Richtige Knoten machen, spleißen, bekleeden und nähen, gleich ob Tauwerk oder Draht, das können nur noch wir Fischer.

      "Hast du was?" fragte ich, als er mir zu lange schwieg. Er habe den Eindruck, sagte Gib, ich würde jetzt lieber woanders sein als bei ihm. Wenn mir seine Gesellschaft nicht passe, dann könne ich die nächste Reise wieder auf meinem alten Kahn machen. So launisch kenne er mich eigentlich nicht, und er kenne mich doch schon ziemlich lange. Ich antwortete, seine Gesellschaft passe mir schon, und es wäre ja überhaupt nur von einer Reise die Rede gewesen. Er suche bloß wieder Streit.

      "Immerhin bist du verändert, redest mit keinem, bloß mit dem Steward, wie ein Passagier erster Klasse."

      Da erzählte ich ihm von dem Lampionfest bei EM und von den Folgen für mich, von Melitta.

      "Die Geschichte hängt mir wie Blei an den Sohlen."

      "Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen", sagte Clemens Gib. "Wenn sie in Ordnung ist, wird sie auf eine solche Pfeife, auf diesen Schönwetterangler EM nicht hereinfallen. Sie wird froh sein, mit ihren zwei Gören einen Mann wie dich erwischt zu haben, jung, schön, stark und solide."

      Er setzte die Mütze mit dem festgenähten Klunker auf und suchte sich eine andere Näharbeit.

      "Vielleicht wärst du lieber Schneider als Fischer geworden," sagte ich. "So was gibt es. Man nennt das eine heimliche Liebe, sie wird manchmal erst spät entdeckt."

      Clem sagte: "Und für heimliche Liebe bist du der Fachmann, was? Pass lieber auf, deine Uhr tickt!"

      Es kam ein verschlüsselter Spruch durch, den wir erst nach einigen Rückfragen mit dem Fangleiter See enträtseln konnten. Also: Mächtig Fisch auf der Breite von reichlich fünfundsechzig Grad Nord und so um sechzig West, nahe dem Polarkreis.

      "Die wollen ja hoch hinaus", sagte Clem verdrossen, "da liegen wir ja fast vor Baffin Bay."

      Ganz so war es nicht. Clem übertrieb. Aber er musste sich wohl erst in Schwung bringen, um an diesen Funkspök zu glauben.

      Ich ging für einen Augenblick raus und stellte mich mit dem Gesicht zum Fangdeck. In der Aufschleppe hing, wie uns zum Hohn, ein schlapper, leerer Steert mit dem dünnen Stander. Solch ein Steertstander kann an die zwanzig Tonnen Fisch fassen, und das Hieven ist ein Kunststück der besonderen Klasse.

      Ich griff mit zu, als der Bestmann mit ein paar vertörnten Leinen nicht klarkam und erzählte ihm, was anlag. Wir klönten noch ein bisschen, wie es sich ergab ...

      Die abendliche Wintersonne war durchgebrochen. Wie häufig nach einem stürmischen Tag auf der Nordhälfte unseres Planeten hatte sich das Wetter zum Abend hin ausgetobt und bot uns Versöhnung an. Der große Sonnenball stand knapp eine Handbreit über West, in einem gerade noch messbaren Winkel, wie ich mechanisch und nebenher feststellte. Zwischen uns und der Kimm hingen ein paar mächtige Dunst- oder Wolkenbänke, und eine dicke Nebelwalze lag davor. Wie eine breite glänzende Schleppe warf die Abendssonne ihr Licht über die graugelbe, hin und herschwappende See. Um unseren Trawler herum war das Meer noch in leichter Bewegung, eine lange Dünung hob und senkte, wiegte und schaukelte das dümpelnde, ohne Fahrt liegende Schiff. Um die Aufbauten fegte ein eiskalter Nordwest. Bald fror ich trotz der dicken Sachen und trat den Rückzug ins Warme an, um mit Clem den abgebrochenen Disput über Weibertreue fortzusetzen. Als ich das Brückenschott hinter mir zuzog, ging ein Ruck durch das Schiff. Es stellte seinen Bug etwas auf. Wasser begann wie ein Mühlbach zu rauschen und längs der Bordwände zu waschen. Vorn stand jetzt eine schäumende Bugwelle, wie der aufgerissene Rachen eines weißzahnigen Haies. Vierzehn Knoten, falls wir sie hier laufen konnten, sind eine ganze Menge für einen so dicken Verdränger. Was im Schiff dröhnen, tingeln und klirren konnte, das dröhnte, tingelte und klirrte auch. Der Rudergänger ließ keinen Blick mehr vom Kompass, indessen Clemens Gib nervös auf und ab ging. Ziemlich rasch fiel Dämmerung ein, um in die tintenschwarze Nacht des winterlichen Nordens überzugehen. Ganz dunkel wird es ja nie oder nur sehr selten auf See. Geheimnisvoll gleißt und glitzert das Meer aus sich selbst heraus, eine Riesenschüssel, angefüllt mit funkelndem, stummem Leben. Es ist eine spannende Sache, in einer solchen Winternacht voll voraus zu fahren, wenn man dafür einen Sinn besitzt ...

      "Eben nicht", sagte ich nach meinem Eintreten zu Clem, der sich nun mit Zirkel und Kursdreieck auf der Karte zu schaffen machte. "Du kennst sie nicht, die kann jeden Tag fünf Männer haben, wenn sie es nur will. Eine Richterin und ein Fischer. Mal was von Ausstrahlung gehört?"

      "Wovon?" fragte Clem zerstreut. "Woher hast du denn bloß den Blahm?"

      "Von nix eine blasse Ahnung und dann ein B 6!"

      Er lachte und schickte sich an, eine Rede zu halten. Eine Frau könne haben, soviel sie nur wolle, ganz ohne sich anzustrengen, wenn sie unten und oben in Ordnung sei, meinte Clem belehrend. Ob er die hier nun kenne oder nicht, spiele gar keine Rolle. Ganz anders der Mann, der müsse ständig zeigen, was er könne. Derzeit handele es sich um eine wahre Schwemme von Geschiedenen mit Kindern, die täglich bloß nach einem suchten, nicht nach fünfen.

      "Wenn man reifer wird, sieht man diese Dinge mit anderen Augen an," sagte ich, andeutend, dass auf Clems Erfahrungen nicht viel zu geben war.

      "Darauf willst du hinaus", sagte Clem, "auf die paar Jahre Unterschied zwischen uns? Dann frag mich doch nicht, du Klugschieter."

      Wir liefen ein gutes Etmal mit nördlichem Kurs und allem, was wir hatten, zu der neuen Position. Sicherlich lag auf ein paar Dutzend Schiffen oder Flotten trotz aller Geheimniskrämerei derselbe Kurs an. Übrigens war es längst noch nicht ausgemacht, dass der Spruch überhaupt stimmte. Im Fischereikrieg kam ein absichtlich irreführender Funkspruch alle Tage vor. Er leitet einen vielleicht dorthin, wo seit Urzeiten nie ein Fisch hingekommen ist. Solche Sachen zählen zu den gewöhnlichen Finten, und sie sind gerade das, was man noch erzählen kann, wenn man will, dass einem geglaubt wird. Reine Piraterie ist die nächst höhere, auch nicht sehr seltene Stufe bei dieser Regatta um höchste Erträge. Unsere Chiefs auf dem Basisschiff hatten die Sache hoffentlich auf Herz und Nieren geprüft. Mittags gab es taufrischen Kabeljau, zum Nachtisch Apfelkompott. Bei Windstille hatte sich der Himmel grün bezogen, ähnlich wie am Morgen nach dem Lampionfest.

      Aber der andere Morgen damals, im April, war kühl und schön, blendend rein der Himmel, aprilgrün eben. Dieses Grün kam vielleicht durch die Nähe der See, die letzten Endes hier alles bestimmt.

      Wir gingen ein Stück längs eines Anschlussgleises. Das Schottergestein glänzte feucht, und die Gräser waren nass vom Tau wie nach einem Regenguss. Melitta zog ihre Sandaletten aus und steckte sie in die Taschen ihres leichten Mantels. Mit nackten Füßen über nasses Gras zu gehen, das gefalle ihr, erklärte sie.

      Ihre Zehennägel waren rot gelackt, und ich fand es sonderbar, dass jemand seine Fußnägel zuerst beschnitt, danach anstrich, um diese fein gemachten Zehen dem Straßendreck auszusetzen, anstatt sie in einem Futteral aufzubewahren. Aber es war nicht der einzige Widerspruch, mit dem Melitta ganz gut existierte, wie ich bald merken sollte.

      Der Weg endete in einer breiten Straße. Bahnen und Busse fuhren schon. Melitta schlüpfte wieder in ihre Sandaletten, und wir warteten auf unsere Bahn. Sie kam und war vollgestopft mit Leuten, die zur Arbeit mussten. Einen Sitzplatz bekamen wir nicht. Ich hielt mich oben an einer Stange fest. Melitta reichte nicht ganz heran, so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich bei mir anzuklammern. Da standen wir eng bei eng mit einander zugekehrten Gesichtern. Ich hatte ihre blanken Augen zehn Zentimeter vor, besser gesagt, unter mir, aber nur dann, wenn Melitta hochsah und mich anlächelte ... Mir schien es, als


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